Carlos Lamartine

Porträt von Carlos Lamartine
Susana Maria dos Santos © Goethe-Institut Angola

Carlos Lamartine, 78 Jahre, hat einen Abschluss in Pädagogik mit Fachgebiet Geschichte. Er ist ein großer Kenner des Ursprungs der Música Popular Angolana sowie eine ihrer bedeutendsten Figuren. Er sprach mit uns über die wichtigsten Familien dieser musikalischen Bewegung in der Provinz Luanda.

Von Raimundo Salvador und Arno Holl

Der Musiker José Carlos Lamartine Salvador dos Santo Costa wurde 1943 in einem Musseque (Slum) in der Stadt Benguela in einem Lehmhaus unter einem großen Baum geboren. Gemeinsam mit Verwandten aus seiner und nachfolgenden Generationen hat er die Geschichte der angolanischen Musik nachhaltig geprägt.

Seine Mutter beschreibt er als eine ausgesprochen liebenswürdige Frau mit dennoch widerspenstigem Charakter: „Sie war zänkisch, wenn sie meinte, recht zu haben, hat immer widersprochen. Außerdem trank sie gerne Bier, und dann wurde sie rebellisch.” Carlos‘ Vater war Postbeamter und kam dadurch viel herum. Das Priesterseminar hatte er aufgegeben und einen deutlich weltlicheren Weg eingeschlagen: Wo immer sein Beruf ihn hintrieb, suchte er sich Gesellschaft und zeugte Kinder. Diese zogen dann zu seiner offiziellen Ehefrau nach Luanda. Mit Carlos‘ Mutter hatte er fünf Kinder.

Im Jahr 1953 wurde der Vater nach Luanda versetzt und nahm Carlos und seine beiden Schwestern mit. Sie reisten in einem Boot namens „Colonial“, das später in einem Lied der Gruppe N‘gola Ritmos verewigt werden würde. In Luanda zogen sie in den sogenannten Bairro Indígena, ein neues Stadtviertel für schwarze Arbeiter und Beamte aus den unteren Schichten, die aus dem Zentrum der Stadt vertrieben worden waren. Die Lebensbedingungen waren einfach, aber der kleine Carlos aus dem kleinen, gemächlichen Benguela kämpfte mit den Eindrücken der Großstadt Luanda.

Das Viertel war voller Leben und interessanter Menschen: „Zu dieser Zeit traf ich im Bairro Indígena bekannte Personen wie Lopo do Nascimento, Aristides Van-Dúnem, Professor Mangueira, Gabriel Leitão, D. Madalena und andere einflussreiche Personen des damaligen Afrika. Das waren Leute, die dem Viertel Moral, Ethik und Widerstandsgeist gaben.”

Auch begegneten ihm dort viele Jugendliche von außergewöhnlicher Kreativität. Einige von ihnen sollten später zu einflussreichen Figuren werden, wie Tizinho Miranda, Círios Cordeiro da Matta, Fernando da Piedade oder Tonito, Bruder des aktuellen Kulturministers Jomo Fortunato. Ihr liebster Zeitvertreib war Fußballspielen und traditionelle Musik. Ein neues Vorbild, dem viele nacheiferten, war der mosambikanische Spieler Matateu vom Club Belenenses.

In der Schule hatte Carlos einige Schwierigkeiten. Nach den Gewalterfahrungen in einer katholischen Missionsschule besuchte er die Liga Nacional Africana und dann das Liceu Salvador Correia, wo auch die künftigen Präsidenten Angolas, Agostinho Neto und José Eduardo dos Santos, und der künftige Held des Befreiungskriegs José Mendes de Carvalho „Hoji Ya Henda“ zur Schule gingen. Aber auch in Carlos‘ Jahrgang gab es Schüler, die in die Geschichte des Landes eingehen sollten.

Die Jugendlichen um Carlos lebten mehr für den Fußball als für den Schulunterricht. Wenn sie mit dreckigen Schuhen vom Fußballplatz kamen, verbot man ihnen, das Klassenzimmer zu betreten. Fast alle mussten sie das zweite Jahr wiederholen. Ein weiteres Problem war der grassierende Rassismus, denn die Gruppe um Carlos gehörte zu den wenigen schwarzen Schülern an der von Weißen dominierten Schule. Letztendlich wurde Carlos wegen Blasphemie der Schule verwiesen: Er konnte einfach nicht verstehen, wie eine Jungfrau ein Kind gebären könnte.

Zu dieser Zeit hatte er bereits Kontakt mit antikolonialem Gedankengut, auch wenn er sonst eher der Spaßvogel der Clique war. Er besuchte nun das Colégio da Casa das Beiras, wo er mehr Interesse am Lehrinhalt zeigte. Er freundete sich mit späteren Anführern der Unabhängigkeitsbewegung an, etwa mit Nito Alves, der nach der Unabhängigkeit erster angolanischer Minister für die Verwaltung der Inneren wurde.

Zugleich begann seine Beziehung zur Musik. Sein Neffe Babaxi (Sebastião José da Costa Neto), 30 Jahre älter als er selbst, war ein begeisterter Trommler und engagierte sich in Karnevalsvereinen. Dieser Neffe wurde zum großen Vorbild seines jungen Onkels: „Ich habe meinen Neffen sehr gern. Er war ein geselliger Typ, ein geborener Sänger und Musiker und ein großartiger Komponist. Er hat mich ganz ohne Zwang in diese Richtung gebracht, einfach indem er Fußball spielte, trommelte, tanzte.”

