Die Legende vom Slender-Man

Foto: Laura Randie, CC BY-SA 2.0

Er kommt aus den Wäldern - und er wird dich holen…!

Foto (Ausschnitt): Laura Randie, CC BY-SA 2.0
Foto (Ausschnitt): Laura Randie, CC BY-SA 2.0

Begegnen kann man ihm praktisch überall, auf der Straße, beim Spaziergang und sogar vor der eigenen Haustür: dem Slender-Man. Sein bevorzugtes Gebiet sind dichte, dunkle Wälder, doch er soll sich einem einsamen Passanten auf nächtlichen Straßen mitten in der Stadt gezeigt haben.

Die Berichte über seine Erscheinung sind vielfältig. Allen gemein ist aber, dass es sich um eine große, dürre („slender“ eng. = „schlacksig“, „dünn“) annähernd menschliche Gestalt handelt. Zugleich sind die Proportionen aber so verzerrt, dass jedem sofort klar wird: Hier handelt es sich eher um ein „Ding“ als um eine Person. Auffällig sind vor allem seine überlangen Arme, die mehr wie tentakelartige Auswüchse, als wie richtige Gliedmaßen aussehen. Sein Gesicht ist eine weißgraue, formlose Masse, die sich jeder genaueren Betrachtung entzieht. Der Slender-Man erscheint in einem dunklen Anzug, der aber nur bedingt über seine erschreckende Erscheinung hinwegtäuschen kann.

Der Slender-Man hält sich häufig in der Nähe von spielenden Kindern auf, die kurze Zeit später spurlos verschwinden. Und auch mancher Erwachsene wurde nach einer unverhofften Begegnung nie wieder gesehen. Das Schicksal der Verschwundenen ist ungewiss. In einem Punkt sind sich jedoch alle einig, die eine Begegnung mit dem Slender-Man unbeschadet überstanden haben: Typische Begleitumstände eines derartigen Zusammentreffens sind starke Angst- und Panikgefühle. Daher steht zu vermuten, dass die Kreatur mit ihren Opfern wohl nicht (nur) eine nette kleine Teepartie feiern und ein gepflegtes Gespräch über den Sinn des Lebens führen möchte.

Urban Legend oder Internet-Phänomen?

Berichtet wurde diese Geschichte von einem 23-jährigen Informatik-Studenten aus Hamburg. Angeblich geht die noch relativ neue Legende auf einen Internet-Fotocontest zurück. Und so könnte Slender-Man entstanden sein: Die Wettbewerbs-Aufgabe bestand darin, ein normales Foto mittels digitaler Manipulation in eine paranormale, erschreckende Darstellung zu verwandeln. Also fotografierte ein Teilnehmer einen Kinderspielplatz, manipulierte ein wenig an einer verschwommenen Gestalt im Hintergrund herum, verpasste ihr Tentakel statt Armen, erfand die entsprechende, gruselige Hintergrundstory – und fertig war der Slender-Man.

Im Juni 2012 wurde, basierend auf dieser Figur, das Survival-Horror-Spiel Slender – The eight pages herausgebracht. Die Geschichte spielt – passenderweise - in einem dunklen Wald und der Slender-Man verbreitet als Gegenspieler Angst und Schrecken. Dieses Spiel erfreut sich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen großer Beliebtheit und löste einen regelrechten Slender-Boom aus. Berichte von angeblichen Sichtungen des Slender-Man machten die Runde, auch Fotos und Video-Aufnahmen kursieren verstärkt im Internet. Als vermeintliche „Quellen“ werden sogar historische Darstellungen aus dem Mittelalter oder dem alten Ägypten herangezogen, wenn sie eine dürre Kreatur mit überlangen, manchmal auch zu vielen Gliedmaßen zeigen. Demnach treibt der Slender-Man angeblich schon seit Jahrhunderten überall auf der Welt sein Unwesen.

Alles erfunden! - Oder vielleicht doch nicht…?

Vermutlich handelt es sich bei den Bildern allesamt um mehr oder weniger geschickt gemachte Fälschungen. Mein persönlicher Eindruck war jedenfalls, dass die Aufnahmen kaum authentischer sind als die immer wieder auftauchenden (gefälschten!) Bilder vom Monster von Loch Ness oder den Außerirdischen von Area 51.

Doch als ich kürzlich mit dem Auto an einem dunklen Waldstück vorbeifuhr, nahm ich aus dem Augenwinkel plötzlich eine seltsame Bewegung wahr: Ich hätte schwören können, dass es sich dabei um lange Tentakel handelte, die aus dem Gebüsch ragten und mir zuwinkten.

Meine Feigheit siegte über die Neugier. Ich folgte den lockenden Tentakelfingern nicht, sondern trat stattdessen kräftig aufs Gaspedal. Und während sich eine Gänsehaut in meinem Nacken ausbreitete, fragte ich mich: „Was, in aller Welt, war denn das?!“

Antworten aus der Psychologie – doch ein Rest Gänsehautgefühl bleibt

Die Wahrnehmungs-Psychologie kann dieses Phänomen erklären: Nimmt das menschliche Auge Dinge nur undeutlich oder bruchstückhaft wahr, dann ergänzt das Gehirn das Unfertige zu einem vollständigen Bild. Man glaubt demzufolge, Dinge zu sehen, die eigentlich gar nicht da sind.

Nun ja. Das könnte eine einigermaßen logische Erklärung für meine unheimliche Begegnung sein (und nebenher noch so manche vermeintliche Geistersichtung erklären). Und wahrscheinlich ist es auch genau so gewesen. Vielleicht habe ich mich gedanklich einfach ein bisschen zu sehr mit der Geschichte beschäftigt.

Trotzdem bin ich insgeheim ein wenig beruhigt darüber, dass auch laut der offiziellen Legende nicht jede Begegnung mit dem Slender-Man übel enden muss.

Denn sonst gäbe es ja auch niemanden, der die Geschichte weiter erzählen kann.

Janika Rehak

Copyright: Goethe-Institut Prag
Dezember 2012

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