Architekten

Deutschsprachige Architekten
in der frühen Republik

Die Moderne als „Projekt“

Die Suche nach einer modernen, an internationalen Vorbildern orientierten, aber dennoch auch spezifisch türkischen Identität beherrschte die politische, gesellschaftliche und kulturelle Debatte in der Türkei in den 1920er- und 1930er-Jahren. Es war das Ziel der neuen Führung, dem Land einen gebührenden Platz unter den großen Nationen zu verschaffen. Der zivilisatorische Quantensprung, den die Nation vollbringen sollte, stand allerdings im Widerspruch zu den vorhandenen Ressourcen. Auf allen Ebenen fehlte es an Kenntnissen und Fertigkeiten. Vor allem aus innenpolitischen Gründen musste zudem auf die personelle Infrastruktur des Osmanischen Reiches möglichst verzichtet werden.

Von der neuen Hauptstadt Ankara aus wurde eine neue staatliche Organisation aufgebaut. Der Entscheid, Ankara zur Hauptstadt zu machen, basierte auf militärisch-strategischen und ideologischen Überlegungen. Istanbul als Zentrum des Osmanischen Reiches stand sowohl für dessen Führungs- und Verwaltungsapparat als auch für die machtpolitischen und ökonomischen Interessen der alliierten Nationen, die dem Reich nach dem verlorenen Krieg ihre Bedingungen diktieren wollten. Der Umzug von der Metropole am Bosporus in die kleine Provinzstadt im Zentrum des Landes signalisierte deshalb sowohl einen eindeutigen Bruch mit dem Netzwerk der alten wirtschaftlichen Abhängigkeiten als auch den Rückzug von der westlichen Grenze ins Herz der neuen Nation.

Der Entscheid bot gerade für die Architektur große Chancen, musste doch als Folge der Verlegung der Kapitale von der geschichtsträchtigen imperialen Großstadt in das unbedeutende Provinznest mit damals kaum mehr als 30.000 Einwohnern die gesamte staatliche Infrastruktur neu errichtet werden. Neben Regierungs- und Verwaltungsgebäuden mussten Universitäten, Sekundarschulen, Gymnasien und Spitäler sowie Bauten für den Verkehr und für die Industrie erstellt werden. Das notwendige Knowhow und die Technologie zur Schaffung der neuen Nation standen zum Zeitpunkt der Staatsgründung 1923 jedoch nur mit großen Einschränkungen zur Verfügung. Die Revolution musste deshalb zwangsläufig in Phasen stattfinden:

  • In der ersten Phase von 1922 bis 1926 wurden der neue Nationalstaat mit seinen Kernorganen und -strukturen etabliert und der Umfang und Ablauf der weiteren Reformen definiert. Für diesen Schritt griff die kemalistische Führung mangels Alternativen auf das Wissen und Können von in osmanischer Zeit ausgebildeten Fachleuten – Ingenieuren, Architekten, Wissenschaftlern und Lehrern – zurück.
  • Erst für die zweite Phase ab etwa 1927 bis Ende der Dreißigerjahre wurden ausländische Experten ins Land geholt. Ihnen war eine doppelte Rolle zugedacht: Zum einen sollten sie die Federführung bei der konkreten Umsetzung des kemalistischen Projektes und insbesondere beim Aufbau der benötigten Infrastruktur für die staatliche Verwaltung, für die Schwerindustrie, für das Verkehrs- und Transportwesen sowie für Medien und Kommunikation haben. Zum andern wurden sie für die Ausbildung einer ersten Generation nach „modernen“ Ideen geschulter einheimischer Verwaltungsfachleute benötigt.
  • In der dritten Phase schließlich übernahm die nach den neuen Grundsätzen und Ideologien ausgebildete erste moderne Generation einheimischer Fachleute das Ruder, um das Projekt des nationalen Aufbaus zum Abschluss zu bringen.

Rolle der Architektur im Projekt der Moderne

Die moderne Architektur in der Türkei in den 1920er- und 1930er-Jahren unterscheidet sich von jener Westeuropas zunächst in ihrer Entstehungsgeschichte, sodann aber auch in ihrem Bauprogramm. In Westeuropa war die Moderne zwar in vielem die Antithese zur bourgeoisen Gesellschaft der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sie stellte aber gleichzeitig auch einen folgerichtigen Entwicklungsschritt in der historischen Genese der Kultur und Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts dar, von der Renaissance über die Aufklärung und die Industrialisierung hin zum demokratischen Nationalismus und zur Internationalität des Völkerbundes.

Die Moderne in der Türkei hingegen war ein staatliches und somit von oben verordnetes gesellschaftliches Erneuerungsprogramm, das seine Wurzeln nicht in der Kultur des Landes hatte, sondern das dieser Kultur aufoktroyiert wurde. Die Türkei war nach dem Ersten Weltkrieg, dem Untergang des Osmanischen Reiches und dem Unabhängigkeitskrieg wirtschaftlich stark geschwächt und von internen Machtkämpfen zerrissen. Die Prioritäten der neuen Regierung lagen ganz notgedrungen beim Wiederaufbau der zerstörten Städte und der Bereitstellung der technischen Infrastruktur; so mussten zunächst die vom Krieg betroffenen Städte Westanatoliens saniert, die Hauptstadt eingerichtet und Straßen und Eisenbahnlinien gebaut werden.

