Krimiserie „Tatort“
Mutiger und frecher

ARD/HR „Tatort“: „Im Schmerz geboren“ – Donny (Alexander Scheer)
ARD/HR „Tatort“: „Im Schmerz geboren“ – Donny (Alexander Scheer) | © HR/Philip Sichler

Die Krimiserie „Tatort“ ist 45 Jahre alt. 2016 wird die tausendste Folge ausgestrahlt. Doch das Format hat noch lange nicht ausgedient – im Gegenteil.

Sonntagabend, 20 Uhr 15, irgendwo in Deutschland. Die Titelmelodie des Tatort ruft zum Fernseher. Ein Fadenkreuz, flüchtende Schritte, gehetzte Musik begleiten das kurze Intro. Wer jetzt nicht alles stehen und liegen lässt, hat vielleicht schon den Mord verpasst, denn der geschieht oft am Anfang. Die Zuschauer wissen das. Sie sind mit dem deutschesten aller Krimis aufgewachsen. Überall im Land finden sich unzählige Experten und echte Fans.

Die Lieblingskrimiserie der Deutschen läuft schon seit 1970, länger als jede andere Krimireihe im deutschen Sprachraum. Im Durchschnitt verfolgen fast zehn Millionen Menschen, wie Kommissare und Kommissarinnen auf Verbrecherjagd gehen. Man guckt am liebsten gemeinsam, auch in Cafés und Kneipen. Entgegen dem allgemeinen Trend wird der Tatort bevorzugt zur Sendezeit konsumiert, nicht später in der Mediathek – um direkt twittern zu können oder sich am nächsten Tag darüber zu unterhalten. Der Tatort ist ein Ritual, das das Wochenende abschließt.

Dennoch ist der Sonntagskrimi mehr als Unterhaltung. Er spiegelt deutsche Befindlichkeiten, dokumentiert Zeitgeschichte, thematisiert, was die Gesellschaft bewegt: Gewalt in der Schule, Flüchtlinge, Cybermobbing oder die Dauerbaustelle des Flughafens Berlin-Brandenburg.

Einsatz für Jungermittler

Man könnte glauben, das Format altere einvernehmlich mit seinem Publikum, aber weit gefehlt. „Die Zuschauer des Tatort aus Münster oder bei Til Schweiger sind sogar jünger als die der US-amerikanischen Spielfilme“, berichtet Gebhard Henke, Leiter des Programmbereichs Fernsehspiel, Kino und Serie beim Westdeutschen Rundfunk. Nach der allgemeinen Talfahrt wegen der privaten Konkurrenz ab Mitte der Achtzigerjahre und einem gut zehn Jahre währenden Stillstand ab Mitte der Neunzigerjahre steigen die Zuschauerzahlen seit 2007 beständig. Waren es da noch sieben oder acht Millionen, sind es 2015 bis zu 13 Millionen. Es verjüngen und mehren sich aber nicht nur die Menschen vor den Fernsehbildschirmen, sondern auch die Kommissare. Zum Konzept der Kriminalreihe von ARD, ORF und SRF gehört es seit jeher, dass unterschiedliche Kriminalisten in unterschiedlichsten Regionen unterwegs sind. In der ARD hat mittlerweile jede Landesrundfunkanstalt mindestens ein Ermittler-Team – rund 20 sind es im Jahr 2015. Allein seit 2010 sind zehn neue Teams dazugekommen.

Die Lust an den Neuen

Eine bewusste Strategie bezüglich der Verjüngung gebe es allerdings nicht, so Gebhard Henke. Denn gemäß dem föderativen Prinzip der ARD produzieren die Länderanstalten, was immer sie selbst für einen guten Tatort halten, sie setzen auch Ermittler-Teams ab, erfinden neue. Das macht das Format so bunt, aber auch so unberechenbar. Ein Potpourri, zusammengehalten durch den Sendeplatz, das Intro und die Tatsache, dass die Fälle immer aufgeklärt werden. Die derzeitige Tatort-Gemeinde scheint Bewegung gut zu finden. Das jedenfalls hat Henke beobachtet: Hätten die Zuschauer früher vor allem die „Platzhirsche“ geliebt, berühmte Hauptkommissare wie Schimanski (Götz George), Stoever (Manfred Krug) oder Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), „feiern die Zuschauer neue Teams heute fast wie Bundesligaspieler.“ Mehr Teams muss es auch deshalb geben, weil prominente Schauspieler wie Til Schweiger (Hamburg), Ulrich Tukur (Wiesbaden) oder Meret Becker (Berlin) wenig Lust haben, sich auf die Ermittler-Rolle festzulegen. Mehr Teams und damit mehr Orte kommen auch der Regionalisierung entgegen, die Teil des Konzepts ist. Selbst wenn von den Neuen kaum jemand Dialekt spricht und man die Mundart an Nebendarsteller delegiert hat.

Erfrischend anders

Die neuen Kommissare sind oft nicht nur auf dem Papier jünger, sie geben sich auch so. Hip, urban, vertraut mit sozialen Medien, fahren sie schon einmal mit dem Motorroller und beherrschen fließend Fremdsprachen. Auch gesellschaftliche Regelverstöße gehören bei ihnen durchaus zur Norm. Nicht dass ihre Vorgänger unfehlbare Beamten gewesen wären: Auch sie waren nicht frei von menschlichem Makel und bekamen häufig ihr Privatleben nicht in den Griff. Doch die Jungen buhlen nicht mehr so angestrengt um die Empathie der Zuschauer, polarisieren sogar. Kommissarin Nora Dalay (Aylin Tezel) etwa treibt ihr Baby ab, das sie von ihrem Kollegen erwartete. Bei Nina Rubin (Meret Becker) in Berlin zieht der Lebenspartner bereits zum Serienauftakt aus, nach einer exzessiven Nacht ihrerseits.
 
„Tatort“: „Im Schmerz geboren“ – Trailer (Youtube.com)

Auch das Format selbst wird experimenteller und vielfältiger. „Im Schmerz geboren“, eine Folge, die der Hessische Rundfunk im Oktober 2014 ausstrahlte, wurde von der Kritik gefeiert und mit Preisen überhäuft. Der blutige Rachefeldzug eines Ex-Kommissars ist experimentelle Krimikunst vom feinsten: nach Shakespeare‘schem Muster gestrickt und wie ein Quentin-Tarantino-Western inszeniert. 47 Tote soll es am Ende gegeben haben. Schauspieler Ulrich Tukur, der den Wiesbadener Ermittler Murot spielt, bestreitet den Showdown mit einer Schnellfeuerwaffe.

Vieles darf sich ändern: die Orte, die Kommissare, die Erzähltradition. Nicht aber das Tatort-Intro, das seit der ersten Ausstrahlung gleich geblieben ist. Zwar wird es bei Verkäufen ins Ausland oft als unzeitgemäß abgeschnitten. Hierzulande ist Kritik daran aber absolut tabu. Das musste auch Til Schweiger spüren, als er den Vorspann „dämlich“ und „outdated“ nannte und vorschlug, ihn abzuschaffen. So sehr übers Ziel hinausschießen dürfen aber selbst die neuen, wilden Kommissare nicht.