Nach dem Umzug ins Viertel Marçal gründete der überall beliebte Carlos seine eigene Truppe, die „Kissweyas“. Sie kickten, tanzten und spielten ihre Lieblingslieder, wobei sie Figuren des Karnevals von Luanda wie auch brasilianische Stars imitierten. Ihre Bühne waren die breiten, kaum befahrenen Straßen des Viertels. Auch ahmten sie verschiedene Sportarten nach, die sie in den schicken Vierteln des Stadtzentrums sahen und dann in die Außenbezirke brachten. Sie ließen sich auch nicht davon abschrecken, dass Carlos Vater, der in ihnen Banditen sah, sie auf die gefürchtete Polizeiwache schleppte, damit sie dort eine Abreibung bekämen.

Die Truppe, der auch der zukünftige Starmusiker Bonga angehörte, wurde schnell bekannter. Auf einem Festival afrikanischer Musik in Luandas Unterstadt gewann die Truppe von Carlos, Bonga, Amaral Morgado, Tizinho David André und anderen in einem Wettbewerb mit anderen aufstrebenden Bands den dritten Preis. „Die Jugendgangs waren sozusagen der Embryo der sogenannten modernen angolanischen Musik, besonders hier in Luanda. Aus ihnen gingen die verschiedenen Bands und Einzelkünstler hervor.”

Mit dem Ruhm kamen aber auch die Spannungen innerhalb der Gruppe. Der Ausstieg von Bonga und Zé Moranha bedeutete schließlich das Aus, und Carlos begann eine Karriere als Einzelsänger. Sein Repertoire waren die brasilianischen Lieder, die er so liebte und an den angolanischen Stil anpasste. Es war eine schwierige Zeit, denn „zu dieser Zeit gab es viel Druck von Seiten der Polizei, Musiker galten als Banditen. Es gab viel Unterdrückung.”

Dazu kam, wie er betont, die Rolle der Musik, speziell die der Gruppe N’Gola Ritmos, in der Mobilisierung der angolanischen Bevölkerung für den Kampf gegen das portugiesische Kolonialregime. Dies verstärkte die Verfolgung der Musiker noch weiter: „Haftstrafen und Versetzungen in andere Regionen waren die Vorgehensweise der Portugiesen. Es kam eine Zeit, zu der N‘Gola Ritmos nicht mehr bestanden, da zu viele Mitglieder im Gefängnis der portugiesischen Spezialpolizei PIDE-DGS saßen. Aber auch Ngongo, die Kimbandas do Ritmo und auch meine Gruppe Makoko Ritmo haben das durchgemacht.”

Der Unabhängigkeitskrieg brachte viele Musiker dazu, sich dem Militär anzuschließen. Carlos gehörte nicht dazu. Bis 1967 konnte er den Dienst beim portugiesischen Militär vermeiden. Direkt nach der portugiesischen Nelkenrevolution am 25. April 1974 wurde Carlos, nun Teil der Truppen des MPLA, zum beliebtesten Musiker des Regiments. Auch war er Mitautor der angolanischen Nationalhymne „Angola Avante“. Er dirigierte die Hymne bei der Erklärung der Unabhängigkeit am 11. November 1975. 1987 ließ Carlos die Parteiämter sein und trat in das Staatssekretariat für Kultur ein. 1995 wurde er zum Nationaldirektor für Kulturaktionen ernannt, und zog 2007 für acht Jahre nach Brasilien.
1996 hielt er sich in Portugal auf, um seine erste CD herauszubringen.

Carlos Lamartine betont, dass in Angola, und besonders in Luanda, alle wichtigen Musiker denselben Familien entstammen und entweder verwandt oder seit ihrer Jugend befreundet sind. Familien wie die Van-Dúnem, die Vieira Dias, Fançony, Mingas, die Fontes Pereira, Costa, Cordeiro da Matta, Assis stellten und stellen viele Größen der Musik. Auch sind etliche Mitglieder dieser Familien untereinander verheiratet.

„Ich komme aus der Familie Cordeiro da Matta, Soares da Silva, Vaz Contreiras, Santo Costa, Piedade, das sind alles Verwandte meines Vaters. Die Cordeio da Matta sind verwandt mit den Dias dos Santos, die Dias dos Santos mit den Soares da Silva, die wiederum mit den Carvalhos, den Piedades, den Freitas, den Amaral Gourgel. Und aus diesen Familienzusammenhängen ist diese enge Gemeinschaft zwischen den Vierteln Marçal, Rangel, Bairro Indígena, Bairro Operário und Sambizanga entstanden. Viele haben sich später über die neueren Viertel Luandas verstreut.”

Auch mehrere Brüder von Carlos sind bekannte Musiker geworden, etwa Teófilo José da Costa, Vate Costa und Gregório Mulato. „Durch sein stetiges Kinderzeugen hat mein Vater viele Künstler hervorgebracht. Fast alle meine Schwestern und alle meine Brüder haben in den Karnevalsvereinen getanzt.” Und die Musik geht weiter in der Familie. Einer von Carlos’ Söhnen lebt als Rapper in Südafrika, fast alle seine Kinder sind Tänzer. Allerdings sieht Carlos in der Generation seiner Kinder nicht mehr dieselbe Leidenschaft wie zu seiner Zeit, „denn heute haben sie durch die Bildung ganz andere Möglichkeiten, deshalb betreiben sie die Musik nicht mit derselben Intensität.”

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