Die türkische Führung stellte Ansprüche an die Architektur im Sinne ihrer politischen Vision. Die neue Architektur sollte fortschrittlich und dynamisch wirken, und sie sollte zweckmäßig sein. Sie war ebenso wie die neu übernommene lateinische Schrift und die europäische Kleidung Sinnbild für die Progressivität der Gesellschaft und für ihre Technologisierung. Die Frage der gesellschaftlichen Identität und der kulturellen Authentizität jedoch – die sich bei der Sprachreform kaum und bei der Kleiderreform in geringerem Maße stellte – wurde in der Architektur schon früh diskutiert. Noch bis etwa 1927 war der sogenannte „Erste Nationalstil“ die dominierende Formensprache. Es handelte sich dabei um eine in der Beaux-Arts-Tradition stehende, durch die Verwendung spezifisch osmanischer Motive und Bauelemente „orientalisierte“ Formensprache, die allerdings gegenüber dem vorangegangenen, übermäßig dekorativen Stil des späten neunzehnten Jahrhunderts formal bereits deutlich entschlackt war.

Erklärtes Ziel der Republik war es, mit der materiellen Kultur und den technologischen Errungenschaften des Westens Schritt zu halten. Für viele der neuen Bauaufgaben wie Volksschulen, Universitäten, Fabriken und Spitäler existierten weder im osmanischen Ersten Nationalstil noch in der vernakulären Architektur adäquate Baumuster. Deshalb wurde ganz zwangsläufig ausländische Expertise benötigt. Das Industrieförderungsgesetz von 1927 („Tesvik-i Sanayi Kanunu“) erlaubte es nicht nur, technisches Personal für die Industrieanlagen im Ausland zu rekrutieren, sondern auch Planer, Ingenieure und Architekten. Parallel zur Rekrutierung ausländischer Experten wurden zudem hervorragende Studenten zum Nachdiplomstudium ins Ausland geschickt, bevorzug nach Deutschland. Daneben gab es auch türkische Architekten, die ihre gesamte architektonische Ausbildung im Ausland erhalten hatten.

In der Zeitspanne zwischen 1924 und 1942 arbeiteten rund 40 Architekten und Städteplaner aus Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz in der Türkei. Dazu gehörten unter anderem Paul Bonatz, Ernst Arnold Egli, Martin Elsaesser, Franz Hillinger, Clemens Holzmeister, Hermann Jansen, Theodor Jost, Wilhelm Schütte, Margarethe Schütte-Lihotzky, Carl C. Lörcher, Robert Oerley, Hans Poelzig, Henri Prost, Ernst Reuter, Bruno Taut, Robert Vorhoelzer und Martin Wagner.

Deutschsprachige Architekten in der Türkei

In vielen Ländern Europas – in Deutschland, Österreich, Italien und in fast allen östlich daran angrenzenden Ländern zwischen dem Balkan und dem Baltikum – wurden mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die alten Staatsformen eliminiert und neue, in der Regel republikanisch-demokratische geschaffen. Diese Gesellschaftssysteme waren jedoch allesamt sehr fragil. Die neuen Demokratien konnten sich nicht auf eine anerkannte Tradition stützen; dementsprechend leicht war das politische Machtgefüge in den genannten Ländern zu erschüttern. Die Instabilität und Zerbrechlichkeit der neuen Staaten wurde durch die großen ökonomischen Krisen der 1920er-Jahre weiter verstärkt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurde das politische Klima dort, aber auch in den Nachbarländern, weiter radikalisiert. Die politischen, ökonomischen und professionellen Zwänge der Zeit führten in der Folge vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich und in anderen Ländern zu einem großen Exodus an hochqualifizierten Fachkräften, die nach einer Beschäftigung unter wirtschaftlich und politisch erträglichen Bedingungen suchten.

Die Möglichkeiten des politischen und ökonomischen Exils waren jedoch beschränkt. Außerhalb Europas bot sich neben den USA, den südamerikanischen Ländern und dem besonders für jüdische Emigranten attraktiven Palästina vor allem die Türkei an. Unter den ausländischen Experten, die in die Türkei kamen, lassen sich grob zwei Kategorien identifizieren. Da waren zunächst jene, für die die Arbeit in der Türkei vor allem eine professionelle Gelegenheit darstellte; zu diesen gehörten in der Architektur vor allem Ernst Egli und Clemens Holzmeister. Der zweiten Kategorie gehören all jene an, die ihre Heimat aufgrund der politischen Umstände verließen; dazu gehörten Persönlichkeiten wie Martin Wagner, Bruno Taut, Margarethe Schütte-Lihotzky und im Städtebau Ernst Reuter.

