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Mehrsprachigkeit im Unterricht
Mehrsprachiger Ansatz als Chance im modernen Fremdsprachenunterricht

Illustration Deutschübung
© Goethe-Institut

Der mehrsprachige Unterricht bietet eine Chance. Die Sprachen und Sprachkenntnisse, die die Schüler*innen mitbringen, können eine Brücke zur Zielsprache bilden und so zu einem inklusiveren, sinnvolleren und effektiveren Sprachunterricht beitragen, wenn sie im Unterricht bewusst und zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden. In diesem Artikel beleuchte ich den Mehrwert eines mehrsprachigen Ansatzes aus drei Perspektiven.

Von Indira Wakelkamp

Wer in weiterführenden Schulen unterrichtet, kennt das Phänomen bereits: Viele Klassen sind mehrsprachig. Schüler*innen sprechen zu Hause Türkisch, Arabisch, Polnisch, Papiamento oder Friesisch. Zudem lernen sie in der Schule, im Urlaub oder im Internet die Anwendung weiterer Sprachen. Wie auch immer man Mehrsprachigkeit definiert: Es ist deutlich, dass das Sprachenrepertoire der Schüler*innen sich in den meisten Fällen nicht auf Niederländisch beschränkt.

Obwohl das Interesse für mehrsprachige Strategien zunimmt, basiert der Unterricht im Schulalltag noch größtenteils auf einem einsprachigen Ansatz (Blackledge & Creese, 2010; Mai, 2014). Häufig geschieht dies mit den besten Absichten und unter dem Einfluss nachvollziehbarer Fehlannahmen über Mehrsprachigkeit, von denen Van Beuningen & Polišenská (2019) einige beschreiben. Viele Methoden im Fremdsprachenunterricht richten sich nach dem Grundsatz, dass im Unterricht möglichst viel in der Zielsprache gesprochen wird – sowohl von den Lehrkräften als auch den Schüler*innen (Littlewood, 1981). Sicherlich hat dieses Prinzip seine Verdienste: Eine umfassende und sinnhafte Auseinandersetzung mit der Zielsprache sowie deren aktive Anwendung bilden die Grundlage des Spracherwerbs, wie Long (1996) betont. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass dieses Prinzip mitunter zu rigide ausgelegt wird, ausgehend von der Annahme, dass Lernende am besten lernen, wenn sie vollständig in die Fremdsprache eintauchen (Hall & Cook, 2012; Turnbull & Dailey-O’Cain, 2009). Daher wird häufig versucht, die Zielsprache so weit wie möglich einzusetzen, wobei Niederländisch ausschließlich als wichtigste Hilfssprache dient.

Unter diesem Aspekt ergibt sich eine bedeutende Chance für den Fremdsprachenunterricht. Die von den Schüler*innen eingebrachten Sprachen und das sprachliche Wissen können eine Verbindung zur Zielsprache herstellen und so zu einem inklusiveren, sinnvolleren und effektiveren Sprachunterricht beitragen, wenn diese Fähigkeiten im Unterricht bewusst im richtigen Moment eingesetzt werden. Im Folgenden bespreche ich drei Perspektiven, die den Mehrwert eines mehrsprachigen Ansatzes illustrieren.

Inklusion und Wohlbefinden

Sprache ist mehr als nur ein Kommunikationsmittel. Sprache ist Bestandteil unserer Individualität und eng verbunden mit unserer Identität (García & Wei, 2014; Norton, 2013). Dies gilt insbesondere für Schüler*innen, die zu Hause eine andere Sprache als Niederländisch oder zusätzlich zum Niederländischen sprechen. Ein ausgeprägtes Gefühl der Zugehörigkeit und Anerkennung bildet eine wichtige Basis für Motivation und Lernerfolg (Goodenow, 1993). Für mehrsprachige Schüler*innen hängt das Zugehörigkeitsgefühl in hohem Maße davon ab, inwieweit ihre sprachlichen und kulturellen Hintergründe berücksichtigt werden (Cummins, 2001a; Van der Wildt, Van Avermaet, & Van Houtte, 2017). Turner et al. (2023) wiesen eine bessere Beteiligung und größere Freude der Schüler*innen nach, deren Heimsprache im Unterricht sichtbar und bedeutsam berücksichtigt wird.

