Aufbegehren braucht Ausdauer

Inventura demokracie

Tomáš Kopečný am „Náměstí míru“ (Friedensplatz) in Prag bei einer der öffentlichen Veranstaltungen von „Inventura demokracie“. © Inventura demokracie.

Es ist eine traditionelle Eigenart der tschechischen Politiker, auszutesten, was die Gesellschaft so alles schluckt. So stochern sie wie in einem Wespennest herum und warten ab, was geschieht. Von Zeit zu Zeit erscheint dann eine Protestbewegung auf der Bildfläche, die gegen den Verfall der politischen Kultur in Tschechien aufbegehrt. Zu diesen Gruppen gehört auch die „Inventura demokracie“ („Inventur der Demokratie“). Über die tschechische Politik und den Zustand der Zivilgesellschaft sprachen wir mit Tomáš Konečný, einem Mitglied dieser Initiative.

Tomáš, was beunruhigt dich an der aktuellen Politik in Tschechien?

Ganz sicher das Bemühen von Präsident Zeman, eine Art halbpräsidiales oder gar direkt präsidiales System einzuführen, und wie er ganz unverhohlen seine Getreuen in strategisch wichtige Positionen hievt. Man spürt förmlich, dass er denkt, dass ihm hier alles gehört und es nur eine Frage der Zeit ist, wann sich auch die anderen darauf einlassen. Darüber hinaus beunruhigen mich rassistische Haltungen und Äußerungen einiger öffentlicher Amtsträger. Diejenigen, die aus ihren Positionen heraus Träger von Normen sind, beteiligen sich daran, gegen Roma Stimmung zu machen. Mir läuft es beispielsweise eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich Artikel des Senators Miroslav Krejčí aus Písek lese und feststellen muss, dass er als Senator des tschechischen Parlaments unverhohlen feindseliges und rassistisches Gedankengut verbreitet. Leider scheint dies mittlerweile mehrheitsfähig zu sein und findet auch nicht mehr im Verborgenen statt.

Wie erklärst du dir, dass bis jetzt so viele zivile Protestbewegungen auch nach großem medialen Aufsehen im Sande verlaufen sind?

Dass die Medien sich mit dem befassen, was gerade aktuell passiert, entspricht ihrer Aufgabe, die neuesten Informationen zu vermitteln, schließlich heißt es ja im englischen auch zu Recht „news“. Auf der anderen Seite fehlt ihnen häufig die Fähigkeit, diese Informationen in einen breiteren Kontext vergangener Ereignisse oder ähnlicher Fälle im Ausland zu setzen. Mit der Inventur der Demokratie organisieren wir von Zeit zu Zeit Mittagessen für Journalisten, zu denen wir auch Fachleute einladen, die sich mit der betreffenden Problematik befassen. Das ist eine sehr beliebte Aktion: die Journalisten bekommen wertvolle Informationen, knüpfen Kontakte zu Fachleuten und genießen dazu noch ein gutes Essen.

„Für gesündere Politik“ © Inventura demokracie.

„Für gesündere Politik“ © Inventura demokracie.

Trotzdem können nicht nur die Medien schuld sein. Warum bleibt von der Begeisterung und der Entschlossenheit, etwas zu verändern, oft ganz schnell ganz wenig übrig?

Die absolute Mehrheit der Bürger hat einfach keine Zeit, sich einer bestimmten Angelegenheit langfristig zu widmen. Sie haben ihre Arbeit, ihre Verpflichtungen, die Familie, Freizeitaktivitäten. Sie können nicht ständig auf die Straße gehen. Darüber hinaus ist bei uns die Tradition des zivilen Engagements nicht so stark ausgeprägt. Nach einer kurzen Zeit des Aufbegehrens ziehen sich die Menschen wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Seine eigene Datsche zu haben und Politik zu ignorieren, ist ein klassisches Modell, das bis in die 70er und 80er Jahre zurückreicht. Zum Glück wächst aber schon eine Generation nach, die daran nicht gewöhnt ist.

Hat das gemeinsame Projekt „Rekonstrukce státu“ („Rekonstruktion des Staates“), das von mehreren Gruppen getragen wird, größere Erfolgsaussichten als ähnliche Vorläufer?

Das Projekt ist wichtig, ich drücke ihm die Daumen, aber was die Erfolgsaussichten angeht, bin ich nicht besonders optimistisch. Ohne Zweifel muss es bei uns eine gute Basis von Gesetzen geben, die die Entwicklung der politischen Kultur fördern. Andererseits sind an dem Projekt viele Menschen beteiligt, die sich vollkommen technokratisch auf ein paar Gesetze konzentrieren und andere größere Probleme außer Acht lassen.

Warum konzentrieren sich die meisten Initiativen auf die Tätigkeit der Politiker und nicht auf die Gesellschaft?

Weil die Politiker gewählte Vertreter von uns Bürgern sind, und deshalb sollten sich die Politiker auch verantworten müssen. Und am wirksamsten konfrontiert man sie mit der Unzufriedenheit über Medien oder soziale Netzwerke. Ein zweiter Grund kann sein, dass die Leute aus den Initiativen nicht besonders oft den Menschen von der „zweiten“ Seite der gespalteten Gesellschaft, begegnen – wenn wir diese Spaltung ungefähr gemäß des Ausgangs der Präsidentschaftswahlen wahrnehmen. Zugegeben, das ist ein Defizit, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie man das beheben soll.

Wie beurteilst du den aktuellen Stand der Zivilgesellschaft in Tschechien?

