28. August 2017
Verleihung der Goethe-Medaille 2017

Begrüßung durch den Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann

Anrede

Als das Ergebnis der diesjährigen Kommissionssitzung zur Verleihung der Goethe-Medaille vorlag, wies es drei Preisträgerinnen und drei Laudatorinnen aus. Ausschließlich Frauen! Das war weder unsere Vorgabe noch war es unser erklärtes Ziel, aber es wurde nach den gut begründeten Argumenten zu unser aller Überzeugung. Und wir sind als Jury froh und glücklich über dieses wegweisende Ergebnis.

Ich begrüße mit großer Freude die zu Ehrenden und ihre jeweiligen Laudatorinnen:
- Urvashi Butalia, Verlegerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin aus Indien. Die Laudatio hält Christa Wichterich. Ihnen ein herzliches Willkommen in Weimar.
- Emily Nasrallah, Schriftstellerin aus dem Libanon. Die Laudatio hält Emily Dische-Becker. Wir begrüßen sie beide im Stadtschloss Weimar.
- Irina Scherbakowa, Historikerin, Autorin und Bürgerrechtlerin aus Russland. Die Laudatio hält Marianne Birthler. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen zu unserem heutigen Festakt.

Alle drei Preisträgerinnen haben ihren ganz eigenen Lebensverlauf und ihre kulturelle Prägung, alle drei kommen aus ganz unterschiedlichen Weltregionen – und doch eint sie eine gemeinsame Grundüberzeugung: der Kampf gegen Ungleichbehandlung und für Menschenrechte, gegen Gewalt und für Gleichberechtigung und freie Entfaltung, gegen Repression und für Emanzipation.

Ihre Waffe ist die Sprache! Sie wollen den stumm gemachten und vergessenen Menschen eine Stimme geben. Das ist der Fokus der diesjährigen Auszeichnung, Sprache als Schlüssel für gesellschaftliche Entwicklungen. Dabei bildet  die Diskriminierung von Frauen einen besonderen Schwerpunkt ihrer Aufklärungsarbeit.

Armut in der Welt ist zu zwei Dritteln weiblich. Die Behinderung beim Zugang zur Bildung ist eklatant. Weltweit gehen 130 Millionen Mädchen nicht zur Schule. Doppelt so viele Mädchen wie Jungen werden niemals eingeschult. Umgekehrt erledigen Frauen - statistisch berechnet – zwei Drittel aller Arbeit, die weltweit geleistet wird,  erzielen aber nur 10% des Einkommens und verfügen über 1% des weltweiten Vermögens. Gerade weil es oft die Frauen sind, die das Leben in Armut noch ermöglichen, Krisen zu bewältigen helfen, vorbeugend tätig sind, wertvolles Wissen an die Kinder weitergeben, ist der Zugang zu Bildung und damit die Erweiterung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und die Überwindung traditioneller Rollenbilder so entscheidend für eine zukunftsfähige Entwicklung. Auch wenn die Chancengleichheit und die gesellschaftliche Stellung der Frauen von Land zu Land dramatische Unterschiede aufweisen, so lässt sich als allgemeine Aussage formulieren: Es gibt weltweit kein Land, in dem die vollständige Gleichberechtigung von Frauen erreicht ist.

Unsere drei Preisträgerinnen setzen auf das Wort und die Freiheit und nutzen dafür ihre schriftstellerische Kraft. Damit verschaffen sie dem gesprochenen Wort durch die Form des dauerhaft verfügbaren gedruckten Textes den nötigen Resonanzboden und erreichen viele Menschen. Es ist derzeit viel von Fake News die Rede, die Verwirrung stiften, von Facebook und Twitter, die sich gegenseitig übertönen. Sprache kann vieles: sich verstehen und verständigen, Erkenntnisse vermitteln, aber auch Lügen verbreiten, Hass säen, laut und leise sein.

Umso entscheidender sind Persönlichkeiten, die nicht nur über das schriftstellerische Talent sondern auch über die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit verfügen. Sie zu ehren ist deshalb nicht nur eine persönliche Wertschätzung sondern auch eine Chance, diesen Mut und diese Kraft des Wortes durch eine konzentrierte öffentliche Aufmerksamkeit noch zu verstärken und die stumm gemachten Menschen oder Menschengruppen, die vergessen sind, wieder eine Stimme zu geben.

Es ist der Kern der Humanität, für den diese drei Frauen sich mutig und entschlossen einsetzen, dem sie ihr Leben widmen und bei dem sie sich jeden Tag aufs Neue gefährden. Ihre schriftstellerische Arbeit ist nicht nur Prosa, die vieles erfahrbar macht, sie enthält auch eine Botschaft: erinnert Euch, vergesst uns nicht, unterstützt uns.

