„Die BRD ist genauso untergegangen wie die DDR“

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Der aus Bad Godesberg stammende Schriftsteller und Radiomoderator Carsten Otte zog als Student direkt nach der Wende in den Ostberliner Arbeiterbezirk Oberschöneweide. Foto: © Hartmuth Schröder

Der aus Bad Godesberg stammende Schriftsteller und Radiomoderator Carsten Otte zog als Student direkt nach der Wende in den Ostberliner Arbeiterbezirk Oberschöneweide, im Volksmund Schweineöde genannt. So hieß dann auch Carsten Ottes Romandebüt, mit dem er vor zehn Jahren debütierte und das gerade neu als E-Book erschienen ist: „Ein literarischer Amoklauf gegen Ostkitsch und gefühlsduselige Wenderomane.“ Sein parodistisch überzeichneter und aus dem Westen stammender Held Kuballa begreift darin die Ex-DDR als Abenteuerspielplatz und Erlebnispark. Heute lebt Carsten Otte in Baden-Baden. Wie sieht er Ost und West? Damals und heute?

Dein Roman „Schweineöde“ ist ein satirischer Paukenschlag – er erzählt aus der Perspektive eines jungen, in einem Bonner Luxusrestaurant aufgewachsenenErben und Pseudo-Journalisten, den es kurz nach dem Fall der Mauer nach Oberschöneweide verschlägt und der dort schließlich im Wahn eine Art Privat-Stasi inszeniert. Wie kam die Geschichte im Osten und wie im Westen an?

Von der Westpresse gab es viel Lob und selbst das Neue Deutschland schien amüsiert, doch die SUPERillu schrieb: „Ottes Roman ist bizarr und boshaft, aber niemals langweilig.“ Das bescherte mir dann einige Fernsehauftritte in Talkshows. Dem Buch half es. Bei den ersten Lesungen in Ostdeutschland gab es aber mächtig Stunk. Immer nach dem Motto: Was mischt sich der Wessi in unsere inneren Angelegenheiten ein? Ich erinnere mich noch gut an Lesungen, bei denen in der ersten Reihe ehemalige Stasi-Offiziere saßen. Die haben sich auch als solche zu erkennen gegeben. Lustigerweise gab es im Publikum aber immer auch Fans, die sich dann mit den Spitzel-Greisen gefetzt haben. Ich habe dann auf dem Podium gesessen und den Streit unter den Gästen amüsiert und stillschweigend verfolgt.

© Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2004Die Geschichte ist von deinen eigenen, studentischen Erfahrungen in Oberschöneweide inspiriert. Was hat dich damals kurz nach der Wende in den Osten gezogen?

In Westberlin fanden ein Freund und ich im Wintersemester 1991/92 auf die Schnelle keine Wohnung, und im Grunde wollten wir da auch nicht hin. Wir haben uns dann für Berlin-Oberschöneweide entschieden. Einen Bezirk, den damals alle Oberschweineöde nannten. Das gefiel uns. Es war auch nicht schwer, dort eine Wohnung zu finden. So viele standen in dem heruntergekommenen Bezirk leer. Wir waren die ersten Wessis, die freiwillig dorthin zogen. Sechzig Mark für eine Zweiraumwohnung – das war unschlagbar. Unsere Eltern waren verstört von dem maroden Örtchen. Und unsere Nachbarn wunderten sich ebenfalls, was uns antrieb. Wir haben es dort fast vier Jahre ausgehalten. Und ich konnte meinen ersten Roman schreiben.

Was war dein Eindruck damals: Wer hatte mehr gemeinsam: Wessis und Österreicher oder Ossis und Wessis?

Wessis und Österreicher hatten damals definitiv mehr gemeinsam, jedenfalls in meiner Generation. Wir waren geprägt von einer sozialen Marktwirtschaft, von einer Gesellschaft im politischen Stillstand. Der Zoni war uns fremd. Deshalb waren wir auch so neugierig. Interessanterweise waren die meisten Ostdeutschen nicht wirklich neugierig auf unsere Westbiographien. Auf irgendwelche Statussymbole des Westens vielleicht, aber auf die inneren Widersprüche, auf die Schönheiten und Krassheiten der alten Bundesrepublik nicht. Ich bin damals durch den Osten getourt und habe mir jede Stadt angesehen. Ich glaube, die Ossis in meinem Alter sind eher nicht nach Westfalen oder Norddeutschland gefahren. Ich war auch 1992 auf Hiddensee und habe all die Ostkreativen dort gefragt, ob sie mal auf Sylt gewesen seien:Nö, warum auch? Wir Westdeutschen in Berlin hatten ein durchaus gebrochenes Verhältnis zur alten Heimat. Eine Westalgie konnte bei uns jedenfalls nicht aufkommen. Und so war uns die wachsende Ostalgie auch ziemlich fremd.

