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Interview mit SL

SL ist Aktivistin für Menschenrechte und Gleichheit in der algerischen Zivilgesellschaft und interessiert sich leidenschaftliche für Natur, Selbstversorgung und Reisen.

Eine Frau sitzt auf einer Sanddüne mit dem Rücken zur Kamera. Gibt es Dinge, für die du kämpfst? Wenn ja, wieso?

Ich habe schon immer für die Gleichheit zwischen Frauen und Männern gekämpft, zwischen Jungen und Mädchen. Das war mir schon immer ein wichtiges Anliegen, denn ich glaube von tiefstem Herzen, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in Gleichheit hat, das ist ein grundlegendes Menschenrecht, was auch dringend nötig ist, um die Entwicklung unserer Gesellschaft schneller voranzubringen. Jedes Individuum hat gleiche Rechte und Pflichten, und ich habe mich schon immer gefragt, wieso das algerische Gesetz Frauen diskriminiert, z. B. durch den Familienkodex von 1984, der seitdem nicht verändert wurde. Es gab zwar 2005 eine kleine Reform, die aber nicht der geforderten Gleichheit nachkommt, denn die Frau bleibt eine ewig Minderjährige. Auch eine andere Forderung ist mir sehr wichtig, und zwar die Bewegungsfreiheit, dafür kämpfe ich aktiv. Der Mensch ist frei geboren, frei, sich zu bewegen, frei, ein Weltbürger zu sein, frei, seinen Lebensort auszuwählen. Leider haben nicht alle Menschen dieses Recht, denn viele von uns sind verletzlich und leiden unter unmenschlichen Bedingungen. Ich kann nicht mitansehen, wie Kinder und Frauen verkauft werden, Gewalt erleben. Dass insbesondere Kinder diese Alpträume miterleben müssen, ist schrecklich. Als Kollektiv machen wir, was wir können, aber das reicht nicht. Das ist ein riesengroßer Kampf. Unsere Arbeit ist zwar gut, aber wir brauchen die Zusammenarbeit von mehreren anderen Akteuren, eine staatliche Hilfe wäre z. B. zu begrüßen.

Wie ist euer Kollektiv entstanden und wofür steht es?

Wir haben das Kollektiv während der Pandemie gegründet. Während des Lockdowns litten viele von uns unter unverarbeiteten Traumata, da wir auf einmal mit uns selbst und unseren Dämonen konfrontiert waren, das war echt nicht einfach. Mit einer Gruppe von Freund*innen wollten wir ein konkretes Hilfsprojekt anbieten, um einerseits uns selbst, aber auch andere Menschen zu unterstützen. Unter den Personen, die die Hilfe in Anspruch genommen haben, waren viele Frauen. Es ist ein intersektionales, interkulturelles und inklusives Projekt. Wir möchten wirklich, dass die Menschen sich bei uns wohl und entspannt fühlen, dass wir uns austauschen und diskutieren können. Vor allem verfolgen wir dadurch auch einen selbst-therapeutischen Ansatz, wir haben uns manchmal getroffen, um zu malen, zu gärtnern oder zu schreiben. Das hat uns erlaubt, unsere täglichen Sorgen und die Diskriminierungen im Alltag ein bisschen zu vergessen.

Wie ist im Alltag deine Beziehung zum öffentlichen Raum?

Es gibt viele öffentliche Plätze, die ich sehr gerne mag: den Wald von Ben Aknoun, die Bars in Algier, die Parks, wie den von Telemly, auch die Caféterrassen. Was mich wirklich stört, ist, dass man als Frau verbal und oft auch körperlich belästigt wird, letzteres habe ich zum Glück noch nie erlebt. Manchmal passiert es, dass ich den Männern antworte und wenn ich merke, dass einer bereit ist, zu diskutieren, erkläre ich ihm, was meine Meinung dazu ist und wie ich mich dabei fühle. Ich höre dann auch seiner Meinung zu, denn das ist meine Art, die Leute zu diesem Thema zu sensibilisieren. Manchmal wollen Leute, die dich belästigen, eigentlich mit dir flirten, das ist natürlich absolut respektlos.

