„Es könnte schlimmer sein“

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Der Politologe Jiří Štefek ist seit 2009 Redakteur der Wochenzeitung „Týden“. Foto: © Jiří Štefek

Am letzten Oktoberwochenende gehen die Tschechen an die Urnen, um ein neues Abgeordnetenhaus zu wählen. Im Juni trat die Regierung zurück, und kurz darauf löste sich das Abgeordnetenhaus selbst auf. Derzeit regiert eine vom Präsidenten eingesetzte Regierung, die jedoch nicht das Vertrauen des Parlaments erhalten hat. Im Wahlkampf sind Parolen zu hören über die autokratischen Gelüste des Präsidenten, unberechenbare und machthungrige Unternehmer, korrumpierte Konservative und die Gefahr einer Rückkehr der Kommunisten. Ist die Demokratie in der Tschechischen Republik gefährdet? Warum ist die politische Situation so unübersichtlich? Antworten auf diese und weitere Fragen haben wir beim Politologen Jiří Štefek gesucht, Redakteur des Wochenmagazins „Týden“.

Nach drei Jahren anhaltender Regierungskrise gab die Regierung von Premierminister Petr Nečas auf. Hatte sie überhaupt eine Überlebenschance bis zu den regulären Wahlen?

Im Rückblick scheint der Schritt von Petr Nečas übereilt, denn alle der inhaftierten Ex-Abgeordneten wurden bereits aus der Haft entlassen, ebenso seine Assistentin und heutige Ehefrau Jana Nečasová (zuvor Nagyová). Dennoch, der nächtliche Polizeieinsatz im Regierungsamt [Verhaftung einiger Regierungsbeamter, die wegen der Beschattung der damaligen Ehefrau des Premierministers im Verdacht des Amtsmissbrauchs standen. Anm. d. Red.] war im Grunde nur das Tüpfelchen auf dem i, wenn wir bedenken, wie viele Regierungskrisen dem vorausgegangen sind, wie viel Frustration herrschte aufgrund der längsten wirtschaftlichen Rezession in der tschechischen Geschichte. Nečas hätte das überstehen können, aber wahrscheinlich wollte er seine Partei, die ODS, davor bewahren, dass sich die Wähler vollends von ihr abkehren und die Partei unter die Fünfprozenthürde sinkt.

Warum ist das Zusammenbrechen der Regierung kein beherrschendes Thema in den Wahlkampagnen?

Weil – ich sage es mal mit Übertreibung – heute niemand mehr weiß, wer Petr Nečas war. Die Hauptgrabenkämpfe spielen sich zwischen Ex-Finanzminister Kalousek und Präsident Zeman ab. Diesen Fehdehandschuh nahm als erster im Land Miroslav Kalousek auf, der von seiner Persönlichkeit her vielleicht als einziger fähig ist, Zeman Widerstand zu leisten.

Und SPOZ wiederum (Partei der Bürgerrechte – Zemanovci [Zeman-Anhänger, Anm. d. Redaktion]) rühmt sich auf ihren Wahlplakaten, „Kalousek gestoppt“ zu haben.

Genauso ist es. Diese populistische Parole hat die nötige Schlagkraft im Wahlkampf und setzt auf die Bequemlichkeit der potenziellen Wähler, denen es nichts ausmacht, dass das eigentlich nicht wahr ist. SPOZ war nicht im Parlament vertreten, und wenn jemand das Verdienst für sich in Anspruch nehmen kann, Kalousek von der Macht entbunden zu haben, die Regierung zu Fall und das Abgeordnetenhaus zur Auflösung gebracht zu haben, dann war das Präsident Zeman. Der hat mit dieser Parole schließlich schon die Präsidentschaftswahlen gewonnen.

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Rühmen sich (fälschlicherweise) Ex-Finanzminister Kalousek „gestoppt“ zu haben: Die Zemanovci. Foto: © Patrick Hamouz

Werden nicht die demokratischen Prinzipien verhöhnt, wenn im Parteinamen der Name des Präsidenten auftaucht, wenn sogar sein Konterfei und seine persönliche Empfehlung den Wahlkampf beherrschen?

Nein, das steht dem nicht zuwider, auch wenn es ungewöhnlich ist. Wie Miroslav Kalousek angemerkt hat, gab es in der tschechoslowakischen Geschichte nur drei Parteien, deren Namen auf denen ihrer geistigen Führer beruhten – die Henleinpartei, die Hlinkapartei in der Slowakei und die rechtspopulistische Sládekpartei [Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts eine fremdenfeindliche Vereinigung gegründet von Miroslav Sládek, Anm. d. Red. ], die in den 1990er Jahren verboten wurde. Das verrät vieles über den Charakter dieser Gruppierungen.