Wer mehrere Sprachen beherrscht, verfügt zudem über wertvolles sprachliches Wissen, das beim Erwerb neuer Sprachen nützlich sein kann (Cenoz, 2003; Herdina & Jessner, 2002). Findet der Fremdsprachenunterricht ausschließlich in der Zielsprache und auf Niederländisch statt, könnte dies den Schüler*innen unbeabsichtigt die implizite Botschaft vermitteln, dass ihre weiteren Sprachen – und damit ein Teil ihrer Identität sowie ihres sprachlichen Wissens – in der Klasse keine Rolle spielen (Cummins, 2001b; García & Kleyn, 2016). Indem wir jedoch die gesamte sprachliche Identität und das sprachliche Repertoire der Schüler*innen anerkennen und würdigen, geben wir ihnen zu verstehen: „Deine Sprache und deine Kenntnisse sind wichtig.“ Auf diese Weise fördern wir ihre Motivation und ihr schulisches Wohlbefinden.

Sprachentwicklung und Konstruktivismus

Lange Zeit ging man davon aus, dass Mehrsprachige ihre Sprachen als getrennte Systeme im Gehirn speichern, als gäbe es für jede Sprache einen eigenen Bereich (Grosjean, 1989). Die Interaktion der Systeme wurde als ein Nachteil gesehen, der die Sprachentwicklung behindern könnte – eine der verbreiteten Fehlvorstellungen über Mehrsprachigkeit (Van Beuningen & Polišenská, 2019). Inzwischen weiß man, dass Mehrsprachigkeit nicht auf mehreren getrennten Systemen beruht, sondern auf einem dynamischen Netzwerk, in dem die Sprachen permanent miteinander interagieren. Beim Sprechen oder Zuhören in einer Sprache bleiben zum Beispiel die anderen Sprachen unbewusst beteiligt (Kroll & Bialystok, 2013). Jim Cummins (2008) beschrieb dies in seinem Modell der Common Underlying Proficiency, demgemäß alle Sprachen einer Person aus einem gemeinsamen zugrundeliegenden Wissensreservoire gespeist werden. Aus diesem Reservoir können Wissen und Fähigkeiten von der einen auf die andere Sprache übertragen werden. Geva & Ryan (1993) zeigten beispielsweise, dass phonologisches Bewusstsein in der Erstsprache mit der Lesefähigkeit in der Zweitsprache zusammenhängt, was darauf hinweist, dass bestimmte sprachliche Kompetenzen von den Sprachen geteilt werden.

Diese Erkenntnisse stehen im Einklang mit einem sozial-konstruktivistischen Lernverständnis, wonach sich neues Wissen aus vorhandenem Wissen aufbaut (Vygotsky, 1978). Die von den Schüler*innen mitgebrachten Sprachen bilden somit ein reichhaltiges Reservoir an Vorkenntnissen, das dem Fremdsprachenunterricht dienen kann. Bereiten Schüler*innen sich zum Beispiel auf eine kommunikative Aufgabe in der Zielsprache vor, können sie auf sprachliches Wissen, wie z.B. Wortschatz, Strukturen oder Sprachstrategien weiterer Sprachen zurückgreifen und dies zur Unterstützung bei der Aufgabenbewältigung in der Zielsprache nutzen (Grasso, 2012; Nation, 2003). Somit fungieren Wissen und Einsatz weiterer Sprachen als eine Stütze, die den Schüler*innen den Übergang in die Zielsprache erleichtern kann. Die funktionale Nutzung des gesamten sprachlichen Repertoires der Schüler*innen knüpft damit sowohl an Erkenntnisse aus dem Spracherwerb als auch an allgemeine Lernprinzipien an.