Urvashi Butalia ist landesweit in Indien engagiert gegen Gewalt an Frauen, schon 1984 gründete sie den ersten feministischen Verlag, 2003 entstand der Verlag Zubaan, spezialisiert auf Literatur zu Frauenrechten. Sie setzt sich vehement ein für Minderheiten und unterstützt Frauengruppen in ihren spezifischen Anliegen. Sie engagiert sich darüber hinaus in internationalen Foren. Sie selbst bezeichnet sich trotz aller Angriffe und Einschüchterungen als Optimistin und hat nichts eingebüßt an Kampfgeist: „Wir indischen Frauen gehen keinen Schritt zurück. Wir sind in einer Umbruchstimmung. Es geht nur noch voran!“ Sie arbeitet sich buchstäblich ab an ihrer Heimat, an den alten Bräuchen und Riten, an Denkweisen, die sich in die Seele des Landes hineingefressen haben.

Christa Wichterich, die unsere Preisträgerin mit der Laudatio ehrt, ist als Hochschullehrerin (Soziologin), Publizistin und Entwicklungsexpertin mit den Frauenbewegungen und der Frauenarbeit besonders in Südasien, Südostasien und Südafrika gut vertraut. Sie weiß um die Wirkungslosigkeit von  Gesetzen gegen Gewalt und Vergewaltigung in Indien, wenn nicht zugleich die Komplizenschaft von Polizei und Patriarchat aufgebrochen wird, sie weiß um die Widersprüche von Emanzipation durch Erwerbstätigkeit, die einerseits Fortschritt bedeutet und andererseits zur Stärkung der Herrschaftssysteme genutzt werden kann. Frauen müssen nach ihrer Auffassung die Widersprüche erkennen und daraus die Alternativen entwickeln. Christa Wichterich sieht sich nicht als jemand, der sich einmischt, eher als jemand, der Solidarität mit solchen Kämpferinnen wie Urvashi Butalia übt.

Unsere nächste Preisträgerin ist Emily Nasrallah. Sie gehört wohl zu den bekanntesten Schriftstellerinnen der arabischen Welt. Ihr Roman Septembervögel ist nicht nur in der arabischen Welt ein Klassiker, er wurde in viele Sprachen übersetzt und international ein Erfolg. Ihr Thema war von Anfang an die Rolle der Frau in der arabischen Welt, der Kampf um Freiheit und Gleichheit, aber auch das Erleben des libanesischen Bürgerkriegs, mit Identitätsfragen und Migrationserfahrungen. Die Romane und Erzählungen wurden zu Hilferufen einer zerfallenden Gesellschaft. Die meisten ihrer Werke entstanden im Bombenhagel und beschreiben den Krieg nicht als heroische sondern als leidende Erfahrung. Alles was wir über den Krieg wissen, wird sonst von Männern erzählt. Emily Nasrallah schildert uns eindringlich aus Sicht der Frauen, die von einfachen Menschen handelt, die Unmenschliches erdulden müssen.

Den Krieg im Libanon hat auch ihre Laudatorin erlebt, Emily Dische-Becker, die von 2005 bis 2013 als freie Journalistin in Beirut gelebt hat. Aber sie kennt auch das herausgeputzte, modische Beirut, das Beirut, das eine große Lebensbejahung besitzt. Inzwischen lebt und arbeitet sie bevorzugt in New York und Berlin. Führende Zeitungen und Magazine veröffentlichen ihre Beiträge. Die Themenschwerpunkte sind die arabische Welt, Fragen der  Migration und der Identität. Auf der diesjährigen Berlinale gewann ihr koproduzierter Film „Street of Death“ den „AUDI Short Film Award“. Derzeit arbeitet sie intensiv daran, Künstler und Intellektuelle aus dem arabischen Raum mit Partnern in Europa zusammen zu bringen. Berlin ist dafür ihr Basislager.

