Urban legends in Tschechien

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Welche modernen Sagen sind an die Stelle der schönen Märchen und schaurigen Legenden vergangener Zeiten getreten? Welche unglaublichen Geschichten erzählt man sich im modernen Tschechien, einem von Industrialisierung und Urbanisierung geprägten Land, das heute fest zu Europa gehört?

Die Grundeigenschaft der modernen Urban Legends ist ihre Internationalität – die meisten von ihnen erzählt man sich auf der ganzen Welt. Deshalb ist es schwierig, Geschichten zu finden, die typisch für ein bestimmtes Land sind. Dennoch finden sich auch in der Ära der Globalisierung ortsspezifische Großstadtlegenden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Produkte bestimmter nationaler Eigentümlichkeiten, wie sich das noch die Brüder Grimm dachten. Vielmehr ist es der spezifische Genius loci bestimmter Orte oder noch viel eher der Zeitgeist eines bestimmten historischen Abschnitts, der als Impuls zur Entstehung von modernen Sagen dient.

Geheimgänge in der Prager Metro

Zwischen den einzelnen Prager U-Bahnstationen gibt es geheime Tunnels, die der Regierung und den Sicherheitskräften vorbehalten sind. Es handelt sich um ein äußerst ausgeklügeltes System, das auch sehr weit voneinander entfernte Stationen miteinander verbindet.

Das Phänomen der Geheimgänge ist in der verbalen Volksmythologie seit jeher beliebt. Während in den alten Legenden diese Gänge meistens als Fluchtwege bei Belagerungen oder als Versteck für wertvolle Schätze dienten, erfüllen sie in den modernen Urban Legends politische oder militärische Funktionen. Mehr...
Foto (Ausschnitt): empty007, CC BY-SA 2.0

Geheimgänge in der Prager Metro


Zwischen den einzelnen Prager U-Bahnstationen gibt es geheime Tunnels, die der Regierung und den Sicherheitskräften vorbehalten sind. Es handelt sich um ein äußerst ausgeklügeltes System, das auch sehr weit voneinander entfernte Stationen miteinander verbindet – man kann also zum Beispiel in der Station Jiřího z Poděbrad (östlich des Zentrums) einen solchen Gang betreten und diesen beispielsweise in der Station Radlická (im Südwesten der Stadt) wieder verlassen. An dieses System knüpft ein weiteres Tunnel-System an, das ausschließlich der Regierung dient. Es wurde während der Zeit der kommunistischen Herrschaft errichtet und verbindet beispielsweise die Prager Burg mit der U-Bahn-Station Malostranská, die Burg mit dem Hotel Praha im Stadtteil Dejvice oder die Kramář-Villa (Residenz der Premierminister) mit der Straka-Akademie (Regierungssitz)… und natürlich ist auch der Flughafen Kbely erreichbar, wohin eine große vierspurige unterirdische Autobahn führt.

Das Phänomen der Geheimgänge ist in der verbalen Volksmythologie seit jeher beliebt – Sagen über angebliche geheime Gänge gibt es wohl zu allen Burgen, Schlössern, Kirchen und alten Häusern. Während in den alten Legenden diese Gänge meistens als Fluchtwege bei Belagerungen (die Erbauer dieser Gänge wurden deshalb gemeinhin getötet) oder als Versteck für wertvolle Schätze dienten, erfüllen sie in den modernen Urban Legends politische oder militärische Funktionen. Neben den Legenden über den Brünner, Pilsener, Prager oder Proseker Untergrund, die archaische Sagenmotive mit modernen Themen und Mysterien kombinieren, sind gerade in Tschechien phantastische Spekulationen über kilometerlange Geheimgänge, die von den Nazis oder (öfter) den Kommunisten gebaut wurden, am häufigsten vertreten. Der Glaube an fiktive geheime Tunnels unglaublicher Ausmaße, die zu unwahrscheinlichen Zwecken errichtet wurden, ist somit eine weitere folkloristische Konstante, die uns mit unseren Vorfahren verbindet.

