13. Juni 2017
Deutscher Nationalpreis 2017 an Rafal Dutkiewicz

Laudatio des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann

Anrede

Ende Januar 1945 verließ ich mit meiner Mutter als Vierjähriger meine Geburtsstadt Breslau. Nur dem Umstand, dass mein Großvater Lokführer war und uns ohne Erlaubnis mit dem bis zum Bersten überfüllten Zug nach Westen fuhr, verdankten wir die rettende Flucht.  

Bis dahin war die schlesische Metropole mit ihren 600 000 Einwohnern weitgehend unversehrt geblieben. Inzwischen war sie aber für die Bomberstaffeln der Alliierten erreichbar und das Leben vollzog sich nun zwischen Luftschutzkellern und kurzen Aufenthalten in der Wohnung. Breslau stand in Flammen. Der Ring der Roten Armee schloss sich um die zur Festung erklärte Stadt. Die Stadt und ihre Menschen waren zum Tod verurteilt. Zu Kriegsende gehörte sie – vergleichsweise mit Dresden – zu den im Krieg am meisten zerstörten Städten. Viele starben auf der viel zu späten Flucht in einem bitterkalten Winter, Zigtausende fielen während der Belagerung, die restlichen 200 000 Menschen wurden von den polnischen Behörden vertrieben.

Über Jahrhunderte lebten hier Deutsche, Polen und Juden gemeinsam unter wechselnder Herrschaft. Breslau war im frühen Mittelalter polnisch, später böhmisch, österreichisch, preußisch, dann reichsdeutsch. In den letzten Jahrhunderten war es eine deutsche Stadt. Jetzt wurde aus Breslau Wroclaw, in die Ruinenstadt zogen Polen aus Ost- und Zentralpolen, eine überwiegend dörfliche Bevölkerung. Viele Neubreslauer saßen jahrelang unruhig auf gepackten Koffern, weil sie das Gefühl der Vorläufigkeit hatten und dem Beschluss der Siegermächte nicht trauten.

Heute – mehr als 70 Jahre nach Kriegsende – ist Breslau wieder eine blühende Stadt. Mit 650 000 Einwohnern, davon 140 000 Studenten, ist sie die viertgrößte polnische Stadt und die Nummer zwei als Wirtschaftsstandort. Die alte Stadt mit einer jungen Bevölkerung hat Zukunft. Ihre Lage – genau in der Mitte zwischen Warschau und Berlin gelegen – hilft ihr sowohl in der wirtschaftlichen als auch in der kulturellen Entwicklung. 2016 gestaltete sie erfolgreich das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt.

Es war auch das Jahr, in dem auf ein Vierteljahrhundert „Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von Polen und Deutschland“ gefeiert werden konnte. Angesichts der an dunklen Kapiteln nicht armen deutsch-polnischen Vergangenheit ist das keine Selbstverständlichkeit. Gerade die stärker werdenden nationalistischen Tendenzen der derzeitigen polnischen Regierungspolitik sorgen für Verunsicherungen.  Es sollte uns deshalb ein besonderer Ansporn sein, den kostbaren Schatz unserer guten Beziehungen auch in der Zukunft zu hüten und zu pflegen und uns auch durch aktuelle Entwicklungen nicht irritieren zu lassen. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind für beide Seiten von herausgehobener Bedeutung und die vertraglichen Regelungen sehen dichte Konsultationen vor, die ein gutes Fundament bieten können. Allein im Jahr 2016 gab es über 200 hochrangige Treffen auf Regierungsebene. Der letzte bilaterale Besuch der Bundeskanzlerin in Warschau im Februar 2017 fand in Polen große Beachtung. Und es gehört zu den Selbstverständlichkeiten, dass die jeweiligen Außenminister wenige Tage nach ihrem Amtsantritt ihren offiziellen Besuch im Nachbarland machten. Deutsch-Polnisches Jugendwerk, Städtepartnerschaften und Zusammenarbeit zwischen Bundesländern und Woiwodschaften eröffnen Chancen für Begegnungen und Erfahrungsaustausch. Sie zu nutzen ist essentiell, denn bloße Nachbarschaft ist kein Wert an sich, Nachbarschaft will gepflegt werden.

