Drei Jahre und ein Tag Tradition

Foto: © Janika Rehak

Eine Wandergesellin erzählt

Foto: © Janika Rehak
Anika: Für die Dauer ihrer Wanderschaft hat sie den Nachnamen abgelegt. Foto: © Janika Rehak

Die junge Frau in dem traditionellen Dreiteiler legt das Brett hin, mit dem sie gerade gearbeitet hat und streift sich die Arbeitshandschuhe von den Fingern. Ihr Händedruck ist angenehm fest: „Anika“, stellt sie sich vor. „Und bitte nur mit einem ‚n‘!“ Okay, also Anika mit einem „n“. Und wie weiter? Die Augen der 25jährigen blitzen belustigt: „Einfach nur Anika.“

Natürlich hat Anika einen Nachnamen. Sie hat auch ein Bankkonto, eine Sozialversicherungsnummer und eine Krankenversicherung. Theoretisch jedenfalls. Damit formal alles seine Ordnung hat. In der Praxis hingegen beschränkt sie sich derzeit auf das Wesentliche: Die gelernte Tischlerin ist als Wandergesellin unterwegs. Und da läuft alles ein bisschen anders.

Wandergesellin sein – was genau bedeutet das?

Drei Jahre und einen Tag lang darf Anika sich ihrem Heimatort in Mecklenburg-Vorpommern nicht weiter als bis auf 50 Kilometer nähern, eine Distanz, die als Bannmeile bezeichnet wird. Für Unterkunft und Fortbewegungsmittel darf sie nichts bezahlen. Sie besitzt nur das, was sie am Körper trägt (plus eine zweite Garnitur der traditionellen Kleidung sowie Schlafsack und einige wenige Gegenstände des täglichen Bedarfs). Und auch der Nachname wird für diese Zeit abgelegt.

Regeln, die recht streng anmuten, aber der Tradition entsprechen. Und ein Lebensstil, für den sicher nicht jeder geschaffen ist. Anika hat jedoch bereits während der Ausbildung mit dem Gedanken gespielt, als Wandergesellin auf Reisen zu gehen: „Ich wusste schon lange, dass ich das unbedingt machen will, und bin froh, dass ich es nun endlich geschafft habe!“

Weibliche Wandergesellen sind übrigens immer noch relativ selten: „Weltweit sind derzeit etwa 600 bis 700 Wandergesellen unterwegs. Davon sind etwa zehn Prozent Frauen“, schätzt Anika. „Die Tendenz ist aber steigend.“

Foto: Jan Wittkowski
Ein Wandergeselle kehrt heim. Im Anschluss wird die Flasche Schnaps unter dem Ortsschild wieder ausgegraben. Foto:Jan Wittkowski

Ein letzter Schnaps, und dann übers Ortsschild

Natürlich wird man als Wandergesellin nicht einfach irgendwo in der Wildnis ausgesetzt und sich selbst überlassen. Auch hier gibt es Traditionen, die dem künftigen Reisenden die Sache erleichtern sollen.

Das Ganze beginnt mit einem Abschiedsritual: Gemeinsam mit Freunden und Familie wird eine halbe Flasche Schnaps gelehrt und dann unter dem Ortsschild der Heimatstadt vergraben. Anschließend klettert der Geselle über das Ortsschild, wirft aus luftiger Höhe noch einen letzten Blick auf Zuhause und seine Lieben – und lässt sich dann in die Arme anderer Wandergesellen fallen, die auf der anderen Seite des Schildes schon bereit stehen. Dann geht es los. Und ab jetzt darf sich der Geselle auch nicht mehr umdrehen. „Das ist schon ein bewegender Moment“, so Anika. „Und es muss schnell gehen, damit nicht irgendjemand aus der Familie am Ende noch hinterherläuft.“

Für die ersten Monate der Wanderschaft wird den Neulingen ein erfahrener Geselle zur Seite gestellt. Dieser muss bereits mindestens ein Jahr unterwegs sein und ist in der ersten Zeit auch 24 Stunden am Tag für den Anfänger da.

Übrigens: Der restliche Schnaps wird natürlich beim Heimkommen wieder ausgebuddelt. Nach einer so langen Reise hat man schließlich Durst.

