Lüftchen ist eine Revolution

Foto: © Nancy Waldmann

Zum ersten Mal verkehren touristische Ausflugsschiffe auf dem verwilderten Grenzfluss Oder zwischen Polen und Deutschland

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Der Kahn lässt das morgendlich verschlafene Frankfurt hinter sich, passiert den großen blauen Bogen der Stadtbrücke. Foto: © Nancy Waldmann

Man denkt erst, da kommt niemand. An der Oder in Frankfurt am Freitag um Viertel vor Zehn ist es still. In 15 Minuten soll das Schiff nach Kostrzyn (Küstrin), 30 Kilometer flussabwärts am polnischen Ufer, ablegen. Niemand wartet, die Sonne schimmert im Wasser, das Schwemmland drüben versinkt im gleißenden Licht des Himmels, die polnische Zwillingsstadt Słubice dahinter scheint weit weg. Wo soll hier ein Schiff aufkreuzen? Die Anlegestelle ist seit Jahren verwaist. Nun gilt seit dem 1. April ein Fahrplan für das nagelneue Passagierschiff namens Zefir – auf Deutsch Lüftchen.

Lüftchen ist eine Revolution. Denn abgesehen von einer Fährverbindung auf Höhe des Oderbruchs, verkehrt zum ersten Mal seit der Grenzwerdung der Oder im Jahr 1945 ein touristisches Fahrgastschiff, das am polnischen und am deutschen Ufer anlegt. Jahrzehntelang war dieser Fluss eine geopolitische Linie des Kalten Krieges, in fernen Hauptstädten ein Thema für die Politiker. Die Bundesrepublik hat den Fluss bis 1990 nicht als Grenze zu Polen anerkannt. Und vor Ort war die Oder ein Fall für den Grenzschutz, der das Leben von ihr fern hielt.

Jetzt, da die Schengengrenze in ihrer ganzen Brutalität weiter nach Osten gewandert ist, kann die Oder wieder ein normaler Fluss für die Menschen sein. Ein Ort zum Durchatmen, wo man entlang schippern und den Perspektivenwechsel zwischen den Ufern genießen kann. Ein Ort für eine Sommerfrische, so wie schon vor dem Zweiten Weltkrieg, als die Ausflügler aus dem nahen Berlin in Scharen kamen, um nach Stettin (Szczecin) zu fahren. Oder, wie es Wadim Tyszkiewicz, Bürgermeister der Oderstadt Nowa Sól (Neusalz) und Ideengeber für diese Revolution auf der Oder, gegenüber der im fernen Warschau sitzenden Zeitschrift Polityka erklärte: Aus einem „Quell des Unglücks“ wird ein „Quell des Glücks“. Vorausgesetzt, es hat sich niemand im Fahrplan geirrt, denn es ist bereits kurz vor zehn und immer noch ist kein Schiff in Sicht.

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Die Passagiere besteigen das blau-weiße Schiff. Zwei Decks hat es, Platz für gut 90 Personen und Kajüten für eine vierköpfige Mannschaft. Foto: © Nancy Waldmann

Ein schwieriges Terrain für Binnenschiffer

Ein Dutzend Fahrgäste hat sich inzwischen eingefunden am Kai und reckt unruhig die Hälse in beide Fließrichtungen. Da schiebt sich hinter der Buhne mit einem motorischen Surren die Zefir aus der Słubicer Hafenbucht hervor. Fotoapparate werden gezückt und dokumentieren den festlichen Moment.

„Guten Tag!“, sagt Leon Cynk, der Kapitän der Zefir, als er die Zugangstreppe festmacht. Die Passagiere besteigen das blau-weiße Schiff. Zwei Decks hat es, Platz für gut 90 Personen und Kajüten für eine vierköpfige Mannschaft: zwei Kapitäne, zwei Barfrauen. Die Zefir bietet einstündige Rundfahrten nach Fahrplan und Charterausflüge auf Bestellung an, wenn sie nicht – wie an diesem Tag – den Hafen wechselt. 6,50 Euro oder 25 Złoty zahlt man für die dreistündige Fahrt in die Festungsstadt Kostrzyn, wo das Schiff einige Tage anlegen wird. Der Kahn lässt das morgendlich verschlafene Frankfurt hinter sich, passiert den großen blauen Bogen der Stadtbrücke, von der einige Passanten der neuartigen Erscheinung im Wasser nachschauen. Für die nächsten zehn Kilometer bis Lebus ist es der einzige Orientierungspunkt.