Die für die vergangenen 20 Jahre charakteristische Zersplitterung scheint vorbei zu sein. In den letzten zwei Jahren beobachte ich eine systematische Verknüpfung und Zusammenarbeit in langfristigen Projekten. Aber Vorsicht, das heißt nicht, dass die NGOs oder die Zivilgesellschaft stärker geworden wären. Dieser Effekt des Zusammengehens ist nur eine kurze Zeit wirksam. Die Plattform Vraťte nám stát (Gebt uns den Staat zurück) beispielsweise, die auf die veröffentlichten Telefongespräche zwischen dem ehemaligen Prager Oberbürgermeister Bém und dem Lobbyisten Janoušek reagierte, entstand durch den Zusammenschluss von 38 gemeinnützigen Organisationen. Die ersten Wochen hatte das wirklich einen Klang von 38 Namen, nach einer Weile fing man jedoch an, diese als ein Grüppchen wahrzunehmen. Das Gleiche geschieht jetzt in etwas kleinerem Maße mit dem Projekt Rekonstrukce státu.

Was polarisiert die tschechische politische Szene?

Meiner Meinung nach spielt die Hauptrolle das Streben einiger Politiker, sich von der politischen Kultur loszulösen, die Václav Havel nach dem November 1989 verkörperte und die viele Leute als vorbildlich für die gesamte tschechische Politik wahrnehmen. Durch die Angriffe auf Havel durch seine politischen Hauptrivalen Zeman und Klaus wurde er zu einer einfachen Zielscheibe für diejenigen, die von der Entwicklung nach 1990 frustriert sind. Dass Klaus kurz vor dem Ende seiner Amtszeit das Andenken an den bereits verstorbenen Havel mit Dreck bewarf, zeigt, was für ein herausragender Kontrahent Havel für Klaus war. Im Gegensatz zu Klaus haben diejenigen, die sich als Bewahrer des Vermächtnisses Havels ansehen, nicht nötig, ihn zur eigenen Präsentation zu missbrauchen.

„Bei Übelkeit wegen der tschechischen Politiker bitte benutzen.“ © Inventura demokracie.

Kotztüte: „Bei Übelkeit wegen der tschechischen Politiker bitte benutzen.“ © Inventura demokracie.

Sollten sich die Spitzenvertreter von engagierten Gruppen und Bewegungen auch an der aktiven Politik beteiligen?

Es ist notwendig, auf beiden Seiten präsent zu sein. Denen, die mit dem aktuellen Zustand unzufrieden sind, bleibt beim derzeitigen Mangel an Persönlichkeiten in den wichtigsten Parteien nichts anderes übrig. Das ist eine schwierige Aufgabe, die noch durch die Stigmatisierung von politischer Karriere und Parteimitgliedschaften zusätzlich erschwert wird.

Willst du selbst in die Politik gehen?

In absehbarer Zeit plane ich nicht, mich einer konkreten Gruppierung anzuschließen. Außerdem sehe ich im derzeitigen politischen Spektrum keine Partei, die meinen Vorstellungen entspricht. Ganz sicher rechne ich aber damit, dass ich mich am ursprünglichen Sinn der Politik beteilige, nämlich am Wettkampf der Ideen und Gedanken um die Frage, wohin sich unsere Gesellschaft orientieren und weiterbewegen sollte. Politik als die Pflege der Polis, in der ich lebe, das ist mir sehr nah. Gerne würde ich mit meinen Fachkenntnissen dazu beitragen, dass sich die tschechische Politik weiterentwickelt.

Was waren die konkreten Motive für dein ziviles Engagement?

Eigentlich ganz klassisch – ich wollte mich einfach an dem Geschehen um mich herum beteiligen. Aber um nicht wieder die Phrase zu wiederholen, dass ich nicht nur beim Bier rumjammern wollte: eine wichtige Motivation war auch die Überzeugung, dass das auch mich selbst weiterbringt. Dass ich dadurch Erfahrungen sammele, einen größeren Überblick bekomme, an Sicherheit gewinne, wenn ich mit den unterschiedlichsten Menschen verhandele. Und das hat sich alles erfüllt.

Wenn du dir eine Sache wünschen könntest, die die „Inventur der Demokratie“ oder eine andere ähnliche Initiative verändern könnte, was wäre das?

Mit unserem Engagement wollen wir die Menschen dazu motivieren, sich zum aktuellen Geschehen zu äußern, wählen zu gehen, ihren Volksvertretern zu schreiben, an Sitzungen ihrer Gemeindevertreter teilzunehmen. Und wenn politisches Handeln Grenzen überschreitet, sich dem entgegenzustellen und auch zu demonstrieren.

Woran arbeitet die „Inventur der Demokratie“ derzeit?

Wir arbeiten am Projekt einer tatsächlichen Inventur der Wurzeln der tschechischen Demokratie. Wir befragen Persönlichkeiten, die bei den umwälzenden Ereignissen nach 1989 dabei waren. Dabei erfahren wir unglaublich interessante Geschichten darüber, auf welchen Grundlagen unser derzeitiges politisches System und unsere politische Kultur steht. Wir wollen nicht, dass das mit dem Tod dieser Zeitzeugen verloren geht. Ganz allgemein sind wir aber bereit uns zu melden, wann immer es notwendig sein wird, und das betrachte ich als grundlegendes Element jeder Zivilgesellschaft.

Das Interview führte Klára Bulantová
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
September 2013
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