Sprachbewusstsein

Wenn Schüler*innen bewusst über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sprachen reflektieren, entwickeln sie ihr Sprachbewusstsein: die Fähigkeit, über eine Sprache und deren Funktionsweise im Kontext sowie über die Zusammenhänge zwischen Sprachen nachzudenken. Innerhalb dieses Überbegriffs verweist metalinguistisches Bewusstsein spezifisch auf die Einsicht in die Form und Struktur der Sprache: Grammatik, Wortbildung und semantische Relationen. Wie Forschungen zeigen, gilt gerade dieses Sprach- und metalinguistische Bewusstsein als wichtiger Prädiktor für den Lernerfolg von Fremdsprachen. Schüler*innen, die den Sprachbau begreifen, erfassen schneller grammatikalische Muster, erwerben leichter Wortschatz und meistern den Übergang in eine neue Sprache besser (Brooks & Kempe, 2013; Roehr-Brackin & Tellier, 2019).

Sprachreflexion, ob bezogen auf Form, Verwendung oder Sprachvergleich, fördert nicht nur das Sprachverständnis, sondern auch den Transfer zwischen Sprachen und die Sprachlern-Motivation (Cenoz & Gorter, 2011). Im Sinne des Common Underlying Proficiency-Modells von Cummins stärkt Sprachbewusstsein das gemeinsame Wissensreservoir, welches die verschiedenen Sprachen eines Sprechers oder einer Sprecherin miteinander verbindet. Indem sie bewusst über die Funktionsweise von Sprachen nachdenken, begreifen Schüler*innen das zugrundeliegende System besser. Dieser Prozess der Sprachreflexion stellt hohe kognitive Anforderungen und verlangt sorgfältige didaktische Entscheidungen: Momente, in denen es sinnvoll ist, von der Zielsprache abzuweichen (Macaro, 2009; Swain, 2006).

Sebastiaan Dönszelmann (2024) weist in seinem Handboek Doeltaaldidactiek (Handbuch Zielsprachen-Didaktik) darauf hin, dass eben in diesen Momenten, die an das sprach- oder metalinguistische Bewusstsein der Schüler*innen appellieren, die Zielsprache nicht immer die effektivste Lernsprache ist. In diesen Fällen kann die Heimsprache (Niederländisch oder eine weitere Sprache) oder eine andere Unterstützungsform einen wertvollen Beitrag leisten, wenn Schüler*innen etwa neue Grammatikstrukturen verstehen oder neue Inhalte mit ihrem bereits vorhandenen Wissen in anderen Sprachen verknüpfen müssen. Kernpunkt des Unterrichts bleibt die Zielsprache, während andere Sprachen strategisch eingesetzt werden, um Bedeutung zu konstruieren, das Verständnis zu vertiefen und das Sprachbewusstsein zu stärken. Die Nutzung weiterer Sprachen ist in diesen Fällen eine didaktische Entscheidung zugunsten von Sprachentwicklung und Verständnis (Dönszelmann, 2024; Hall & Cook, 2012).

Schlussfolgerung

Die Anerkennung, Wertschätzung und funktionale Nutzung des gesamten Sprachenrepertoires der Schüler*innen kann den Fremdsprachenunterricht bereichern. Dieses Repertoire umfasst die von ihnen beherrschten Sprachen sowie ihre sprachlichen Erfahrungen, Kompetenzen und Lernstrategien, die im Unterricht als wertvolle Wissensquelle und Unterstützung dienen können. Durch bewusste didaktische Entscheidungen in der Unterrichtsvorbereitung und im Unterricht kann untersucht werden, wie und wann mehrsprachige Mittel das Lernen (in) der Zielsprache unterstützen, unter Berücksichtigung dessen, was die Schüler*innen selbst einbringen möchten und können. Wenn wir in den richtigen Momenten auf die mehrsprachigen Ressourcen der Lernenden zurückgreifen, schaffen wir einen Sprachunterricht, der sowohl inklusiver als auch wirksamer ist und in dem jede Sprache eine sinnvolle Rolle beim Erlernen einer neuen Sprache spielt.

 

Literatur
 

Blackledge, A., & Creese, A. (2010). Multilingualism: A critical perspective. Continuum.

Brooks, P. J., & Kempe, V. (2013). Individual differences in adult foreign language learning: The mediating effect of metalinguistic awareness. Memory & Cognition, 41 (2), 281-296.

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