Frankfurt und Słubice verschwimmen in der Ferne zu einer normalen Stadt mit Fluss. Rechts und links beginnt die Wildnis der weitgehend unbebauten Oder: Wald, Deiche, Flussauen, Graureiher, Möwen. Hin und wieder sitzt ein Angler auf den in den Fluss hineinragenden Buhnen, die wie Strommasten einer Landstraße vorbeiziehen und den launischen, raumgreifenden Strom in seinem unsteten, sandigen Flussbett halten sollen. Für Binnenschiffer ist die Oder ein schwieriges Terrain.

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Der Kapitän Leon Cynk hat die sonnengegerbte Haut von vierzig Jahren Binnenschifferleben. Foto: © Nancy Waldmann

So selten wie die Geburt von Fünflingen

Der Kapitän Leon Cynk hat die sonnengegerbte Haut von vierzig Jahren Binnenschifferleben. Wenn er sein vollgeschriebenes Fahrtenbuch aufschlägt, bekommt man bekommt eine Ahnung davon, wie wichtig die Oder zu Zeiten der polnischen Volksrepublik als Wasserstraße war. Tausende Tonnen Kohle und Erz zwischen dem oberschlesischen Kohlerevier und Westeuropa wurden hin und her verschifft. Mit der Privatisierung der polnischen Wasserwirtschaft 1998 ist die Binnenschifffahrt auf der Oder nahezu untergegangen. „Früher hat der Staat die Fahrrinne sauber gehalten, nun macht keiner mehr den Schlick weg“, sagt Cynk.

Wegen der wechselnden Wasserstände ist die Oder kaum schiffbar. Dem letzten Passagierschiff auf deutscher Seite wurde das 2009 zum Verhängnis. Dass Cynk auf seine alten Tage doch wieder Arbeit hat, verdankt er der wiederum revolutionären Tatsache, dass man das Schiff dem Fluss angepasst hat, und nicht den Fluss den Schiffen. Die Zefir ist eins von zwei eigens für die spezifischen Bedingungen der Oder neu gebauten Passagierschiffen. Maximaler Tiefgang 70 Zentimeter. So kann sie auch bei Niedrigwasser auslaufen. Das Schwesterschiff Laguna verkehrt im südlichen Oderabschnitt bis in die Stadt Głogów (Glogau), Zefir im Norden bis Küstrin, wo die Oder die Staatsgrenze bildet. Insgesamt 220 Kilometer.

Man stelle sich vor: zwei neue Schiffe für die Flusskreuzfahrt liefen vom Stapel. Das ist in Mitteleuropa ungefähr so selten wie die Geburt von Fünflingen. Auf dem Mast wehen die Flaggen der Europäischen Union, die sechs Millionen Euro für den Bau der Schiffe gegeben hat, und der Stadt Nowa Sól (Neusalz), deren Bürgermeister Tyszkiewicz vor zehn Jahren die Vision hatte, Ausflugsschiffe auf der Oder fahren zu lassen. Er baute einen Hafen in seinem Städtchen, bevor es die Schiffe gab. Und er schaffte es, zwei Partner auf deutscher Seite zu gewinnen, die eigentlich fanden, dass man diese Schiffe nur aus privaten Mitteln bezahlen und kommerziell betreiben sollte. Ein privater Investor hat sich jedoch bis jetzt nicht gefunden und so betreibt die Schiffe ein Verein, zu dem sechs polnische Odergemeinden, nicht aber Frankfurt und Eisenhüttenstadt gehören.