Diese moderne Sage ist dem Buch „Černá sanitka - druhá žeň“ von Petr Janeček entnommen. (Nakladatelství PLOT, ISBN 978-80-86523-82-8). Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Tschechische Urban Legends sind demzufolge durch bedeutende historische Epochen und Ereignisse geprägt. Von Bedeutung sind dabei vor allem jene, die dieses kleine mitteleuropäische Land an der Schnittstelle zwischen Ost und West im 20. Jahrhundert heimsuchten. Übliches Thema sind sowohl negative Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg oder 40 Jahre kommunistische Herrschaft als auch positive Ereignisse wie der Fall des Eisernen Vorhangs und die folgende „Rückkehr nach Europa“.

Den offenbar prägendsten Einfluss auf die Entstehung der tschechischen Urban Legends hatte die bizarre Ära des real existierenden Sozialismus der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese Zeit stellte aufgrund der ständigen Trennung zwischen öffentlichem Leben mit vorgetäuschter Loyalität zum Regime und Privatleben im Kreise von Familienangehörigen und Freunden einen idealen Nährboden für die Verbreitung solcher Geschichten dar. Ein Merkmal dieser schizophrenen Zeit war nämlich einerseits das Misstrauen gegenüber offiziellen Informationen aus Fernsehen, Rundfunk und Presse, die allesamt vom allmächtigen Regime kontrolliert wurden – und andererseits ein blinder Glaube an alle möglichen Legenden, mochten sie noch so bizarr sein. So führte der ständige Mangel an Alltagsprodukten zu Phantastereien über den Luxus im Westen, und die biedere Steifheit der kommunistischen Funktionäre gab wiederum Anlass zu pikanten Geschichten über ihr tatsächliches Intimleben.

Porno im Tschechoslowakischen Fernsehen

Die Techniker des Tschechoslowakischen Fernsehens hatten Videokassetten mit scharfen Filmen, die sie regelmäßig nachts in den Äther sendeten, wenn normalerweise nur Testbild oder weißes Rauschen zu sehen war.

Dies war ein eher gegen Ende der 80er Jahre verbreitetes Gerücht, das auf hervorragende Art und Weise die geradezu mythische Sehnsucht der Tschechen und Slowaken nach Produkten des westlichen „Luxus“ illustriert. Mehr...
Foto (Ausschnitt): simbotelecan, CC BY 2.0

Porno im Tschechoslowakischen Fernsehen

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Diese zuverlässige Information hörte ich irgendwann in der 10. oder 11.Klasse auf dem Gymnasium, also 1987 oder 1988. Es ging um Folgendes: Die Techniker des Tschechoslowakischen Fernsehens hatten Videokassetten mit scharfen Filmen, die sie regelmäßig nachts in den Äther sendeten, wenn normalerweise nur Testbild oder weißes Rauschen zu sehen war. Laut dieser zuverlässigen Information verhielt es sich so, dass wenn sich auf dem Tisch der Ansagerin bei ihrer letzten Ansage vor Sendeschluss (das heißt vor der Hymne und dem weißen Rauschen) eine kleine Vase mit einer Blume befand, dies das verabredete Signal war, welches bedeutete, dass eine Stunde nach Sendeschluss die Techniker einen heißen Film einlegen… In einer anderen Version war das Signal eine Blume am Kleid der Ansagerin. Einmal (wir waren 16 Jahre alt) schalteten wir während einer Party bei einem Mitschüler den Fernseher ein – und die Ansagerin hatte Blumen vor sich! Anderthalb Stunden lief dann der Fernseher und wir glotzten wie die Blöden ins weiße Rauschen.