Der Präsident ließ verlautbaren, dass er kein „Rechtslinks-Konstrukt“ zulässt, das heißt also eine Verbindung von Sozialdemokraten (ČSSD) und konservativer TOP 09. Wie hat man das zu interpretieren?

Für ihn ist das ein politisches Spiel. Sobald eine Parlamentsmehrheit entsteht, kann er sich ihr in letzter Konsequenz nicht entgegenstellen. Er kann schmollen und abermals eine Regierung nach eigenem Gusto aufstellen, die derzeitige Verfassung gibt dem Präsidenten allerdings nur zwei Versuche, den dritten hat dann der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses. Der Präsident könnte seine Regierung theoretisch zwar auch ohne das Vertrauen des Parlaments kommissarisch weiterregieren lassen, aber damit riskiert er eine Klage wegen Hochverrats, und die Regierung könnte ohnehin nichts durchsetzen, denn das Abgeordnetenhaus würde gegen sie stehen. Die tatsächliche Macht liegt beim Parlament. Zemans Worte können aber als der Versuch interpretiert werden, die SPOZ zu stärken, so dass sie ins Parlament einzieht und als linke Partei auch in der Regierung sitzt.

Steht das aber nicht dem Prinzip der Überparteilichkeit des Präsidenten zuwider?

Die Verfassung verbietet im Wortlaut nichts von dem, was Zeman macht. Wir messen jedoch alle Präsidenten am Vorbild Havel. Auch Václav Klaus war kein überparteilicher Präsident. Auf der anderen Seite zeugt all das von der Unreife der tschechischen politischen Kultur.

Dennoch löst das Verhalten des Präsidenten Befürchtungen aus...

Es ist zu erwarten, dass der Gewinner der Wahlen – sei es die ČSSD oder die Rechte – versuchen wird, die Kompetenzen des Präsidenten zu konkretisieren oder einzuschränken. Obwohl die Verfassung viele Male verändert wurde, bleibt es eine Tatsache, dass sie „mit heißer Nadel gestrickt“ wurde. Ihr Text ist häufig vage formuliert. Bisher waren wir gewohnt, vor allem von Präsident Havel, dass man das wahrte, was man den Geist der Verfassung nennt, die Verfassungsgewohnheiten. Die hat jedoch der gegenwärtige Präsident als idiotisch bezeichnet, so dass uns nur noch dieser vage Text bleibt.

Die Medien präsentieren die gegenwärtige Situation als Kampf dreier Blöcke – der Parteien der korrumpierten vorherigen Regierung, der Linken, von der entweder die Rückkehr der Kommunisten an die Macht droht oder der Machtausbau des Präsidenten, und der neuen Gruppierungen vom Typ „Ano!“ des Unternehmers Babiš, deren aufrichtige Motivation, die Politik in Tschechien zu ändern, angezweifelt wird. Wie wirkt sich das auf die Entscheidung der Wähler aus?

Allgemein würde ich die Rolle der Medien nicht überschätzen. Schon die direkte Präsidentenwahl hat gezeigt, dass die Menschen gegenüber dem Druck der Medien immun sind. Damals hat sich eine enorme Front zu Unterstützung von Karel Schwarzenberg formiert, und dennoch hat in der zweiten Runde Zeman mit einem Vorsprung von fast 10 Prozent gewonnen. Darüber hinaus weiß rund ein Drittel der Menschen nicht, was sie wählen sollen, und entscheiden sich erst im letzten Moment. Gerade diese Masse hält in der Hand eine große nicht vorhersehbare Kraft.

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Unternehmer Andrej Babiš tritt mit der Gruppierung „Ano!“ („Ja!“) an: „Ich werde für euch arbeiten. Ich werde nicht stehlen und lügen.“ Foto: © Patrick Hamouz

Babiš´s „Ano!“ erinnert trotzdem an die „Věci veřejné“ (VV / Partei der öffentlichen Angelegenheiten) – eine Partei, die vor den Wahlen gegründet wurde und an der Regierung beteiligt war, sie aber von Anfang an zerrüttet hat, um dann von selbst auseinanderzubrechen und bei den Wählern in Ungnade zu fallen. Warum ist „ANO!“ in manchen Umfragen die zweitstärkste Partei?

Es gibt da bestimmte Analogien, aber Babiš ist viel reicher als Bárta [Unternehmer und Vorsitzender der VV, Anm. d. Red.]. Mit einem Eigentum von rund hundert Milliarden Kronen muss er – im Gegensatz zu den „Věci veřejné“ – nicht am Staat schmarotzen. Darüber hinaus haben die VV in den vorherigen Wahlen gegen die politischen Dinosaurier kandidiert, aber am Ende mit zweien von ihnen koaliert. Babiš tritt gegen alle an, verheimlicht nicht, dass er den Staat wie eine Firma führen möchte und bemüht sich, die Politiker als korrumpiert darzustellen – und das ist im Übrigen das, was die Menschen an den Politikern stört.