Verträge werden dann mit Leben erfüllt, wenn Menschen sich für eine vitale Ausgestaltung einsetzen, Prozesse in Gang setzen, Begegnungen und Dialoge ermöglichen, Grenzen nicht als Barrieren sondern als Übergänge sehen und durch Pragmatismus Gemeinsamkeiten schaffen.

Ein solcher Brückenbauer für die deutsch-polnischen Beziehungen mit der gleichzeitigen Einbettung beider Länder in ein offenes Europa ist Rafal Dutkiewicz. Besonders als Stadtpräsident von Wroclaw hat er sich seit 2002 durch vielfältige Initiativen und Entscheidungen für die Erinnerung an die unterschiedlichen Facetten der Stadtgeschichte mit einer eigene Identität und einer europäischen Zukunft eingesetzt. Er ist der erste Stadtpräsident, der 2002 in direkter Wahl sein Mandat erhielt. Im November 2014 erhielt er das Vertrauen der Bevölkerung zum vierten Mal in Folge mit jeweils beeindruckender Mehrheit.

Als Dutkiewicz (1959) sein politisches Engagement begann, ging es noch darum, der Demokratie in seinem Heimatland Polen zum Durchbruch zu verhelfen. Der promovierte Mathematiker und Philosoph war während der 1980er Jahre im Untergrund der Breslauer Oppositionsbewegung aktiv. 1989 war er Sekretär des Bürgerkomitees Solidarnosc und 1990 dessen Vorsitzender. So trug er schon früh zu den Entwicklungen bei, in deren Folge 1989 auch die Berliner Mauer fallen sollte. Als Stipendiat des Katholischen Akademischen Austauschdienstes studierte er 1990 ein Jahr in Freiburg. Die damals geschlossenen Freundschaften wirken bis heute fort. Sein Deutsch ist übrigens hervorragend.

Für Dutkiewicz ist der Brief der katholischen Bischöfe in Polen, unter dem Vorsitz von Kardinal Boleslaw Kominek, an die deutsche Bischofskonferenz im Jahre 1965 eine Leitlinie für Versöhnung. Zwei Sätze will ich daraus zitieren: „Wir (…) gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“.  Zu der damaligen Zeit war eine solche Position eine Sensation. Damit begann die deutsch-polnische Aussöhnung. Schon 1962 verfassten deutsche Protestanten, unter ihnen von Weizsäcker, im Tübinger Memorandum einen Aufruf zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, 1968 erschien die Denkschrift namhafter deutscher Katholiken.
Wir alle erinnern uns an das Bild vom Kniefall von Willy Brandt 1970 vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau, in dessen Kontext es auch um die Anerkennung der Westgrenze Polens ging. Aber erst 1990 kam es zur Unterzeichnung des Grenzvertrages zwischen dem vereinigten Deutschland und Polen.

Der zweite Satz aus dem Hirtenbrief betrifft unsere europäische Zukunft, sehr hellsichtig formuliert und von Dutkiewicz immer wieder zitiert: „Europa ist die Zukunft. Nationalismen sind von gestern.“

Anlässlich des 40. Jahrestages des Hirtenbriefes wurde 2005 in Wroclaw/ Breslau durch die Initiative von Dutkiewicz ein Denkmal von Kardinal Kominek enthüllt und 2015 entstand eine Ausstellung „Verzeihung und Versöhnung. Kardinal Kominek. Der unbekannte Vater Europas“. Sie wird bis 2017 in Rom, Berlin, Breslau und Brüssel gezeigt.

Rafal Dutkiewicz glaubt an die Zukunft der Erinnerung. Deshalb hat er auch im Gegensatz zu der polnischen Politik der Nationalisten und Kommunisten, die in einer waghalsigen und rabiaten Polonisierung alles ausgelöscht und tabuisiert haben, was nicht in das Bild einer ethnisch legitimierten Kontinuität passte, die Geschichte Breslaus als Ganzes angenommen und trennt sie nicht nach Nationen. Die Einseitigkeiten, Unterschlagungen und Verfälschungen einer propagandistischen „Entdeutschung“ konnten nicht zur gewünschten Legitimität führen sondern förderten ein schizophrenes Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart.