Schließlich darf ich Ihnen Irina Scherbakowa vorstellen. Sie war 1988 Gründungsmitglied der ersten sowjetischen NGO „Memorial“ und kämpft seitdem unerschrocken für die Menschenrechte in Russland und für die Aufklärung der Opfer des Stalinismus. Erschwerend kommt hinzu, dass Memorial inzwischen auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt wurde. In zahlreichen Büchern publiziert sie ihre Forschungsergebnisse, die sie aus den Archiven des KGB und durch Interviews von Zeitzeugen gewinnt. Für Irina Scherbakowa ist Geschichte ihre Lebensaufgabe. Es ist aber nicht der distanzierte abstrakte Geschichtsbegriff, sondern die Erinnerungen individueller Schicksale der Kriegs- und Nachkriegszeit. Dieses Wissen vermittelt sie besonders den jungen Menschen. Sie sind bei allen niederschmetternden Erfahrungen dieser Zeit ihre Hoffnung. Dazu passt auch ihr Zitat: „Zu den wichtigsten Erfahrungen und Lehren meines  Lebens gehört der Fall der Berliner Mauer. Ich habe dieses Ereignis als ein großes Wunder begriffen, als eine große Befreiung für meine Generation. Es ist eine sehr wichtige Erfahrung, dass – auch wenn eine Diktatur den Eindruck erweckt, sie existiere ewig – Menschen die Verhältnisse ändern können und Mauern fallen. Das haben wir in der DDR 1989 erlebt und auch in Russland. Vielleicht kann man nachfolgenden Generationen versuchen zu vermitteln,  dass ein solch großer Umbruch zu jedermanns Lebzeiten geschehen kann.“

Marianne Birthler, die die Laudatio hält, ist ihre geistige Schwester. Ab Mitte der achtziger Jahre arbeitete sie in oppositionellen Gruppen und Friedensinitiativen in Berlin, begründete den Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ und sprach am 4. November 1989 für die Initiative Frieden und Menschenrechte auf dem Alexanderplatz. Sie engagierte sich nach der Wiedervereinigung für Bündnis 90/ Die Grünen und bekleidete bis 1992 ein Ministeramt in Brandenburg. Von 2000 bis 2011 war sie Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen und hat sich in unbestechlicher Weise bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur eingesetzt. Wie bei Irina Scherbakowa spielen Erinnerungen auch bei Marianne Birthler eine zentrale Rolle. In ihrem Buch „Halbes Land – Ganzes Land – Ganzes Leben“ teilt sie sie mit großer Offenheit mit der Leserschaft.

Für die Goethe-Institute in der Welt sind die Ehrungen heute nicht nur ein tagesaktuelles Ereignis. Es ist vielmehr ein bewusst gesetztes Signal für eine andauernde Verpflichtung, mit der Frauen in ihrem Streben nach Gleichbehandlung, in ihrem ungehinderten Zugang zu Bildung und in der Chance persönliche Freiräume zu gestalten, durch die Programmarbeit unterstützt werden. Es ist eine Auszeichnung, dass alle drei Preisträgerinnen sich über viele Jahre ihrem jeweiligen Goethe-Institut aktiv verbunden fühlen und die Möglichkeit genutzt haben, die Goethe-Institute als Frei- und Dialogräume bieten.

Die Goethe-Institute haben die Förderung von Frauen durch kulturelle und bildungspolitische Programme bewusst gestärkt. Das gilt für alle Formen künstlerischer Präsenz: Theater, Film, Tanz, Bildende Kunst, Literatur und Film. Workshops zur Ausbildung  und Talentförderung sollen besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern eigenständige und partizipative Strukturen ermöglichen, die nicht nur eine künstlerische sondern auch eine ökonomische Zukunft bieten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Künstlerinnen und Kulturakteure, die sichtbar in ihrer Wirkung sind, stabilisierend in Gesellschaften wirken können. Zugleich werden damit Diskussionen von Geschlechterrollen oder  von Gewalt gegen Frauen und Mädchen durch neue Erfahrungen und Ausdrucksmöglichkeiten initiiert. Unterstützend gibt es in vielen Ländern spezielle Film- und Theaterfestivals, die durch ihre Dichte und Emotionalität Lebenswirklichkeit künstlerisch eindrucksvoll vermitteln können.

Die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai sagte in ihrer Rede vor den Vereinten Nationen: „Ein Kind, ein Lehrer, ein Stift und ein Buch können die Welt verändern.“ Mädchen- und Frauenbildung durch Leseförderung und Wissenserwerb sind deshalb vielfach Programm der Goethe-Institute.

Aber auch die digitalen Medien spielen inzwischen für die Frauenförderung, besonders bei Mädchen, eine wichtige Rolle. „I am Science“ bietet digitale Lernangebote für mobile Endgeräte, sowohl für Grundwissen, für qualifizierte Handwerkerinnen, aber auch für die akademische Bildung im naturwissenschaftlichen Bereich, Schwerpunkt derzeit  Südafrika.