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Die gewaltigen roten Mauern der Küstriner Festungsruine kündigen das Finale an. Foto: © Nancy Waldmann

Standing Ovations bei der Einfahrt

Aus Sicht eines rechnenden Geschäftsmannes hätte es dieses „Lüftchen“ auf der Oder nie gegeben. Aber die ersten Sommerfrischler aus Berlin haben Wind bekommen. Die zwei Herren, die einen Kaffee von der Bar schlürfen, machen gern mal Ausflüge ins polnische Hinterland der Hauptstadt. Nur die Zugverbindungen seien so schlecht, sagen sie. Nun loben sie den polnischen Kapitän und sein Schiff für alles, was sich in seinem Land in den letzten Jahren getan hat.

Draußen wird es aufregend. Die gewaltigen roten Mauern der Küstriner Festungsruine kündigen das Finale an. Alle Passagiere haben sich ans offene Oberdeck begeben und viele stehen, als wollten sie der Einfahrt Standing Ovations erweisen. Am Bug steht Leon Cynk mit prüfendem Blick neben dem Mast und lotst den zweiten Kapitän per Funkgerät unter einer Straßen- und einer Eisenbahnbrücke durch, bevor das Schiff in die Warthe einbiegt. Die mündet hier in die Oder und macht die Landschaft noch maritimer. Gegen den Strom fährt die Zefir die letzten paar hundert Meter in ihren Heimathafen ein. Die Fotoapparate klicken.

Nancy Waldmann

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Mai 2014

    Die Oder – mitteleuropäischer Strom und politisch vereinnahmter Raum

    Die Oder entspringt in Tschechien im mährischen Odergebirge, fließt durch Schlesien und Niederschlesien, bildet im mittleren Lauf die Grenze zwischen Deutschland und Polen und mündet bei Stettin in die Ostsee.

    In den Köpfen sowohl deutscher als auch polnischer Nationalisten spielte die Oder bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Polen, dessen Grenzen damals östlicher als heute verliefen, sollte sich bis zur Oder und darüber hinaus ausdehnen, dorthin, wo im Mittelalter westslawische Stämme gelebt hatten. Nach dem Krieg etablierte sich die „polnische Westforschung“, die die Zugehörigkeit der sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“ bis zur Oder-Neiße-Linie historisch legitimieren sollte.

    Die „Westforschung“ war eine Antwort auf die deutsche „Ostforschung“, die sich im 19. Jahrundert entwickelt hatte. Ihr Forschungsgegenstand: das „deutsche Volkstum“ in Ostmitteleuropa. Nach dem ersten Weltkrieg richtete sich die deutsche Ostforschung mehr und mehr gegen die Slawen und bereitete ideologisch den Weg für die Herrenmenschenideologie der Nazis. Im Dritten Reich untermauerte sie die Germanisierungspolitik des Nazi-Regimes in Ostmitteleuropa. Auch nach 1945 existierte die Forschungszweig in der Bundesrepublik. Polnische West- und deutsche Ostforschung waren politische Kampfwissenschaften. Nach 1945 zielte ihr Wirken überwiegend darauf, den politischen Status Quo der Oder-Neiße-Linie zu rechtfertigen – oder aus westdeutscher Sicht: zu widerlegen. Die Bundesrepublik hat sie die Grenze zu Polen erst im Jahre 1990 anerkannt.

    Bis heute dient die Oder als Kulisse für Versöhnungsgesten. Politiker schütteln sich gern auf den Oderbrücken die Hände. Zu DDR-Zeiten schwenkten Pioniere aus der DDR und Polen am „Strom der Freundschaft“ gemeinsam Fahnen. Aber auch nach 1989 gehören Freundschaftsbekundungen und Bekenntnisse zu Europa zum politischen Repertoire an der Oder. Das wichtigste Ereignis war dabei der EU-Beitritt Polens im Jahr 2004. Zuletzt haben die Präsidenten Polens und Deutschlands Bronisław Komorowski und Joachim Gauck im Herbst 2013 im Rahmen der Eröffnung des Akademischen Jahres an der Europa-Universität Viadrina demonstrativ gemeinsam die Brücke zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice überschritten.

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