28. Februar 2019
Ausstellung „Die Macht der Vervielfältigung“ in der Baumwollspinnerei Leipzig

Eröffnungsrede des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann

Anrede,
 
Es ist für mich eine große Freude, mit Ihnen heute hier in der Leipziger Baumwollspinnerei die Ausstellung „Die Macht der Vervielfältigung“ eröffnen zu dürfen.
 
Ich habe eine persönliche Beziehung zu dem Thema. Der eindringliche Geruch von Druckerschwärze, die Setzkästen, die Druckmaschinen oder Stempel begleiten mich seit meiner Kindheit, denn mein Vater war Schriftsetzer. Die Druckgrafik wiederum war in unserem Haus gegenwärtig. Meine Berufswahl, Bibliothekar zu werden, hat wohl auch damit zu tun.
 
Meine Familie war geteilt wie das Land. Immer in den Sommerferien oder zu den Buchmessen war ich zu Besuch in Leipzig. Das Geld des sogenannten Zwangsumtausches legte ich in Druckgrafik an. Ich kannte zahlreiche Künstler in dieser Zeit. Mit der Wiedervereinigung bekam ich den Auftrag, die Deutsche Bücherei Leipzig und die Deutsche Bibliothek Frankfurt zur Deutschen Nationalbibliothek zu vereinen. Ich habe es als große Chance begriffen und ich glaube, die Vereinigung ist ganz gut gelungen.
 
Von 1990 bis 1998 lebte ich in Leipzig. Meiner Passion Buchkunst und Druckgrafik konnte ich verstärkt nachgehen. Auch institutionell konnte ich einiges bewirken. Die Zukunft des Deutschen Buch- und Schriftmuseums war mir wichtig, ich engagierte mich für das Museum für Druckkunst, für das Haus des Buches und für die Buchmesse. Heute ist Leipzig wieder das europäische Zentrum für Druckgrafik. Mich begleitete das Thema nach meinem Wechsel nach Berlin weiter, denn zu meinem Verantwortungsbereich der Staatlichen Museen zu Berlin gehörte auch das Kupferstichkabinett.
 
Und es begleitet mich noch immer in meiner derzeitigen Position als Präsident der Goethe-Institute. Und zu Recht!
 
Auch wenn heute digitale Techniken sehr viel schneller, einfacher und umfassender arbeiten können, sind Holzschnitt, Radierung und Lithografie nicht verschwunden. Im Gegenteil, die Druckgrafik erlebt aktuell sowohl bei den etablierten als auch bei den jungen Künstlerinnen und Künstlern weltweit eine Renaissance. Kunstschaffende erfinden diese uralte Technik ständig neu, experimentieren mit digitalen Geräten und neuen Materialien wie Plotter, Vinyl, Latex, lichtempfindlichen Polymerschichten oder 3D-Computergrafik. So erweist sich die Druckgrafik als Experimentierfeld und Motor künstlerischer Innovation.
 
Neben dem Ergebnis ist es auch die Technik selbst, die eine große Bewunderung mit sich bringt. Zwischen Idee und Resultat liegt eine „Vermittlungsebene“, die von Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Druckverfahrens bestimmt wird - vielleicht ist dies gerade in den flüchtigen Zeiten, in denen wir leben, besonders anziehend. Darüber hinaus ist es der Anspruch der Druckgrafik, Kunst allen Menschen zugänglich zu machen. An vielen Orten gleichzeitig können so zum Beispiel Drucke ausgestellt werden, da sie preisgünstig vervielfältigbar sind: Der Druck multipliziert das künstlerische Werk und demokratisiert es, ohne dass es an Einzigartigkeit einbüßen müsste. Von dieser einhergehenden Demokratisierung der Kunst geht eine wahre Faszination aus.
 
Druckgrafik hat überall auf der Welt eine politische Funktion, das war in der brasilianischen Militärdiktatur so – wie die Siebdrucke von Regina Silveira aus den 1970er Jahren, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, belegen – aber auch und gerade in der DDR. Viele Künstler nutzen den Prozess des Druckens im weitesten Sinne, um politisch und ästhetisch neue Räume zu erschließen. Man denke nur an Georg Baselitz, Sigmar Polke, A. R. Penck, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Günther Uecker, Werner Tübke, Baldwin Zettl und andere. In der Druckgrafik lässt sich wie in keiner anderen Kunstsparte der Einfluss der politischen Ereignisse und der sozialen Verhältnisse ablesen.
 