Foto: © Janika Rehak
Anika im Kreise ihrer derzeitigen Kollegen, Foto: © Janika Rehak

Sehnsucht nach der Familie? Schon, aber…

Anika ist der Abschied von ihrem Zuhause relativ leicht gefallen, ihre Familie hatte damit mehr Probleme. Besonders die Mutter hat eine Weile gebraucht, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. „Prinzipiell findet sie die Sache mit der Wanderschaft schon gut. Trotzdem fragte sie sich: Warum ausgerechnet meine Tochter?“, erzählt Anika und lacht. Doch die Bannmeile gilt ja nur für sie und nicht umgekehrt: „Ich darf nicht nach Hause kommen. Aber meine Familie kann mich besuchen.“ Diese Gelegenheitstreffen sind übrigens auch die einzige Möglichkeit, ihren Freund zu sehen. Kommt da manchmal die Sehnsucht durch? „Klar sind Familie und Freunde wichtig“, so Anika, „doch im Moment genieße ich einfach die Wanderschaft!“

Seit einem halben Jahr ist Anika nun unterwegs und verbindet so Reisen und Arbeit. Ihren aktuellen Job hat sie sozusagen im Vorbeigehen abgegriffen: Sie kam an einem Betrieb vorbei, bot ihre Arbeitskraft an und wurde spontan für einige Wochen eingestellt. Auch für den aktuellen Chef Ingo Klettke ist es eine Premiere „Ich habe noch nie einen Wandergesellen im Betrieb gehabt“, so der Geschäftsführer einer Tischlerei in Elsdorf (Niedersachsen). „Aber bisher kann ich mich nicht beschweren.“

Daumen raus und los geht’s!

Die Wanderschaft muss sich übrigens nicht auf Deutschland beschränken: Anika hat noch jede Menge Pläne. Skandinavien, Irland, Spanien, Italien und sogar Australien stehen auf der Liste der Länder, die sie gern noch besuchen würde. Hier kommt allerdings die Tradition erschwerend hinzu: Da Anika für Fortbewegungsmittel kein Geld bezahlen darf, kann sie sich nicht einfach ein Zugticket besorgen und losfahren. Stattdessen hält sie einfach den Daumen raus und reist per Anhalter.

Bis nach Australien wird sie damit allerdings nicht kommen, denn da sind nicht nur tausende Kilometer, sondern auch ein Ozean im Weg. Was also tun? „Manchmal findet ein Wandergeselle einen Job auf einem Schiff: Arbeit gegen Überfahrt“, zählt Anika eine Möglichkeit auf. Doch inzwischen wurden die strengen Bestimmungen etwas gelockert: Für so weite Strecken darf Anika sich ein Flugticket kaufen und genau wie jeder andere Passagier mit Geld bezahlen. „Das hängt damit zusammen, dass es heutzutage viel schwieriger ist, auf einem Schiff anzuheuern, als früher“, erklärt sie.

Gelockerte Regeln hin oder her: Inlandsflüge von Hamburg nach Berlin sind nach wie vor verpönt.

Foto: ipi6r, CC BY-SA 2.0
Wandergesellen in traditioneller Kluft vor einer Kneipe im Hamburger Stadtteil Sankt Pauli, Foto: ipi6r, CC BY-SA 2.0

Drei Jahre Wanderschaft – und danach?

Nach drei Jahren und einem Tag wird die Bannmeile aufgehoben, dann darf man wieder nach Hause und ins richtige Leben zurückkehren. Natürlich darf die Wanderzeit auch verlängert werden, dann gilt die Bannmeile von 50 Kilometer Radius um den Wohnort weiterhin. Unter Wandergesellen gilt die Faustregel: Sich wieder ans normale Leben zu gewöhnen dauert genauso lange, wie man unterwegs war.

Hat Anika schon konkrete Pläne für danach? „Nicht wirklich“, gibt sie zu. Sie lässt die Zukunft ganz gelassen auf sich zukommen: „Ich bin doch gerade erst losgegangen.“


Copyright: Goethe-Institut Prag
Juli 2013

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