Junge Obdachlose in Finnland
Erfolgsgeschichte mit Makeln

Sininauhasäätiön päiväkeskus Illusia. Päivälepohuone.
Illusia, Tagesstätte der Stiftung Sininauhasäätiö. Päivälepohuone. | Bild: Joonas Vohlakari

Die finnische Obdachlosigkeitspolitik und vor allem das Programm  „Wohnung zuerst“ waren international gesehen ein Riesenerfolg. Die neuesten Statistiken sind dennoch besorgniserregend.

Im Jahr 2017 konnte Finnland als einziges europäisches Land zurückgehende Obdachlosigkeit vermelden. 2018 war bereits das fünfte Jahr in Folge mit sinkenden Obdachlosenzahlen. Nach neuesten Statistiken sind rund 7000 Wohnungslose registriert, davon leben vier von fünf vorübergehend bei Freunden oder Verwandten. Es gibt also nur wenige Wohnungslose in Finnland, die ihre Nächte auf der Straße oder in Wohnheimen verbringen.

Die Erfolgsgeschichte des finnischen Modells basiert darauf, dass sie der andauernden Obdachlosigkeit vorbeugt. Eckpfeiler seit 2008 ist das Prinzip „Wohnung zuerst”, das auf einer einfachen Grundidee fußt: Ein eigenes Zuhause gilt als die beste Voraussetzung dafür, das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Eine eigene Wohnung soll nicht das Ziel, sondern eine Grundvoraussetzung sein. Beispielsweise sollte man einem drogensüchtigen Obdachlosen ein Zuhause bieten, ohne Drogenfreiheit vorauszusetzen. Es brauchte aber einen Paradigmenwechsel, damit sich das Prinzip „Wohnung zuerst” durchsetzen ließ. In Finnland musste ein Obdachloser noch in den 1980er-Jahren unter Beweis stellen, dass er in der Lage war, sich gesellschaftskonform zu verhalten. Nur dann hatte er Chancen, eine Wohnung zu bekommen. Im Normalfall bedeutete dies, dass er nachweisen musste, komplett abstinent zu leben.

Das finnische Modell

Um vor allem die Langzeitobdachlosigkeit nach und nach abzuschaffen, haben Staat, die Gemeinden, Organisationen und Freiwillige in den vergangenen Jahrzehnten intensiv zusammengearbeitet. Mit Erfolg. „Wohnung zuerst” ist das finnische Ergebnis dieses sehr langwierigen Prozesses. Die Umsetzung des Programms zeitigt positive Wirkungen sowohl in der finnischen Wirtschaft wie auch in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. So sind etwa die die Festnahmen durch die Polizei zurückgegangen. Allerdings belegen die neuesten Statistiken auch, dass die Obdachlosigkeit unter Jugendlichen zum ersten Mal seit 2012 zugenommen hat, während sie etwa unter Frauen und Einwanderern im selben Zeitraum gesunken ist. Ende 2017 gab es 1585 Obdachlose, die jünger als 25 Jahre alt waren, das sind 13 Prozent mehr als im Vorjahr. Es gibt viele Gründe, sich wegen dieser Entwicklung Sorgen zu machen.

Eine weitere aus den Statistiken gezogene Erkenntnis ist, dass sich die Obdachlosigkeit in Finnland auf die Hauptstadtregion konzentriert. Anders ausgedrückt: Über die Hälfte der Obdachlosen leben in Helsinki.
 
  • Marion ''Gröna'' Gröönroos (vas.) on myös Illusian vakioasiakkaita. Oikealla Tapsa von Müller Bild: Joonas Vohlakari

    Marion ''Gröna'' Gröönroos (links), ein Stammkunde bei Illusia.
    Rechts: Tapsa von Müller

  • Leena Rusi vom Projekt "Wohnung für alle" Bild: Joonas Vohlakari

    Leena Rusi vom Projekt "Wohnung für alle"

  • Tapsa von Müller, Stammkunde der Tagesstätte Illusiassa Bild: Joonas Vohlakari

    Tapsa von Müller, Stammkunde der Tagesstätte Illusiassa

 Will man Obdachlosen Wohnungen bieten, setzt dies in der Praxis voraus, dass es auf dem Markt auch Wohnungsangebote zu anderen als zu marktwirtschaftlichen Bedingungen gibt. Neben dem finnischen Staat und den Gemeinden bieten mehrere Organisationen und Stiftungen günstige Mietwohnungen an. Der Dienstleistungssektor hilft dabei, Obdachlosigkeit zur vermeiden.

Wie funktioniert „Wohnung zuerst“?

Wichtige Partner auf der staatlichen Seite sind KELA, die finnische Krankenkasse, und ARA, eine Finanzierungs- und Entwicklungsorganisation für Wohnungsbau. KELA kümmert sich um die grundlegende soziale Sicherheit der Bürger und gewährt bei Bedarf zum Beispiel Wohnungsbeihilfe. ARA beauftragt den Bau günstiger Wohnungen in ganz Finnland. Auf kommunaler Ebene existieren außerdem Organisationen, die Wohnungen zu angemessenen Kosten errichten lassen.