Ich benutze viel das Auto, dennoch bin ich oft auch draußen, gerne auch nachts. Ich liebe Außenräume, liebe es zu laufen. Es tut mir so gut, spazieren zu gehen, manchmal laufe ich von Telemly bis Bab el Oued, dann laufe ich die Strandpromenade runter und wieder zurück. Ich nehme mir das Recht, auch in der Stadt rumzulaufen. Algier ist da mehr oder weniger gut gesichert, es sind viele Menschen anwesend, auch die Polizei ist da, was zwar nicht immer das Gefühl von Sicherheit gibt, aber zumindest ein bisschen. Ich denke, dass der öffentliche Raum allen gehört, dort sollten sich im gegenseitigen Respekt Frauen, Männer, Kinder, behinderte Menschen, aber auch Tiere und Natur begegnen. Ebenso denke ich, dass der öffentliche Raum in Algier schon immer allen gehörte und allen gehören wird, solange auch Frauen diesen Raum für sich nutzen. Es freut mich zu sehen, wenn junge Mädchen allein spazieren, Frauen einkaufen gehen, das braucht ein bisschen Mut. Wenn heutzutage Frauen dies nicht mehr tun, so liegt das an einem Gefühl der Angst, man verängstigt sie oder sie haben einfach schlechte Erfahrungen gemacht, die sie daran hindern, rauszugehen. Wir müssen unbedingt weiter in der Öffentlichkeit existieren, das ist ein Kampf. Wir sollten auch nicht die Waffen ablegen und meinen, es sei besser nicht rauszugehen, um Probleme zu vermeiden. So verliert man den Kampf im Voraus. Frauen können beispielsweise in Selbstverteidigungskursen lernen, sich die Öffentlichkeit wieder anzueignen, an Selbstvertrauen zu gewinnen, aber das ist eine Einstellung, die von Kindheit an entwickelt werden muss, durch Eltern, Lehrer*innen, Nachbarn. Ich denke auch, dass es Pflicht sein sollte, Kinder in der Schule für Genderfragen zu sensibilisieren.

Was fehlt deiner Meinung nach im öffentlichen Raum?

Es fehlt an Infrastrukturen und an Konzepten für gehbehinderte Personen, es fehlt auch an Ruheorten. Mir passiert es ganz oft, dass wenn ich mich nach einem Spaziergang auf einer Treppe ausruhe, ganz oft Leute kommen und mich fragen, ob alles in Ordnung sei, und warum ich dort sitze. Einmal hat mir jemand sogar Wasser gebracht, die Leute sind es einfach nicht gewohnt, Frauen auf Treppen sitzen zu sehen. Sich als Frau in der Öffentlichkeit selbstbewusst zu präsentieren, ist eine aufschlussreiche Erfahrung.

Könntest du uns beschreiben, was für dich der ideale öffentliche Raum in Algier wäre?

Der ideale Ort wäre einer, in dem es Musikgruppen, öffentliche Konzerte, volle Caféterrassen, Theater- und Filmvorführungen, kleine Restaurants gibt, in denen man sich wohl fühlt, innovative Cafékonzepte, schön arrangierte Parks, mehr öffentliche Verkehrsmittel und weniger Autos, saubere Gehwege, der Duft unserer Gastronomie, all das, was die Seele einer Stadt ausmacht.

Wie hast du den öffentlichen Raum während des Hiraks erlebt?

Was die Frage der Frauen im öffentlichen Raum angeht, hat der Hirak auf jeden Fall eine Rolle gespielt. Es gab zwar keine direkten Auswirkungen, aber es waren viele Frauen draußen. Ich bin mit dem feministischen Block mitgelaufen, der für ein mir sehr wichtiges Ziel stand: die Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Ich fand es ebenfalls sehr begrüßenswert, dass in diesem Block Feministinnen, Mütter, Großmütter, Studentinnen, kleine Mädchen anwesend waren. Wir waren zwar weniger zahlreich als die Männer, aber wie bei allen Revolutionen hat auch hier die algerische Frau ihren natürlichen Platz im öffentlichen Raum eingenommen. Leider wurden wir irgendwann als störend empfunden, ich selbst habe auch viele Probleme mit Männern gehabt, und es wurde schwieriger mitzulaufen, da unsere ursprünglichen Ziele mit der Zeit immer weniger Beachtung fanden.

Wie erklärst du dir die Tatsache, dass Frauenmorde während des Lockdowns zugenommen haben? Und was ist für dich der private Raum?

Die Zunahme an Frauenmorden erkläre ich mir folgendermaßen: Während des Lockdowns fanden sich viele Männer auf einmal im engen Zusammenleben mit einer Frau, die sie eigentlich nie wirklich gekannt hatten, sie entdeckten eine neue Person. Gleichzeitig waren sie auch ihrer eigenen Persönlichkeit mit ihren Traumata und Frustrationen ausgesetzt, die auf einmal wieder an die Oberfläche kamen. Natürlich kann nichts einen solchen Akt rechtfertigen, es gibt kein Recht, einen Menschen zu töten, in welcher Situation auch immer. Was schlimm ist, dass viele Leute meinen, ein Mann, der seine Frau getötet hat, hätte dadurch seine Ehre gerettet, oft kommen diese Männer mit Mindeststrafen davon und die Schuld wird auf die Frau geschoben. Ich würde sagen, dass Frauen ihr Leben in Algerien erdulden, egal ob im öffentlichen oder im privaten Raum. Der private Raum ist für mich sehr wichtig, es ist der Raum unserer eigenen Intimität, die unaufgedeckt bleibt und die auch nicht für andere ersichtlich sein muss. Für mich ist die Privatsphäre die Summe aller Momente, in denen man im gegenseitigen Respekt Intimität teilt, das macht das Private so schön.

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