Dies war ein eher gegen Ende der 80er Jahre verbreitetes Gerücht, das auf hervorragende Art und Weise die geradezu mythische Sehnsucht der Tschechen und Slowaken nach Produkten des westlichen „Luxus“ illustriert. Genauso wie die zahlreichen Gerüchte über alle möglichen Potenzmittel den Mangel an serienmäßig hergestellten Aphrodisiaka widerspiegelten, reflektierte das Gerücht über heimliche Pornos im Fernsehen nicht nur Teenager-Phantasien, sondern vor allem den damaligen Mangel an Pornografie und ihre Mythisierung.

Diese moderne Sage ist dem Buch „Černá sanitka - druhá žeň“ von Petr Janeček entnommen. (Nakladatelství PLOT, ISBN 978-80-86523-82-8). Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die von den kommunistischen Behörden lange verschwiegen wurde, tauchte in den tschechischen Großstadtlegenden das größte Schreckgespenst des 20. Jahrhunderts auf – die Gefahr eines Atomkriegs. Das kollektive mythische Bewusstsein begriff damals plötzlich die „tatsächliche“ Bedeutung der absurd größenwahnsinnigen Staatsbauten. Die monumentalen Denkmäler, Fernsehtürme, nie fertig gestellte Großbaustellen, die unendlichen Reihen von Plattenbausiedlungen – das alles bekam einen neuen, Grauen erregenden Sinn. Diese monströsen Bauten waren nicht das Ergebnis einer größenwahnsinnigen Sehnsucht nach überflüssiger Monumentalität, schlechter Planung, niedriger Effektivität oder simpler Unfähigkeit. Diese Regime-Denkmäler waren deshalb so unglaublich, weil sie angeblich primär militärischen Zwecken dienten. Autobahnen und Autobahnbrücken dienten demnach als Landebahn für Kampfjets. Das ganze Land war angeblich von einem gigantischen Netz unterirdischer Militärstützpunkte der Sowjets durchzogen. Und sämtliche Gebäude des Staats-, Regierungs- und Parteiapparates seien durch kilometerlange Atombunker und unterirdischer Geheimgänge miteinander verbunden.

Atomexplosion

Im Jahre 1962 tauchte im Zusammenhang mit der Kubakrise das Gerücht auf, dass man einen Atomangriff nur in einem Fass voller Salz überleben könne. Angeblich war damals in Prag Salz sofort ausverkauft.

Das ist ein Beispiel für ein Gerücht, das auf eine aktuelle politische Situation reagiert – und Musterbeispiel dafür, dass in Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Spannungen nicht nur relativ realistische Gerüchte schnell Verbreitung finden, sondern auch vollkommen unsinnige Informationen. Mehr...
Foto: Charles Levy, United States Army, public domain.

Atomexplosion


Im Jahre 1962 tauchte im Zusammenhang mit der Kubakrise das Gerücht auf, dass man einen Atomangriff nur in einem Fass voller Salz überleben könne. Angeblich war damals in Prag Salz sofort ausverkauft.

Das ist ein Beispiel für ein Gerücht, das auf eine aktuelle politische Situation reagiert – und Musterbeispiel dafür, dass in Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Spannungen nicht nur relativ realistische Gerüchte schnell Verbreitung finden, sondern auch vollkommen unsinnige Informationen. Ein ähnlicher Fall wurde im April 2003 in der Ostslowakei gemeldet: In Reaktion auf Medienberichte über eine potentielle atomare Bedrohung des Landes im Zusammenhang mit dem Krieg im Irak hat ein Gerücht Verbreitung gefunden, wonach sich Dorfbewohner am besten gegen radioaktiven Niederschlag schützen, wenn sie die Dächer ihrer Häuser mit Senf bestreichen. In einer Ortschaft war demnach Senf sofort ausverkauft (die Vollfett-Variante soll dabei den besseren Schutz gewährleistet haben). Ähnliche Hamsterkäufe soll es in Banská Bystrica in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben haben. Weitere damalige „zuverlässige“ Schutzmaßnahmen gegen radioaktive Strahlung und Niederschlag, einschließlich der heute legendären, über die Gliedmaßen gestülpten Plastik- oder Papiertüten mit dazugehörigem Auf-den-Boden-legen, wobei die Fersen Richtung Explosionszentrum gerichtet sein sollten, kennt wohl jeder Teilnehmer der obligatorischen Wehrübungen sowie alle Grundwehrdienstleistenden.