Als ich 2015 das erste Mal in Porto Alegre war, der Stadt im Süden Brasiliens, erlebte ich erneut eine Art Erweckung über die Druckgrafik. Die Stadt war mir so vertraut durch ihre ungemein lebendige künstlerische Szene für Druckgrafik: Ateliers, Werkstätten, Künstlerkollektive, Galerien, Studiengänge an der Universität, Austauschprogramme. Ich war beeindruckt von der Ausstrahlung, der Leidenschaft und der Qualität und tauchte ein in Gespräche, Veranstaltungen und Werkprozesse.
 
Porto Alegre ist eine stark von der deutschen Immigration geprägte Stadt und bis heute eines der wichtigsten Zentren für Druckkunst. Es entstanden seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zahlreiche Lithographie-Werkstätten, viele von ihnen wurden von deutschen Einwanderern und ihren Nachkommen gegründet. In den 1950er Jahren gründeten Künstler in Rio Grande do Sul darüber hinaus sogenannte Druckclubs, in denen sie gemeinsam arbeiteten und unterrichteten und die über die brasilianischen Landesgrenzen hinaus eine Vorbildfunktion hatten. Der Anspruch lautete: Kunst fürs Volk.
 
Die Hallen am Hafen in Porto Alegre beherbergen nicht nur alte Druckmaschinen, zum Teil auch noch aus Deutschland, sondern sie sind seit über 30 Jahren ein lebendiger Ort, an dem Kurse und Ausstellungen stattfinden, Künstlerkollektive gemeinsam arbeiten und Messen für Grafikkunst und kleine unabhängige Verlage tausende von Leuten anziehen. Es ist ähnlich wie die Leipziger Baumwollspinnerei mit ihren hundert Künstlerateliers, elf Galerien oder Werkstätten, in der wir heute Abend zu Gast sein dürfen.
 
Als die Leiterin des Goethe-Instituts Frau Ludemann von ihrem Plan erzählte, einen Austausch von brasilianischen und deutschen Künstlerinnen und Künstlern zu organisieren, Workshops zu veranstalten und am Ende einer intensiven künstlerisch produktiven Auseinandersetzung eine Ausstellung in Deutschland zu ermöglichen, war ich Feuer und Flamme. Und uns war klar, Porto Alegre muss mit seiner Druckgrafik in Leipzig präsentiert werden. Hier ist nun die Ausstellung mit einem dreijährigen Vorlauf, der die Künstlerinnen und Künstler in einen gemeinsamen Schaffensprozess eingebunden hat.
 
Heute Abend können wir nun die Arbeiten der Beteiligten kennenlernen, die das Goethe-Institut zu Residenzen nach Porto Alegre eingeladen hat. Der Austausch zwischen Porto Alegre und anderen südamerikanischen Städten, in denen Druckgrafik eine lange Tradition hat, ist durch das vom Goethe-Institut initiierte Atelier-Netzwerk Druckgrafik gefördert worden. Um auch den Nachwuchs im Bereich Druckkunst zu fördern, schreibt das Goethe-Institut Porto Alegre seit 2016 einen landesweiten Wettbewerb aus.
 
Die Macht der Vervielfältigung zeigt sich in all den Initiativen, Residenzen und Ausstellungen, die im Vorfeld dieser großen Ausstellung mit einem exzellenten Katalog stattgefunden haben. Dass ein prägnanter Ausschnitt dieser kollektiven Anstrengung nicht nur in Porto Alegre, sondern auch in Leipzig zu sehen ist, der Stadt des Buchdrucks und Buchhandels und der Druckgrafik, erfüllt mich daher mit besonderer Freude. Es ist ein Gewinn für beide Seiten und ich bin sicher, die Arbeitskontakte werden fortgesetzt.
 
Vielen Dank!

Es gilt das gesprochene Wort!

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