Kultur

Von der Straße auf die Bühne

Foto: Xtina, CC BY-SA 2.5

Die tschechische Liedermacherin Radůza

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Radůza in der Balbínova poeticka hospůdka in Prag (2005), Foto: Xtina, CC BY-SA 2.5

Radůza sagt über sich selbst, sie sei im Grunde eine Außenseiterin. Dabei ist die Multi-Instrumentalistin die wohl bekannteste tschechische Liedermacherin. Im September 2012 hat Radůza auf eigenem Label ihr neuntes Album herausgebracht: „Ocelový město“, Stählerne Stadt.

Plötzlich lacht sie laut auf. Ja, damals! Da hätte sie einiges aushalten müssen. „Radůza, Medusa, Tuse, Prothese in Aspik“ – sie rattert das in einem Tempo herunter, dass einem schwindelig wird. Tausend Mal hat sie sich das anhören müssen, denn so wurde sie in der Grundschule in Prag gehänselt. Sie sei eben nun mal seltsam. Seltsam und nie wirklich Teil der Gemeinschaft gewesen, erzählt Radůza. Die fast 40-Jährige sitzt in der spärlich eingerichteten Garderobe des Prager Theaters Gong. Eine halbe Stunde noch bis zum Soundcheck. Dann der Auftritt. Radůza wirkt ruhig und konzentriert.

Was sie jetzt erzählen wird, ist wichtig. Das sieht man ihr an. „Ich habe irgendwann kapiert, dass mir dieser Spitzname immer anhaften wird. Also hab ich ihn einfach mit einem anderen Inhalt gefüllt. Aus einer Beschimpfung habe ich meinen Künstlernamen gemacht, den Namen, unter dem ich heute auftrete – Radůza.“ Gut sei das, sagt sie leise, aber bestimmt. Und es ist klar, dass sie gerade über etwas viel Größeres gesprochen hat als über ihren Künstlernamen. Ihr bürgerlicher Name bleibt übrigens privat, den will sie nicht in den Medien haben.

Also Radůza. Radůza, die ewige Außenseiterin. Das ist schwer vorstellbar. Die schwarzhaarige und etwas mollige Frau erscheint selbstbewusst und stark. „Auch wenn das heute nicht mehr so aussieht“, sagt sie, als hätte sie diesen Gedanken gehört. „Ich habe mir üble Sachen gefallen lassen“. Sie hatte gedacht, alles aushalten zu müssen. Aber das stimmt nicht. „Ich sage jetzt einfach: So will ich das nicht!“



Gitarre statt Gewehr

Lieber über Musik sprechen, meint sie. Flöte und Waldhorn lernt sie schon als Kind an der Musikschule. Bald setzt sie sich auch ans Klavier und nimmt die Gitarre zur Hand – sie hat Talent. Und Musik haben in ihrer Familie irgendwie alle im Blut. Von der Mutter bis zum Urgroßvater. Ihr erstes eigenes Publikum findet Radůza mit 15 Jahren auf der Straße. Während eines Schulaustausches in Moskau macht sie sich einfach davon, legt ihre Gitarrenhülle vor sich auf die Arbat-Straße und los geht´s.

„Und plötzlich schreit mich eine Slowakin an, dass ich den Ruf der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik im Ausland beschädige.“ Noch heute stößt man in Tschechien hier und da auf die Meinung, Straßenmusik und Bettelei, das sei doch das Gleiche. Radůza zuckt mit den Schultern. Mit dieser Arbeit hat sie eine Zeit lang ihren Lebensunterhalt verdient. Sie wollte einfach Musik machen. Aber wer noch nicht bekannt ist, der steht eben eher auf der Straße als auf der Bühne eines Klubs. „Damals, in Moskau, habe ich mir jedenfalls mit Straßenmusik das Geld für eine Tschajka-Uhr zusammenverdient. 35 Rubel – damals viel Geld.“


Radůza: „Ich wäre eine schlechte Soldatin geworden.“

„Für mich war das auch alles schon geplant. Ich sollte auch Berufssoldatin werden. Als ich mit 14 gesagt habe, dass ich auf das Konservatorium möchte, hieß es: Ja, aber auf das Armee-Konservatorium. [lacht] Aber ich habe mich davon irgendwie befreien können. Ich denke, ich wäre eine sehr schlechte Soldatin geworden.Ich gebe nicht gern Befehle und noch weniger gern bekomme ich Befehle. [lacht]Das wäre wirklich nicht gegangen. Aber es ist eine Familientradition. Eine meiner Halbschwestern ist auch Berufssoldatin.“

Radůza war auf den Geschmack gekommen. Dabei hatten ihre Eltern für sie eine strenge Karriere als Soldatin vorgesehen. Beide, Vater und Mutter, waren Berufssoldaten in der tschechoslowakischen Armee. Und als Radůza mit 14 erklärte, sie wolle aufs Konservatorium, da hieß es zu Hause: ja, aber auf das Armee-Konservatorium. „Ich wäre eine schlechte Soldatin geworden. Ich gebe nicht gern Befehle und noch weniger gern bekomme ich Befehle.“

Der Soldatenberuf der Eltern hatte sich ohnehin schon auf Radůzas Kindheit ausgewirkt. Die Eltern hatten sich früh scheiden lassen und die Mutter musste – gerade weil sie Soldatin war – oft nachts Dienst schieben. So lebte Radůza die ersten Jahre bei den Großeltern, in Mähren auf dem Land. Eine schöne Zeit. Aber regimetreu waren sie in der Familie alle, sagt sie.