Es gibt zahlreiche bedeutende Frauen, die Afrikas Länder und Gesellschaften geprägt haben. Nur wenige von ihnen finden Eingang in weltweit bedeutende Wissensdatenbanken wie Wikipedia. Mit dem Projekt Wiki loves Women will WikiAfrica und das Goethe-Institut dieses Missverhältnis ändern und hat in vier afrikanischen Ländern (Elfenbeinküste, Kamerun, Nigeria und Ghana) 2016 begonnen, Beiträge von und über Frauen zu initiieren.

Das sind nur einige Anmerkungen, die bildungspolitische und künstlerische Ansätze für die Arbeit mit und für Frauen in der Welt zeigen, die eigenständige und kreative Entwicklungen befördern, neue Technologien nutzen und zu Netzwerkbildungen beitragen. Die Erwartungen an diese Initiativen sind groß.

Kurz einführen möchte ich Sie auch in das heutige Musikprogramm. Gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Transcultural Musical Studies an der Hochschule für Musik Franz Liszt hier in Weimar stellen wir Ihnen Musik mit einer Verbindung zu den Heimatländern unserer Preisträgerinnen vor. Kuratiert haben das Programm Christian Diemer und Prof. Tiago Oliveira Pinto, denen ich herzlich dafür danke.

Zuerst hören wir eine Improvisation für Stimme und Ney, der türkischen Längsflöte. Das Stück ist Urvashi Butalia gewidmet, denn die Musikerinnen Lydia Schulz und Valentina Bellanova ließen sich hierfür von der indischen Musiktradition der Improvisation und des oft nicht textlichen Gesangs anregen. Aus Atem- und Luftgeräusch materialisieren sich Töne, Gesten, Melodien und lassen die ganze Bandbreite der weiblichen Stimme hörbar werden.

Für „Hör gut zu, mein Liebling“ ließ sich Lydia Schulz durch das in der gesamten orientalischen Musikwelt bekannte Lied „Ana La Habibi” inspirieren. Komponiert von den Brüdern Rahbani, gelangte es in der Interpretation der Sängerin Fairuz aus dem Libanon – dem Heimatland von Emily Nasrallah – zu großer Popularität. Im heute zu hörenden Arrangement steht der Gesang im Vordergrund, mit dem die Erzählende dazu ermutigt, der eigenen inneren Stimme zu vertrauen. Kraftvoll begleitet wird sie vom LOMA-Ensemble bestehend aus Ney, Akustikbass, Oud und Percussion.

Zuletzt wird das zweite Klaviertrio E-MOLL OPUS 67 des sowjetischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch aus dem Jahre 1944 vom „Trio Marvin”, bestehend aus Violine, Klavier und Violoncello, vorgetragen. Dieses Stück ist unserer Preisträgerin Irina Scherbakowa gewidmet. Wie kaum ein anderer Komponist steht der mit dem Stalinpreis dekorierte und zugleich von Deportation bedrohte Dmitri Schostakowitsch für das widersprüchliche Ringen um künstlerische Entfaltung und Erfolg unter den Bedingungen eines totalitären Systems. Mit Musik ließe sich ausdrücken, wozu die Worte fehlen und worüber Schweigen unmöglich sei – so Victor Hugo und Schostakowitschs zweites Klaviertrio ist eine solch wortlose Klage, entstand es doch im Gedenken an einen verstorbenen Freund Schostakowitschs. Der Finalsatz der Komposition, die unter anderem Einflüsse des Klezmer aufweist, ist ein Meisterstück rhythmischer Rasanz und brillanter Satztechnik.

Ich möchte auch nicht versäumen, mich noch einmal ausdrücklich bei der Klassik Stiftung Weimar zu bedanken. Lieber Herr Seemann – einen passenderen, festlicheren und eindrucksvolleren Rahmen als das Stadtschloss Weimar könnten wir uns für die Verleihung der Goethe-Medaille kaum wünschen!
Gemeinsam mit dem Kunstfest Weimar hat das Goethe-Institut schon gestern ein Matinee zur Begegnung mit den drei diesjährigen Preisträgerinnen ermöglicht sowie zu einem Gespräch zwischen Irina Scherbakowa und den Osteuropaexperten Karl Schlögel zum Thema „Dialog in Zeiten der Sprachlosigkeit” eingeladen. Wir bedanken uns beim Kunstfest Weimar für die erneut ausgezeichnete Zusammenarbeit.

Und nun freue ich mich, das Wort an den Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt, Herrn Andreas Görgen zu übergeben. Bitte sehr, verehrter Herr Görgen!

Ihnen allen eine wunderbare Festveranstaltung und herzlichen Dank.

Es gilt das gesprochene Wort.
 

 
 

Top