Organisationen und Stiftungen wie zum Beispiel die Stiftungen Y-säätiö und Sininauhasäätiö bieten ebenfalls erschwingliche Wohnungen an. Außerdem gibt es Wohnungseinheiten für betreutes Wohnen. In der Praxis sind das Etagenhäuser, die im Rahmen des Programms „Wohnung zuerst” Unterkünfte sowie Betreuungspersonal zur Verfügung stellen. Außerdem offerieren Organisationen und Stiftungen ein vielfältiges Angebot an Aktivitäten in Tageszentren an und bemühen sich, für die Obdachlosen im normalen Alltag da zu sein.   

Glücksspiel bringt Geld für die Arbeit mit Obdachlosen

Die staatlichen und kommunalen Maßnahmen, die der Obdachlosigkeit vorbeugen sollen, werden aus Steuermitteln finanziert. Die Arbeit der Organisationen wird zum größten Teil aus Geldern des Beihilfezentrums der Sozial- und Gesundheitsorganisationen (STEA) bezahlt. STEA ist eine selbständige, staatliche Beihilfeorganisation, die in Kooperation mit dem finnischen Sozial- und Gesundheitsministerium die Erträge der Glücksspiele von Veikkaus Oy an Sozial- und Gesundheitsorganisationen weiterleitet. Veikkaus Oy wiederum ist ein staatliches Unternehmen, das über das Alleinrecht verfügt, in Finnland Glücksspiele zu organisieren. Gemessen am Umsatz und an den Erträgen ist es eines der fünf größten Unternehmen in Finnland. Die Gewinne aus dem Glücksspiel, mehr als einer Milliarde Euro im Jahr, werden an die Hilfsorganisationen verteilt.

Hanna Dhalman © Bild: Joonas Vohlakari Hanna Dhalman Bild: Joonas Vohlakari
„Unsere ausländischen Gäste interessieren sich oft besonders für die Organisation STEA und für das Finanzierungsmodell unserer Obdachlosenarbeit. STEA unterstützt finanziell viele Akteure des Dienstleistungssektors. Ohne deren Einsatz und Erfahrungen wären wir ziemlich hilflos, was die lokale Arbeit zur Vorbeugung der Obdachlosigkeit angeht”, sagt die Expertin Hanna Dhalman von ARA.„In diesem Jahr hat zum Beispiel ein neues, von STEA finanziertes dreijähriges Projekt begonnen, das sich mit der Obdachlosigkeit von Frauen befasst.” Es wird jedoch kritisiert, dass die Spielautomaten von Veikkaus sich zum größten Teil dort befinden, wo die meisten armen, gering qualifizierten und ansonsten benachteiligten Menschen leben. Dort sind auch die Erträge am größten.
 

Aktuelle Probleme

Blickt man nur auf die Statistiken, dann stellt sich die Obdachlosensituation in Finnland gut dar. Dahinter verbergen sich jedoch, wie oben zum Teil schon angedeutet, verschiedene Probleme und Risikofaktoren.

Der Anstieg der Obdachlosigkeit unter jungen Menschen beruht auf verschiedensten gesellschaftlichen Veränderungen. So gibt es immer weniger bezahlbaren Wohnraum. Die Zahl derjenigen, die sich verschulden und Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, steigt. Bei der Kinderfürsorge wird gespart. Es existiert ein Rückgang bei den Studienplätzen in den Berufsschulen. Schließlich kommen immer neue Rauschmittel durch den Straßenhandel in den Umlauf. Die Zahl der Neubauten der staatlich geförderten ARA-Mietwohnungen ist auf einen Bruchteil der vergangenen Jahre zurückgegangen. Positiv ist, dass man die große Bedeutung einer präventiven Wirtschaftsberatung erkannt hat und nun beispielsweise in den Schulen entsprechende Aufklärungsarbeit leistet.

Leena Rusi © Bild: Joonas Vohlakari Leena Rusi Bild: Joonas Vohlakari
„Die zunehmende Obdachlosigkeit junger Menschen ist ein Schandfleck in unserer Sozialpolitik. Wie konnte das passieren? Vor allem ist man um die Situation der jungen Männer besorgt, die die Schule frühzeitig abgebrochen oder Lernschwierigkeiten haben”, sagt Leena Rusi, Projektmanagerin der Sininauha-Stiftung. Rusi hat auch als Leiterin der Wohnungseinheit in der Straße Mäkelänkatu gearbeitet. Mit den Erfahrungen aus dieser Arbeit wagt sie es, ein Problem öffentlich anzusprechen, das in den Obdachlosigkeitsstatistiken nicht zum Vorschein kommt. „In den nach dem Prinzip ‚Wohnung zuerst‛ gegründeten Wohneinheiten konsumiert fast jeder Alkohol oder auch Drogen und nur wenige können unter diesen Bedingungen rehabilitiert werden. Im Gegenteil, Alkohol und Drogen sind immer verfügbar. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass man ein Dach über dem Kopf hat und so zum Beispiel nicht gezwungen ist, unangenehme Dienste zu leisten, um woanders als auf der Straße zu schlafen."

In Finnland gehen Obdachlosigkeit und Drogenmissbrauch Hand in Hand. Die Mitarbeiter in den Organisationen kennen Familien, in denen beide Phänomene bereits in der dritten Generation vorkommen. „Außer Dienstleistungen im Rahmen des Programms ‚Wohnung zuerst‛  bräuchte man in Finnland drogenfreie Alternativlösungen. Dass Rehabilitationseinheiten für Drogensüchtige aus Sparzwecken abgeschafft werden ist ebenfalls ein großes Problem”, verdeutlicht Rusi die Probleme, die im Gegensatz zu den statistischen Erfolgsmeldungen stehen.

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