Leben

Hier fängt Europa an!

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Internationale Studenten verbünden sich

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Blick auf die Oderbrücke von Słubice aus, Foto: © Isabelle Daniel

Nicht einmal 250 Meter liegen zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice. Dennoch ist das Überqueren der Brücke, die beide Städte miteinander verbindet – oder eben voneinander trennt –, wie ein kleiner Kulturschock.

Gerade diesen Kulturschock zu überwinden, ist erklärtes Ziel des Vereins fforst . Das Wohnprojekt ist nach seiner Adresse, der Forststraße in Frankfurt, kurz FF, benannt. 31 Studenten aus bis zu zehn verschiedenen Ländern leben jedes Semester zusammen in den zwei Plattenbauten, organisieren Begegnungen, nehmen an städtischen Events teil und unterstützen Stadtbewohner, etwa bei Übersetzungen. „Wir wollen Brücken schlagen, das heißt, den Studenten an der Uni ein studentischeres Leben ermöglichen und mit den Leuten in der Stadt in Kontakt kommen“, erklärt Vorstandsmitglied Pierre Linke das Konzept des „Verbündungshauses“.

Anders ließe sich die Idee, die hinter dem Verbündungshaus fforst steht, auch so zusammenfassen: Studenten in Frankfurt arbeiten engagiert daran so zu leben, wie es für Studenten in anderen deutschen Universitätsstädten ganz selbstverständlich ist.

Jenseits der Oder

Doch Frankfurt ist eben keine Stadt wie jede andere in Deutschland. Die Diskrepanz zwischen dem, was Frankfurt ist und dem, was Frankfurt sein könnte, ist enorm. Geographisch scheint die deutsch-polnische Grenzstadt eigentlich wie dafür geschaffen, ein echtes Herz Europas sein; die berühmte Europa-Universität Viadrina formuliert diesen Anspruch sogar. Doch für die meisten Deutschen, die bei Frankfurt überhaupt an „Oder“ und nicht an „Main“ denken, liegt Frankfurt gedanklich am Ende der Welt, dessen Jenseits allenfalls billige Zigaretten zu bieten hat.

Dass dieses Jenseits in Wahrheit der ungleich lebendigere Ort ist, stellt fest, wer Frankfurt in Richtung Osten verlässt. Zu Fuß dauert es über die Brücke nur wenige Minuten ins benachbarte Słubice, das bis 1945 Dammvorstadt hieß und ein Stadtteil Frankfurts war. Anders als in Frankfurt, wo an diesem Nachmittag eine triste Semesterferienstimmung herrscht, geht es auf der gegenüberliegenden Seite regelrecht rummelartig zu. Junge Leute sitzen in Cafés, auf der Straße wird ebenso viel Deutsch wie Polnisch gesprochen.

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Für die meisten Deutschen, die bei Frankfurt überhaupt an „Oder“ und nicht an „Main“ denken, liegt Frankfurt gedanklich am Ende der Welt. Foto: © Isabelle Daniel

Anders als vielen Deutschen erscheint es vielen jungen Polen attraktiv, an der Grenze zu wohnen. Während Słubice deshalb aus allen Nähten zu platzen scheint und die überschaubare Einwohnerzahl von 17.000 kontinuierlich steigert, erlebt Frankfurt seit der deutschen Wiedervereinigung einen stetigen Rückgang der Einwohner. Hatte die Stadt 1990 noch mehr als 86.000 Einwohner, waren es im Jahr 2011 nur noch knapp 60.000. Frankfurt schrumpft zu einer Kleinstadt. Fast die Hälfte der 6.000 Studenten der Viadrina pendelt – die Deutschen vor allem zwischen Frankfurt und Berlin, die 12 Prozent polnischen Studenten nach Słubice oder ihren Heimatstädten.

Günstiges Wohnen für alle

Zu den Zielen des fforst-Vereins gehört es daher auch, internationalen, vor allem aber polnischen Studenten, die Möglichkeit günstigen Wohnens zu bieten. Zwischen 80 und 160 Euro zahlen fforst-Bewohner für ihre Zimmer – ein Preis, für den es in den wenigsten deutschen Städten WG-Zimmer gibt. „Die für Deutschland günstigen Mietpreise werden in Polen noch unterboten. Wer beispielsweise aus Słubice kommt, wohnt weiterhin zu Hause – die Wohnpreise von dort können wir nicht einmal im fforst schlagen“, erläutert Pierre und verweist auf die „Drittelregelung“ in den fforst-Häusern: So wohnen in dem Kollektiv jeweils ein Drittel deutsche, polnische und weitere internationale Studenten.

Als Elisabeth Szakacs im Jahr 2010 zum Studium nach Frankfurt kam, stand für sie fest, dass sie im Verbündungshaus wohnen will. „Ich hatte das Haus bei einem Schnupperstudium kennengelernt und meine Bewerbung auf einen Platz direkt mit meiner Bewerbung bei der Viadrina abgegeben“, erzählt die aus Rumänien stammende Jurastudentin. Sie teilt sich seither eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer polnischen Mitbewohnerin. „Internationale WGs sind Pflicht“, sagt die 21-Jährige. Genau das habe sie zu Beginn ihres Studiums motiviert, im fforst einzuziehen.

Auf dem Fenster, vor dem sie sitzt, hängt ein großes Plakat. Auf Deutsch und Polnisch steht darauf: „Hier fängt Europa an!“ (Tutaj zaczyna sie Europa!). Man will es glauben, solange man mit den engagierten Studenten im Verbündungshaus sitzt. Außerhalb des Plattenbaus jedoch hat man das Gefühl, die echte Brücke überqueren zu müssen, um in Europa anzukommen.

 
Copyright: Goethe-Institut Prag
September 2012

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