Länderspezifische Situation: Litauen

Länderspezifische Situation: Litauen | Going Public | © colourbox.com
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In den letzten zwanzig Jahren hat es in Vilnius eine Reihe von Änderungen gegeben: Änderungen der Oberflächen, der funktionellen Geographie, Identität und urbanen Dynamik. Diese Entwicklung hängt in erster Linie mit der Privatisierung von Immobilien Anfang der 1990er-Jahre zusammen. Während damals das gesellschaftliche Leben überwiegend auf den Straßen und in den Höfen erfolgte, spielt es sich heute in der kommerziellen Zone – in Geschäften, Cafés, Einkaufszentren und deren Umgebung – ab.

Die Altstadt und das Zentrum von Vilnius haben etwa ein Drittel ihrer Bewohner verloren. Bis in die 1990er-Jahre hinein waren es dicht angesiedelte Stadtteile, aber später wurden hier die Erdgeschosse und häufig die ganzen Gebäude kommerziellen und administrativen Strukturen übergeben. Von nun an hängt die Dynamik der Straßen, Plätze, Höfe und Parks von den Öffnungszeiten der Büros, Geschäfte und Cafés, aber nicht mehr von den Gewohnheiten und dem Alltagsleben der Bewohner ab. Die Einwohner anderer Stadtbezirke kamen früher ins Zentrum, um zu arbeiten, einzukaufen, ins Kino oder Theater zu gehen, die hier wohnenden Freunde zu besuchen oder einfach am zentralen Gediminas-Prospekt spazieren zu gehen. Hier gab es einige Bars, Restaurants und Cafés, die ziemlich früh schlossen. Im Stadtzentrum gab es dagegen viele Anlagen zur öffentlichen Erholung: Bänke, Springbrunnen, Kioske, größere Stadien und Open-Air-Eisbahnen im Winter. Viele Arten öffentlicher Unterhaltung sind in den letzten Jahrzehnten verschwunden, ganze Plätze und Parks wurden außer Betrieb gesetzt. Neue Formen der Unterhaltung sind hingegen kommerzieller geworden und werden stärker kontrolliert. Sie werden darüber hinaus in geschlossene Räume verlagert. So sind etwa Geschäfte und Restaurants mit Spielplätzen für Kinder ausgestattet, in Einkaufspassagen stehen Bänke und Laternen, in Cafés finden Ausstellungen statt.

Das Publikum des zentralen öffentlichen Raumes von Vilnius hat sich ebenso verändert. Jetzt sind es seltener Kinder und Rentner, sondern eher konsumorientierte Menschen. Gleichzeitig finden viele Jugendliche neue Anwendungsmöglichkeiten des vorhandenen öffentlichen Raumes: Skater nutzen neue Oberflächen von Bänken und Plätzen, man isst und redet in kleineren Parks oder am Flussufer, Parcour-Liebhaber erforschen unterschiedliche Oberflächen von neuen Einkaufszentren und Hotels.

Wachsende Touristenzahlen sind ein weiterer Grund für die grundlegenden Änderungen im öffentlichen Raum des Stadtzentrums. Um Touristen anzulocken, musste die Verwaltung von Vilnius attraktive Marketingstrategien für die Stadt selbst und ihre touristische Infrastruktur entwickeln. Das Bild der Vilniusser Altstadt bestimmen zurzeit Souvenirläden, Hotels und Bars, die auf Touristen ausgerichtet sind und internationalen Ketten angehören. Vilnius wird den Touristen als Barockstadt präsentiert, während die meisten Souvenirläden Waren aus Bernstein und Leinen anbieten. Die Entwicklung der Altstadt orientiert sich also vor allem an Bedürfnissen von Touristen, die zur mittleren Klasse gehören und deren Konsumniveau ziemlich hoch ist.

Ein weiteres Problem bilden die leer stehenden Bauten der sowjetischen Moderne, die aktuellen Bedürfnissen nicht mehr entsprechen und an neue Verhältnisse angepasst werden müssen. Dazu gehören vorbildhafte modernistische Projekte im Zentrum von Vilnius, wie zum Beispiel der ehemalige Leninplatz, das Žalgiris-Stadion, der Sport- und Kulturpalast, die heute wie Gespenster dastehen.

In den letzten fünf Jahren verstärkte sich deutlich die öffentliche Diskussion über städtebauliche Entwicklungen in der Stadt, Kommerzialisierung von Raum und negative Folgen einer übereilten Stadtplanung. Es entstanden einige neue Kulturinitiativen zur besseren Nutzung des öffentlichen Raumes (zum Beispiel „Burbuliatorius/Bubble the City“ am ehemaligen Leninplatz, die Plattform „KultFlux“ am Ufer des Flusses Neris, die ständige Ausstellung in der Literatu-Straße, die Open-Air-Filmvorführungen der Initiative „Meno avilys“, Design- und Kunstobjekte im öffentlichen Raum etc.). Viele davon entstanden im Rahmen des Programms „Vilnius – Europäische Kulturhauptstadt 2009“, das sich an Projekten, die auf der Stadtforschung basieren, orientiert.
Ūla Tornau
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