Märchen
Es war einmal …

Der gestiefelte Kater ging im Märchen in edlen Schuhen, seine Erzählung ging über Grenzen: Erste Aufzeichnungen finden sich in Italien, und über Frankreich gelangte die Geschichte nach Deutschland. Details variierten, aber im Kern blieb sie gleich – so wanderten viele Märchen von Land zu Land.
Von Jean-Charles Margotton
Kennen Sie die Geschichte des gestiefelten Katers? Der dritte Sohn eines Müllers bekommt als Erbe nur einen Kater. Aber der, ein berühmter Trickster, macht durch List seinen armen Besitzer zum Schwiegersohn des Königs. Der Kater geht im Märchen, das lässt ihn als Edelmann erscheinen, in Stiefeln – das Märchen wiederum ging über viele Grenzen.
In Frankreich erschien die Geschichte zur Zeit Ludwigs XIV., aufgeschrieben vom berühmten Märchenerzähler Charles Perrault. Doch noch zuvor findet sich diese Geschichte bei den italienischen Märchensammlern Giovanni Francesco Straparola (Costantino fortunato) und Giambattista Basile (Cagliuso) wieder. Natürlich variieren dabei die Namen der Personen und die Details der Erzählung, aber der Kern der Geschichte war der gleiche. Aus Frankreich gelangte das Märchen wiederum zu den Brüdern Grimm. Denn die beiden Märchensammler aus Deutschland – Jacob und Wilhelm – waren eng mit den Schwestern Hassenpflug befreundet, die wie die Brüder in Kassel lebten. Die Urgroßmutter der Schwestern, eine Schweizerin, hatte einst einen Pfarrer aus Frankreich geheiratet, wodurch die Familie sehr französisch geprägt war. Und so gaben die Schwestern diese und andere Geschichten aus Frankreich an die Brüder Grimm weiter. Aber auch die Schwestern Hassenpflug waren nur eine von mehreren Quellen, aus denen die Brüder Grimm ihre Geschichten erhielten. Eine andere war etwa Dorothea Viehmann, eine Marktfrau aus Hessen, die ebenfalls französische Vorfahren hatte.
Und noch bevor die Brüder Grimm dieses Märchen in ihre Sammlung aufnahmen, war es bereits Thema einer satirischen Komödie des deutschen Romantikers Ludwig Tieck, der die zauberhafte Welt des Märchens dem philisterhaften Theaterpublikum gegenüberstellte. Und natürlich endete die Reise der Erzählung auch nicht bei den Brüdern Grimm: Bevor der deutsche Dramatiker Tankred Dorst darüber sein erstes Stück schrieb – es wurde 1964 aufgeführt –, wurde die englische Adaptation (Puss in Boots) mit großem Erfolg veröffentlicht, hatte der französische Maler Gustave Doré hierzu berühmte Gravuren gestaltet und Walt Disney die Erzählung 1922 verfilmt. Für den Kater spielten Grenzen keine Rolle.
Der gestiefelte Kater: Eine schlaue Katze wandert durch Europa
Die Großmutter erzählt ihren Enkeln Märchen – aber waren die Märchen von Charles Perrault und von Madame d’Aulnoy wirklich nur an Kinder gerichtet? Märchen versetzen uns auf einen Schlag in eine Welt, in der zunächst Chaos, Unrecht oder Mangel herrschen. Doch am Ende ist, dank einer höheren Kraft und nach einer Reihe von Bewährungsproben, eine Ordnung wiederhergestellt – wie die beruhigende Kadenz einer schönen Musik. Auch die Geschichte des gestiefelten Katers beginnt mit einer Unordnung, einem vermeintlichen Unrecht.
Neugier auf Märchen aus aller Welt
Europa besitzt diese Tradition der Märchen natürlich nicht alleine, sie existiert weltweit. Aber Europa zeigt seit Jahrhunderten Neugier auf Märchen aus aller Welt – und ist ebenso ein fruchtbarer Boden für viele Märchen geworden. Zu den großen Märchensammlern Europas zählen natürlich die bereits genannten: der Franzose Perrault Ende des 17. Jahrhunderts, die Brüder Grimm im romantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts und die Italiener Straparola im Venedig des 16. und Basile im Neapel des 17. Jahrhunderts. Man könnte in dieser Aufzählung noch viele weitere Namen nennen, etwa den Engländer Geoffrey Chaucer, der als Pionier schon im 14. Jahrhundert den Weg für die großen Namen der europäischen Märchen bereitete.Doch viel wichtiger ist es zu wissen, dass das Märchen in Europa schon sehr früh nicht nur Material für die Literatur lieferte, sondern ebenso für Theaterstücke, für Filme, für Opern und sogar für Ballette, Gemälde und Comics. Lassen wir zu guter Letzt noch die Brüder Grimm selbst zu Wort kommen, die sich der Grenzenlosigkeit der Märchen durchaus bewusst waren. So schrieben sie im dritten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen: „Tauchen nicht dieselben Märchen an den entferntesten Orten wieder auf, wie eine Quelle an weit abliegenden Stellen wieder durchbricht?“