Gab es denn echte Mentalitätsunterschiede?

Ich würde behaupten: Ein vollkommen anderes Verhältnis zu Humor und Selbstkritik. Wir jungen Wessis haben selbstverständlich über unsere Westvergangenheit gelästert. Wenn mir ein Ossi gesagt hat: Euer kapitalistischer Westen war vollkommen verrottet, habe ich geantwortet: Ja, das stimmt, aber das konnten wir auch genau so sagen, ohne in den Knast zu wandern. Und wenn ich über ostdeutsche Identitätsmuster und das elende Biographie-Gejammer hergezogen bin, waren meine Zonenfreunde beleidigt. Die himmelschreiende Naivität, der ich im Osten Mitte der Neunziger Jahre begegnet bin, hat mich schockiert.

Was ist dein Eindruck vom „Osten“ heute?

Ostdeutschland wird immer mehr zu einer geographischen Zuschreibung. Die kulturelle Differenz ebnet sich ein. Wenn es Animositäten zwischen Ost und West gibt, dann vor allem deshalb, weil sich die Menschen so ähnlich sind. Ökonomische und soziale Differenzen in Deutschland gibt es heute vor allem im Nord-Südgefälle und im Unterschied von Stadt und Land. Ich habe 2009 noch einmal in Oberschöneweide aus Schweineöde gelesen. Die Veranstaltung wurde auch im Radio übertragen, vielleicht weil alle dachten, da gibt es wieder einen Skandal. Gab es aber nicht. Die Reaktionen sowohl vor Ort als auch on Air waren vollkommen anders als damals, als der Roman erschien. Vor zehn Jahren war die Geschichte eines Wessis, der die Schweineöde sucht, um dort die alte DDR wiederaufleben zu lassen, der aus der Ostalgie einen bösen Witz macht, noch eine Provokation. Heute können die Ossis, die es als soziales Konstrukt im Grunde kaum noch gibt, auch darüber lachen.

Der Historiker Achim Engelberg behauptet: „Die Revolutionsepoche, in der das Ende der Berliner Mauer ein wichtiger Knoten- und Wendepunkt ist, ist noch nicht zu Ende. Ob wir einen demokratischen oder diktatorischen digitalen Kapitalismus bekommen, bleibt zumindest so offen wie während der Teilung die deutsche Frage.“ Welcher BRD-Vision neigst du zu?

Die BRD, so wie ich sie kennengelernt habe, ist genauso untergegangen wie die DDR, und in beiden Fällen war das eine insgesamt erfreuliche Entwicklung. Deshalb verwende ich die Abkürzung BRD auch nicht mehr. Sie erinnert mich an vergangene Zeiten, die ich mir nicht mehr herbeiwünsche. Weil ich aber gesehen habe, dass gesellschaftliche Umbrüche nicht zwangsläufig in Chaos, Mord und Totschlag, Bürgerkrieg oder Diktatur enden müssen, sondern im Gegenteil ein neuer Staat mit neuen gesellschaftlichen Elementen und Prägungen entsteht, der viele Vorzüge hat, in diesem Fall die Berliner Republik, bin ich weiterhin sehr optimistisch: Selbst wenn es immer die Gefahr von antidemokratischen Tendenzen gibt, mögen sie aus der Wirtschaft oder aufgrund neuer Techniken kommen, heißt das noch lange nicht, dass der Weg vorgezeichnet ist.

Das Neue Deutschland ist eine überregionale Tageszeitung mit Leserschwerpunkt Ostdeutschland. Die Zeitung mit Sitz in Berlin versteht sich als „sozialistische Tageszeitung“. Von 1946 bis 1989 war die Zeitung in der DDR das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Quelle: wikipedia
SUPERillu ist eine deutsche Wochenzeitschrift der, die vor allem in Ostdeutschland eine große Reichweite hat. SUPERillu versteht sich als Familienillustrierte mit einem breiten Spektrum zwischen Ratgeber-, Unterhaltungs-, Politik- und Wirtschaftsthemen. Themen zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und der Entwicklung der deutschen Einheit spielen für die Redaktion eine besonders große Rolle. Quelle: wikipedia
Der Begriff Zoni wird als ironische bis beleidigende Bezeichnung für (ehemalige) DDR-Bürger verwendet.
Das Interview führte Maike Wetzel.

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014

Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

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