Breslau sei eine offene Stadt, die allen gehören solle, die dort gewohnt haben, sagte Dutkiewicz unlängst in einem Interview im Deutschlandradio Kultur. Diese Offenheit müsse bewusst erlebt werden. Erst seit der Zeit der Solidarnosc-Bewegung habe man begonnen, die Geschichte der Stadt mit all ihren Facetten und ihren zeitlichen Schichten zu akzeptieren und daraus eine eigene Identität abzuleiten. Auch der EU-Beitritt Polens 2004 sei ein wichtiger Schritt in diesem Prozess gewesen.

Solchen und ähnlichen Aussagen folgen auch konkrete Handlungen. So wurde unter Dutkiewicz Präsidentschaft 2008 auf dem ehemaligen Friedhofsgelände des Breslauer Grabiszynski-Parks das „Denkmal des gemeinsamen Gedenkens“ eröffnet. Es erinnert an Breslauer, deren Gräber nach 1945 beseitigt wurden. Etwa ein Dutzend von der Stadt Wroclaw zurückgekaufte Grabsteine der vernichteten Friedhöfe repräsentieren in diesem 60 Meter breiten Denkmal gemeinsam die katholischen, evangelischen, kommunalen und jüdischen Friedhöfe des alten Breslau. Es ist auch für mich ein Ort des Gedenkens geworden.

2010 wurde die Restaurierung der 1829 eröffneten Synagoge zum Weißen Storch erfolgreich abgeschlossen, als Ort für offene Begegnungen, Toleranz und interkulturellen Dialog. 2011 konnte die von Max Berg 1913 fertiggestellte Jahrhunderthalle wieder vollkommen renoviert werden. Zur Würdigung Breslauer Architekten, wie Heinrich Lauterbach, Ernst May, Hans Poelzig, Max Berg und Hans Scharoun, wurde gegen nationalistische Stimmen Straßen in Breslau nach ihnen benannt. Zur Erinnerung an den in Breslau geborenen Fritz Stern rief der Stadtpräsident 2009 mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung die Fritz Stern Professur ins Leben. Die Beispiele seiner Initiativen lassen sich fortsetzen.

Unter den vielfältigen Initiativen verdient vor allem die erfolgreiche Bewerbung um den Titel der europäischen Hauptstadt 2016 eine besondere Hervorhebung. Die deutsch-polnische Annäherung nahm dabei eine zentrale Rolle neben der europäischen Dimension ein. Die Stadt zeigte ihre kulturelle Vielfalt und Qualität in beeindruckender Weise über ein ganzes Jahr.

Dazu gehörte auch die Wiederbelebung der Bahnstrecke Berlin Breslau mit einem speziellen Kulturzug, den mehr als 20 000 Fahrgäste  an den Wochenenden nutzten. Fünf Stunden zuckelte er gemächlich durch die schlesische Landschaft, ein Kulturprogramm sorgte für Kurzweil während der Fahrt. Wenn ich mir nach dieser Erfahrung etwas wünschen dürfte, dann wäre es eine ständige Schnellverbindung zwischen Breslau und Berlin, zwei Stunden mit dem ICE. So wie Breslau im 19. und frühen 20. Jahrhundert Berlin mit seinen Ideen und Menschen bereichert hat, so könnten heute die Beziehungen durch das polnische Breslau belebt und inspiriert werden.

Auch die Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut war ein großer Gewinn für beide Seiten.  Gemeinsam mit dem Stadtpräsident konnte ich das vielfältige Kulturprogramm mit deutlich europäischer Akzentuierung  am 17. Juni 2016 eröffnen. Drei Monate lang war der Glaspavillon am Neumarkt eine großartige Attraktion für das Publikum. Man spürte, die begrenzte Zeit als europäische Kulturhauptstadt öffnete den Blick für mehr und andauernde Beziehungen.

Überhaupt beruht der Kultur- und Bildungsaustausch zwischen beiden Ländern auf einem dichten Netzwerk zivilgesellschaftlicher Einrichtungen. Es im deutsch-polnischen Kulturabkommen explizit festgelegt und abgesichert. Nirgendwo in der Welt lernen so viel Menschen Deutsch wie in Polen. Allein über 2 Millionen Schülerinnen und Schüler lernen Deutsch. 108 polnische Schulen sind Partnerschulen Deutschlands. Der DAAD hat bis 2015 mehr als 70 000 polnische und 27 000 deutsche Wissenschaftler gefördert.