Die Kommunisten erzielen bei den Umfragen Werte zwischen 15 und 20 Prozent. Droht ihre Rückkehr an die Macht?

De facto sind sie bereits wieder da. Sie waren in den Kreiswahlen erfolgreich, stellen zwei Kreishauptmänner, sitzen in mehreren Kreisen in der Verwaltung. Ihre Beteiligung an der Macht auf gesamtstaatlicher Ebene hätte jedoch zweifellos eine größere symbolische Bedeutung. Aber so sehr es jetzt auch danach aussieht, die Zeit, in der die tschechische Gesellschaft bereit ist, die Kommunisten direkt in einer Regierung zu akzeptieren, ist noch nicht gekommen. Möglich ist allerdings ihre stille Unterstützung einer linken Minderheitsregierung. Das lassen sie sich allerdings in machtpolitischer Hinsicht gebührend bezahlen.

Warum haben die Kommunisten unter den Tschechen immer mehr Unterstützer?

Meiner Ansicht nach geht es dabei nicht um Nostalgie, sondern um Trotz und Protest. Der Wählerkern der Kommunisten stirbt langsam aus, aber die Zahl der wütenden Menschen steigt. Sie können sich mit ihrer Stimme rächen – an denen, die sie für ihre Lebenssituation verantwortlich machen, oder an denen, die es besser haben.

Als aber die NGO Člověk v tísni (Mensch in Not) „Wahlen“ an den Mittelschulen durchgeführt hat, schnitt die nationalistische und rassistische Arbeiterpartei am besten ab...

Ich bin überzeugt, dass sie bei tatsächlichen Wahlen ihre Stimme einer der demokratischen Parteien geben würden. Ich möchte nicht das Ergebnis dieser Umfrage bagatellisieren, unter den tschechischen Schülern macht rechte Politik das Rennen, aber den hohen Prozentsatz für die Arbeiterpartei würde ich interpretieren als einen bestimmten Mangel an persönlicher Integrität und als Folge kritikloser Übernahme vereinfachter populistischer Parolen, mit denen die Gesellschaft immer häufiger gefüttert wird.

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„Wählen Sie die Sozialdemokraten! Einen funktionierenden Staat setzt nur eine starke Regierung durch.“ Trotz sinkender Umfragewerte sagen alle Erhebungen einen Wahlsieg der Sozialdemokraten voraus. Foto: © Patrick Hamouz

Und als gäbe es nicht schon genug sonderbare Vorgänge: es ist eine Übergangsregierung an der Macht, die nicht das Vertrauen des Parlaments bekommen hat. Und darüber hinaus sitzen auch noch Mitglieder jener Partei am Kabinettstisch, die den Namen des Präsidenten trägt.

Die gegenwärtige Regierung hat sehr eingeschränkte Möglichkeiten. Da wir derzeit kein Abgeordnetenhaus haben, können nur gesetzliche Maßnahmen vorgelegt werden. Das ändert allerdings nichts daran, dass diese Regierungsmitglieder Präsident Zeman nahestehen beziehungsweise Premierminister Rusnok. Wir können davon halten, was wir wollen, wenn der Präsident eine Regierung nach seinem Gusto einsetzt – die Verfassung verbietet es ihm nicht.

Im Vergleich zu anderen demokratischen Ländern scheint die politische Situation in Tschechien nicht gerade stabil. Wie kommt das?

Die westlichen Länder hatten seit dem Zweiten Weltkrieg Zeit, ihre Demokratien und Werte zu entwickeln – wir hatten die Kommunisten. Im Nachkriegsfrankreich gab es auch ähnliche Fehltritte. Und wenn wir mal weiter in den Osten schauen, in die Slowakei oder nach Ungarn, wer weiß, ob da nicht die Situation noch schlimmer ist. Tschechien steht im europäischen Rahmen nicht am schlechtesten da, auch in Italien wechseln ja die Regierungen am laufenden Band. Und über die Berechenbarkeit der griechischen Politik kann man auch polemisieren. Ich würde das also nicht so dramatisch sehen. Wir haben 24 Jahre Demokratie hinter uns, und ich würde sagen, dass es noch zwei bis drei Legislaturperioden braucht, bis eine Generation jüngerer Politiker ans Ruder kommt, deren Wertesystem und Stil nicht in der Zeit der kommunistischen „Normalisierung“ geschmiedet wurden.

Das Interview führte Klára Bulantová
Übersetzung: Christian Rühmkorf

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Oktober 2013

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