Moderner Protest: Treffpunkt Internet

Foto: Marie Julliard, www.jugendfotos.de CC BY 2.0Foto: Marie Julliard, www.jugendfotos.de CC BY 2.0
Foto: Marie Julliard, www.jugendfotos.de CC BY 2.0

Der arabische Frühling, die Organisation „Attac“, brasilianische Proteste und viele Aktivisten in aller Welt haben ein Ziel: Verbesserung durch Veränderung. An Problembaustellen und Ideen fehlt es den Organisationen nicht, aber meist finden sie gar kein Gehör oder ihre Blütezeit dauert nur ein paar Monate. Inwiefern unterscheiden sich moderne Proteste zum Beispiel von der 1968er-Protestbewegung und wofür setzen sie sich ein?

Bilder von einem dunkelhaarigen Mann in der Türkei mitten auf dem Istanbuler Taksim-Platz gehen um die Welt. Seine Hände hat er locker in den Hosentaschen, sein weißes Hemd ist nachlässig in den Hosenbund gesteckt. Zu seinen Füßen liegen ein prallgefüllter Wanderrucksack, mehrere Flaschen Wasser und ein paar Tüten. Es sieht aus, als käme er gerade vom Einkaufen und lege nun eine kurze Pause ein. Aber auch nach ein paar Minuten bewegt sich der junge Mann kein Stück, sein Blick ist auf die türkischen Fahnen am Atatürk-Kultur-Zentrum gerichtet.

Erdem Gündüz ist ein türkischer Choreograf und Tänzer, in dieser Nacht aber ist er ein stiller Demonstrant. In der Türkei wird er auch „der stille Tänzer“ genannt. Hunderte begeisterte Anhänger haben sich dem schweigenden Vorbild angeschlossen und somit ein Zeichen gegen die Sprachlosigkeit der türkischen Medien und die Gewalt der Polizei gesetzt. In sozialen Netzwerken wird Gündüz „duran adam“ genannt (standing man) und es ist nicht verwunderlich, dass seine Aktion schon am Folgetag viele Nachahmer gefunden hat.

Die 68er – eine Kulturrevolution

Große Schilder und Banner mit aufgedruckten Idolen wie Ché Guevara, Mao Tse-tung oder Ho Chi Minh wurden in der Zeit um 1968 durch die Straßen getragen. Die ersten Studentenproteste weckten auch benachbarte Universitätsstädte auf, die sich den Demonstranten anschlossen. Die Studenten gingen auf die Straßen gegen verkrustete Gesellschaftsstrukturen, verstaubte Hochschulen und große Koalitionen. Sie forderten zeitgemäße Lerninhalte, soziale Chancengleichheit, bessere Lern- und Lebensbedingungen und einen Stopp der atomaren Aufrüstung. Ohnehin herrschte in Deutschland Ende der 1960er-Jahre eine mittlerweile ungewohnte Anspannung: Die deutsche Einheit war nach dem Bau der Berliner Mauer ferner denn je und der wirtschaftliche Aufschwung geriet erstmals ins Stocken.

Foto: © Janice Holtz
Die Gruppe „Anonymous“ ist bekannt für ihre Masken und ihre Protestaktionen im Internet. Foto: © Janice Holtz

Zwar waren die Studentenrevolten genauso friedlich wie 2013 die des „standing man“ in der Türkei. Aber anstatt zu schweigen, gaben die Protestanten 1968 ihrer Meinung durch Belagerungen, Demonstrationen und Musikkonzerte eine Stimme. Doch nach und nach verschärfte sich die Situation. Vor allem ein Attentat auf Rudi Dutschke, einen der führenden Köpfe der Studentenbewegung, ließ die Stimmung kippen. Die Demonstranten wollten nicht mehr nur mit Tomaten und Puddingbomben werfen. Sie wurden radikaler. Bis zu ihrer Zersplitterung 1969 haben die 1968er trotzdem einiges erreicht. Dazu gehören die Neuordnung des Strafrechts und des Sexualstrafrechts sowie der Rechtsspruch bei Delikten gegen die öffentliche Sicherheit.

Nur eine kurze Zeit online

In Zeiten von Facebook, Twitter und anderen sozialen Plattformen verbreiten sich Informationen über Proteste innerhalb von Minuten auf der ganzen Welt, während noch vor ein paar Jahren eine Information von der Türkei nach Deutschland ein paar Tage brauchte. Während früher viele Worte für einen klaren Angriffspunkt benötigt wurden, dreht sich heute alles um die visuelle Darstellung und die crossmediale Verbreitung.

Ein Paradebeispiel dafür ist die hauptsächlich online agierende Gruppe „Anonymous“. Sie ist bekannt für ihre Masken aus der Graphic Novel V wie Vendetta und ihre Protestaktionen im Internet. Die Mitglieder fordern Redefreiheit und setzen sich gegen Copyrights-Lobbyismus, die Church of Scientology und für ein zensurfreies Internet ein. Ihre Vorgehensweise hat ihre umfassende Bedrohlichkeit erst entwickelt, seit die Welt nonstop online ist. Ihr Aushängeschild sind Demonstrationen und Hacker-Angriffe auf Plattformen und Systeme.

Ihren Höhepunkt hatte die Gruppe 2010, mittlerweile ist sie wieder weitgehend im Hintergrund verschwunden. Allerdings ist „Anonymus“ nicht die einzige moderne Protestbewegung, die das Internet zu ihrem Versammlungspunkt erkoren hat. Auch die Formation „Occupy Wall Street“ war auf Blogs, Websites und Plattformen aktiv. Gleichzeitig belagerten tausende Menschen den New Yorker Zuccotti Park und demonstrierten gegen die Macht der Banken, soziale Ungerechtigkeit und die Gier der Superreichen.

Foto: Marie Julliard, www.jugendfotos.de CC BY 2.0
Foto: Marie Julliard, www.jugendfotos.de CC BY 2.0

Diagnose „Burnout“

Woran aber liegt es, dass es so viele moderne Protestbewegungen mit sinnvollen Ideen, Zielen und Konzepten gibt, die eine Zeitlang in aller Munde und dann nur noch in blasser Erinnerung vorhanden sind? Wolfgang Michael ist freier Journalist und Mitherausgeber des Autorenblogs Carta.info. Er kommentiert den Politik- und Medienwandel und hat in einem Artikel zur Frage „Warum sind moderne Proteste so kurzatmig?“ Stellung genommen.

„Der permanente Heißhunger nach Neuigkeiten hat die Aufmerksamkeitsökonomie in den Nachrichtenüberflussgesellschaften verändert“, schreibt Michael, „eine kontinuierliche Arbeit und ein stabiler Organisationsaufbau werden oft schon als Stagnation und Langeweile empfunden.“ Michael weiß: Wo keine schnellen Erfolge erzielt werden, unterstellt man sich bereitwillig selbst den Misserfolg.

„Die aus dem Informations-Overkill resultierende Einzelproblem-Wahrnehmung fördert die Erkenntnis, an vielen Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen. Burnout ist die Diagnose“, so der Journalist. „Dadurch erschöpfen sich Protest und Empörung viel schneller als in früheren Zeiten.“

Janice Holtz

Copyright: To4ka-Treff
September 2013

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