Diese Bemühungen tragen auch in Breslau sichtbar Früchte, zum Beispiel mit der blühenden Germanistik der Breslauer Universität oder in den zahlreichen Schulen, an denen Deutsch unterrichtet wird. Die Nationalstiftung hat seit 2002 das  Jugendprojekt „Schulbrücken“ für polnische, französische und deutsche Schülerinnen und Schüler gefördert.  Das 2002 in Wroclaw gegründete Willy Brandt-Zentrum ist eines der wichtigsten Forschungseinrichtungen zu Deutschland in Polen. Viele deutsche Unternehmen sind bereits in und um Wroclaw ansässig.

Unter Stadtpräsident Dutkiewicz begann ein reger Austausch zwischen dem Abgeordnetenhaus von Berlin und dem Stadtrat von Wroclaw. Auch die Städtepartnerschaften zu Wiesbaden und Dresden erfüllt er mit Leben. Ein intensiver Austausch ist zudem mit der Stadt Oldenburg in diesem Jahr geplant, wohin viele Vertriebene aus Breslau und dem niederschlesischen Umland nach dem 2. Weltkrieg zogen.

Überhaupt wurde Rafal Dutkiewicz für sein vielseitiges Engagement mehrfach ausgezeichnet, mit hohen polnischen Orden 2006 und 2009, mit belgischen, italienischen, schwedischen und französischen Ehrungen.

Für mich bedeutet es viel, dass ich die Laudatio anlässlich der Verleihung des Deutschen Nationalpreises halten darf. Es ist ein großer Bogen von der Flucht des kleinen Jungen aus Breslau zu der erlebten Versöhnung mit Wroclaw. Die fremde Stadt ist mir wieder vertraut, durch Geschichten, Erinnerungen und Begegnungen,  zur Universität als Mitglied der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Universität Wroclaw, zu den Museen über Maciej Lagiewski, dem Direktor des Städtischen Museums, den ich noch zu meiner Zeit als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Leihgaben für seine großartige Dauerausstellung „1000 Jahre Breslau“ im renovierten preußischen Königsschloss unterstützen konnte – zunächst eine geschichtspolitische Provokation, die aber vom gewachsenen Selbstbewusstsein zeugt -, zur neuen jüdischen Gemeinde, die als Teil der eigenen Stadtgeschichte jetzt noch einmal in der bewegenden Filmdokumentation „Wir sind Juden aus Breslau“ in Erinnerung ruft, welch bedeutendes Zentrum des jüdischen Lebens Breslau war, mit Namen wie Alfred Kerr, Paul Cassirer, Fritz Haber, Ignatz Bubis oder Fritz Stern, der erst vor kurzem in New York gestorben ist und mit dem ich viel über Deutschland und auch über Breslau sprechen konnte. Die Deutsche Nationalstiftung hat 2005 die Fritz Stern-Kurzzeitstipendien für junge polnische und deutsche Historikerinnen und Historiker eingerichtet und seitdem mit 75 000 Euro unterstützt.

Es ist eine wichtige Erfahrung, dass die mentalen und sozialen Prozesse einer solchen dramatischen Veränderung in der Folge des 2.Weltkrieges nicht durch Geschichtsklitterung sondern nur durch Offenheit und Verantwortung gelöst werden können. Es ist nicht Symbolpolitik, was in Breslau geschehen ist, es ist Realität, dass man sich zur Geschichte in ihren verschiedenen Zugehörigkeiten als gemeinsame Überlieferung bekennt. Es ist entscheidend, dass Menschen sich dieser Verantwortung stellen und der Erinnerung eine Zukunft geben. Rafal Dutkiewicz ist einer davon. Und er hat die Souveränität, die komplizierte und wechselhafte Geschichte anzuerkennen und durch praktisches Handeln zu vermitteln. Er ist mir durch die enge Zusammenarbeit der letzten Jahre ein enger Weggefährte geworden, sowohl für die deutsch-polnischen Beziehungen als auch im politischen Verständnis für ein zukunftsfähiges Europa.

Ich gratuliere herzlich zum Deutschen Nationalpreis!

Es gilt das gesprochene Wort.
 

 
 

Top