Bürgerprotest nimmt in Deutschland und Frankreich unterschiedliche Dimensionen an. Sina und Mathilde schildern ihre Eindrücke vom Engagement der Hamburger und Toulouser Bürger für ihre Werte.
Stille Wasser sind tief: der engagierte Bürger in Hamburg
„Warum regst du dich so auf?“ fragte man mich eines Tages, als ich zugegebenermaßen etwas aus der Haut fuhr – es ging um die Gleichstellung in Deutschland und Frankreich. Ich musste feststellen, dass es in Hamburg anders als daheim aufgenommen wird, wenn man sich als Bürger Gehör verschaffen will.
Und doch haben die Hamburger klar bewiesen, dass sie alles andere als halbherzig auftreten, wenn es darum geht, Stellung zu beziehen. So haben sie beim letzten Bürgerentscheid allgemeines Erstaunen erweckt, als sie mehrheitlich gegen eine Bewerbung zur Ausrichtung der Olympischen Spiele gestimmt haben. Die Kosten dieser Unternehmung in einer der teuersten Städte Deutschlands haben den olympischen Geist der Bürgerinnen und Bürger abgekühlt, nicht zuletzt im Kontext von Sportskandalen und der aktuellen Flüchtlingskrise.
Die Geschichte der Hansestadt Hamburg ist von zahlreichen Momenten des Protests geprägt. Dabei teilen die Demonstranten jedoch nicht den traditionellen Überschwang ihrer französischen Nachbarn. Eine Ausnahme bildet der 1. Mai-Feiertag: Da wissen die Hamburger, dass es ratsam ist, das Schulterblatt, Zentrum des alternativen Schanzenviertels, zu vermeiden. An diesem Tag treffen dort Links- und Rechtsextremisten gewaltsam aufeinander. Die farbenfrohen Häuserfassaden auf Sankt Pauli sind immer noch mit Parolen versehen, die aus den Zeiten heftiger Auseinandersetzung zwischen der Stadtverwaltung und den Bürgern des Viertels stammen. Die Anwohner haben sich sowohl gegen die zunehmende Verschlechterung der Wohnbedingungen, als auch gegen den rasanten Anstieg der Mietpreise gewehrt – sie besetzten die Wohnräume: „Bullenschweine!“ oder „Kein Mensch ist illegal!“
Gerade die zweite Parole ist allgegenwärtig in der Stadt und gewinnt, während die Hamburger sich zahlreich beim Empfang der Flüchtlinge engagieren, eine neue Relevanz.
Verändern oder Bewahren?
Es ist erstaunlich, mit welcher Vehemenz die Toulouser diskutieren, ihren Standpunkt laut und ohne Scheu verteidigen. So viele haben nach den Pariser Anschlägen im Januar und November 2015 für republikanische Werte demonstriert. Doch gerade in der letzten Zeit wird deutlich, dass beim Thema Werte die Gräben zwischen den Lagern schneller und weiter aufreißen, und der eine oder andere belässt es nicht bei Worten.
Eine von der Stadt organisierte Fotoausstellung, die Ende November in einem öffentlichen Park ausgestellt wurde, sorgte für Reaktionen, die mich in ihrer Heftigkeit überrascht haben. „Couples imaginaires“ von Olivier Ciappa zeigt fiktive Paar- und Familienkonstellationen, darunter viele schwule und lesbische Paare. Die Ausstellung wurde kurz darauf mit Schimpfworten übersprüht, Fotos wurden zerstört. Bei einem weiteren Versuch verschwanden zahlreiche der großen Abzüge in der Nacht, doch auf Forderung des Künstlers, der sich gegen Homophobie einsetzt, wurden die Bilder dann ein drittes Mal im Freien gezeigt.
Nun sind nicht alle Gegner der Ausstellung Vandalen, doch die Gemüter sind erhitzt. Homosexuelle Paare als falsches Vorbild für Kinder? Eine Bedrohung für die traditionelle Familie? Für manche ja. Viele stören sich nur an der Intimität der Bilder, der nackten Haut in einem öffentlichen Park. Doch entscheidend ist oftmals der Widerstand gegen ein vermeintlich pädagogisches Programm der Stadt – der Ansatz, dass man den Toulousern zwei Männermodels vor die Nase hängt, mitunter mit Modellbaby, und sagt: Das ist Realität, gewöhnt euch dran.
Ich habe den Eindruck, dass gerade in Toulouse Tradition hochgehalten wird und die oft vielköpfige Familie im Mittelpunkt steht. Doch Toulouse ist auch die am schnellsten wachsende Stadt Frankreichs und eine Stadt mit vielen Einwanderern. Dass angesichts der Veränderungen viele um die alten Strukturen fürchten, zeigen die 32 Prozent für den Front National im ersten Wahlgang der Regionalwahlen im November 2015, aber auch der Schock derer, die gerade deshalb ihre Heimat nicht mehr wiedererkennen. Angesichts dieser Spaltung kann ich nur hoffen, dass die Toulouser das tun, was sie eigentlich alle beherrschen: es ausdiskutieren.