Krass sei das gewesen. Ihr Großvater ein eingefleischter Kommunist. Die Eltern als Berufssoldaten auch. Als 1989 die Samtene Revolution kam, da war Radůza 16 Jahre alt. Ein Alter, in dem ihr langsam „bewusst wurde, dass alles anders ist, als die offizielle Version.“ Und: dass die Welt hinter dem Eisernen Vorhang weitergeht. Mit Rucksack und Gitarre bereist sie schon bald halb Europa, verdient mit Straßenmusik das Wenige, was sie braucht und saugt begierig die Lieder anderer Länder auf. So entstand der vielfältige, chansonartige Stil ihrer Musik.

Kein Märchen, sondern das Leben

Gut drei Jahre später dann der Durchbruch in Prag. Radůza wird von der populären Sängerin und Liedermacherin Zuzana Navarová regelrecht von der Straße „weg-entdeckt“. Sie singt vor und steht schon drei Tage später auf einer der bekanntesten Bühnen in Prag – in der Lucerna. „Konec české kultury – ne!“ (Das Ende der tschechischen Kultur – nein!) So hieß das gemeinsame Konzert vieler tschechischer Künstler 1993. Nach der Samtenen Revolution gab es in Tschechien eine Diskussion, dass die Liedermacher nun nichts mehr haben, wogegen sie ansingen können. „Jetzt, wo doch alles rosarot werden wird“, erklärt Radůza und lächelt ironisch. Das Konzert sollte das Gegenteil beweisen. „Denn die Menschen haben immer irgendwelche Sorgen und Nöte.“


Radůza: „Meine Kinder nehmen mich nicht als Musikerin wahr.“

„Ich bin einfach Mutter, Vater, Musikerin, Holzfällerin, Gärtnerin, Köchin, Bäckerin, Wäscherin. [lacht]Ich glaube, zu Hause nehmen mich die Kinder nicht so sehr als Musikerin wahr. Denn ich laufe da ständig mit der Axt oder der Motorsäge herum. Wenn ich mal ein Weilchen Zeit habe, backen wir Kuchen. Momentan fahren die Kinder auf Schiffe ab, deshalb backen wir immer wieder die Titanic. [lacht]Also als Musikerin sehen sie mich eher nicht. Jetzt gehen beide in den Kindergarten. Das ist gut. Wenn sie dort sind, dann kann ich arbeiten. Wenn sie dann zu Hause sind, verbringen wir Zeit zusammen oder ich renne mit ihnen zu irgendwelchen Kindergruppen. Der Junge spielt schon Fußball, das Mädchen tanzt. Also viermal die Woche gehen wir irgendwohin. Oder wir gehen schwimmen, reiten, ins Kino oder ins Theater, wie im vergangenen Winter fast an jedem Wochenende. Als Musikerin erleben sie mich eigentlich nicht.“

In den kommenden Jahren steigt Radůza zu einem Stern am tschechischen Liedermacherhimmel auf. Und nebenbei absolviert sie sogar das ersehnte Konservatorium. Das alles klingt eigentlich wie ein Märchen. Aber Radůza winkt ab. „Nein, das ist kein Märchen. Das ist das Leben. Das war Zufall.“

Heute ist sie nicht nur vielfach preisgekrönte Musikerin, sondern auch Mutter. Fünf und drei Jahre sind die beiden Kinder alt, die sie allein erzieht, seit sie sich vom türkischen Vater der Kinder getrennt hat. „Ich bin einfach Mutter, Vater, Musikerin, Holzfällerin, Gärtnerin, Köchin, Bäckerin, Wäscherin. Ich glaube, zu Hause nehmen mich die Kinder nicht so sehr als Musikerin wahr.“ Und Unternehmerin ist sie mittlerweile auch. Vor zwei Jahren hat Radůza ihr eigenes Platten-Label gegründet. Beide Kinder wissen, was es bedeutet, eine Musikerin zur Mutter zu haben.

„Die Kinder waren in der Wanne, ich stand vor dem Bad, um sie sehen zu können, hatte den Dudelsack umgebunden und habe geübt. Ab und zu habe ich mit dem Dudelsack um die Brust heißes Wasser nachlaufen lassen. Danach dann sofort in die Küche, um das Gulasch umzurühren. Alles mit diesem Dudelsack um. Und dann wundere ich mich, dass auch meine Kinder nicht ganz normal sind!“

Schön, aber ebenso ein bisschen verrückt ist eines von Radůzas neuesten Liedern. Ein Lied in einer Sprache, die es nicht gibt. „Ich habe von dieser Sprache geträumt und mich am Morgen noch daran erinnert“, sagt Radůza und fängt in der Garderobe an zu singen. Hördöm, jörtöndöm, hördöm, hördöm jorum. Köstem... „Radůza zum Soundcheck bitte!“

Christian Rühmkorf

Copyright: Goethe-Institut Prag
Juni 2013
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