Diese moderne Sage ist dem Buch „Černá sanitka - druhá žeň“ von Petr Janeček entnommen. (Nakladatelství PLOT, ISBN 978-80-86523-82-8). Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Die sozialistischen Legenden waren aber auch durch archaischere Motive gekennzeichnet. Ein typisches Beispiel ist die Legende über die Nusle-Brücke in Prag. Diese entstand zwar aus dem Leben im Sozialismus heraus, auf einer tieferen Ebene verknüpfte sie in sich jedoch den Genius loci jener Stadtviertel, die sie verband: Vyšehrad und Karlov.

Aus der Vyšehrad-Mythologie wurde das Motiv der Gang, der Clique übernommen, die der Schrecken der gesamten Umgebung ist. Diese Vorstellung hat ihre Wurzeln in der Zeit der ersten Jahre der kommunistischen Herrschaft, als an diesem Ort die sogenannten Vyšehrad-Reiter (Vyšehradští jezdci) aktiv waren – eine Gruppe junger Männer, die Rock ’n‘ Roll und amerikanische Lebensart bewunderten. Deshalb waren sie dem Regime natürlich ein Dorn im Auge, und die kommunistische Presse stellte sie als gefährliche Rowdys dar, die das friedliche Leben im Sozialismus stören. Nach ein paar Jahren wurde die Gruppe von der kommunistischen Polizei auseinander getrieben und aufgelöst, die Erinnerung blieb aber vorhanden – um nach dem Bau der Nusle-Brücke in umgewandelter Form wiederaufzuleben als Legende über die Gang, die unschuldige Fußgänger ins Nusle-Tal wirft.

Eine weitere Ursache für die Aggressivität der legendären Phantome muss am anderen Ende der Nusle-Brücke gesucht werden, im alten Karlov-Viertel. Dieser Ort mit seinem bereits im 14. Jahrhundert gegründeten mittelalterlichen Kloster wurde von jeher mit dem Bösen und mit höllischen Kräften in Verbindung gebracht – alten Legenden zu Folge verkaufte der Erbauer des Klosters seine Seele dem Teufel. Im 19. Jahrhundert galt Karlov als gefährlichster Ort Prags. Damals noch außerhalb am Stadtrand gelegen, wurden hier seinerzeit nämlich einige bis heute ungeklärte Morde verübt, für die in der Vorstellung der Menschen Schreckgestalten aus dem verfluchten Kloster verantwortlich waren. Diese alten Legenden sind aus der kollektiven Phantasie bereits längst verschwunden, das Bewusstsein über die Gefährlichkeit des Ortes ist jedoch bestehen geblieben, um sich später in der modernen Legende über die Nusle-Brücke zu manifestieren.

An diesem einfachen Beispiel einer einzigen, auf den ersten Blick relativ prosaischen Großstadtlegende wird die faszinierende historische Dimension der modernen tschechischen Urban Legends deutlich, in der geschickt die volksmythologischen Schichten mehrerer historischer Epochen kombiniert werden. Ähnlich interessante Geschichten gibt es aber überall auf der Welt. Es genügt, wenn man hin und wieder etwas genauer über ähnlich merkwürdige, vermeintlich reale Begebenheiten nachdenkt, die man täglich von seinen Verwandten, Freunden und Kollegen zu hören bekommt.

Petr Janeček
(* 1978) ist Leiter der ethnographischen Abteilung des Tschechischen Nationalmuseums. Er ist der Herausgeber der Bücher „Černá sanitka“ (Der schwarze Krankenwagen), die Sammlungen moderner in Tschechien kursierender Sagen sind.

Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: Goethe-Institut Prag
Dezember 2012

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