Auch wenn die Situation in der Türkei für die meisten Exilsuchenden wohl besser war als in ihrem Heimatland, war sie doch nicht für alle gleich. Tatsächlich existierte auch unter den ausländischen Experten eine Zweiklassengesellschaft. Zu den Privilegierten zählte zum Beispiel Ernst Egli, was zum einen damit zusammenhing, dass er sehr früh gekommen war und sich auch hervorragend assimiliert hatte. Zum anderen aber besaß er auch sehr gute Kontakte direkt zu Kemal Atatürk, der ihm von Anfang an wohlgesonnen war und öfters seine schützende und fördernde Hand über ihn hielt. Auch Clemens Holzmeister gehörte zu diesen Privilegierten, was unter anderem dem Umstand zu verdanken war, dass er sehr früh für die Armee, die im politischen System als Garant der Republik eine zentrale Rolle hatte, große Bauvorhaben realisieren konnte und in der Folge auch die Schlüsselbauten im Regierungsviertel, insbesondere das neue Parlament, errichten durfte. Andere ausländische Architekten, vorwiegend solche, die dem linken politischen Spektrum zugehörten, waren weniger vom Glück begünstigt. Dies hing auch mit der generellen politischen Situation in der Türkei ab der Mitte der 1930er-Jahre zusammen, in der nationalfaschistische Elemente zunehmend Auftrieb erhielten.

Holzmeister, Taut und Egli in Ankara

Clemens Holzmeister, Bruno Taut und vor allem Ernst Egli waren die maßgebenden ausländischen Architekten in der Türkei der Dreißigerjahre, sowohl was den Umfang als auch die Qualität ihrer Arbeiten betraf.

Clemens Holzmeister (1886–1983), der österreichische Architekt, verwirklichte in Ankara in seinem modernistischen Monumentalstil wichtige Bauten für das neue Regierungsviertel im Stadtteil Kızılay. Diese Bauten sollten nach Holzmeister „sichtbares Zeichen der geordneten Macht der neuen Türkei“ sein. Holzmeister hielt sich zunächst nicht dauerhaft in der Türkei auf. Er arbeitete an seinen Projekten teils während kürzerer oder längerer Reisen in die Türkei, größtenteils aber in Wien und Düsseldorf, wo er Meisterateliers leitete. In der ersten Schaffensperiode von etwa 1928 bis 1935 realisierte Holzmeister Bauten für das Verteidigungsministerium und verschiedene andere Ministerien, für die türkische Zentralbank und die staatliche Immobilienbank sowie für Atatürk selbst (Residenz in Ankara). Erst in der zweiten Schaffensperiode, die mit seiner Entlassung von der Wiener Akademie einsetzte, verlegte Holzmeister auch seinen Wohnsitz in die Türkei. In der Folge entstanden weitere Bauten, darunter vor allem das Parlamentsgebäude.

Bruno Taut (1880–1938) war ein deutscher Architekt und Stadtplaner. Taut galt damals als Avantgardist. Er war 1936 nach seiner Flucht aus Deutschland und einem erfolglosen Aufenthalt in Japan, wo er nicht bauen durfte, auf Vermittlung Martin Wagners in die Türkei gelangt. Hier blieb ihm jedoch nur wenig Zeit zur Realisierung seiner architektonischen Visionen, denen zudem die Radikalität seiner früheren Entwürfe abging. Taut wurde zum einen Nachfolger Ernst Eglis als Dekan an der Akademie der Schönen Künste in Istanbul und Direktor des Baubüros des Unterrichtsministeriums. Taut verstarb nach lediglich zwei Jahren Aufenthalt im Dezember 1938 in Istanbul. Trotz der nur kurzen Tätigkeit hat Taut sowohl im Bereich der Theorie als auch der Praxis wichtige Beiträge zur Debatte um die moderne Architektur in der Türkei geleistet. Zu seinen Entwürfen zählen das Gebäude der Philologischen Fakultät und das Atatürk-Gymnasium, beide in Ankara, sowie verschiedene andere Schulbauten in Ankara, Izmir und anderen Städten.

Ernst Arnold Egli (1893–1974) wurde in Wien als Sohn eines Schweizer Ingenieurs geboren. Egli war einer der ersten „Architekturexperten“, die von der Regierung Atatürks in die Türkei geholt wurden, und gleichzeitig einer jener, der am längsten im Land blieb, nämlich von 1927 bis 1940. Ernst Egli kam auf direkte Einladung der Regierung, um die Stelle des Chefarchitekten des Unterrichtsministeriums zu übernehmen, die zunächst Holzmeister angeboten worden war. Kurz nach seiner Ankunft in der Türkei wurde Egli zudem mit der Führung und Reformierung der Architekturschule an der Akademie der schönen Künste in Istanbul beauftragt, der damals einzigen Architekturschule der Türkei. Beide Ämter legte Egli auf öffentlichen Druck Ende 1936 nieder. Egli blieb vier weitere Jahre in der Türkei, in denen er allerdings nicht mehr viele Projekte realisieren konnte. In den rund 13 Jahren seines Aufenthaltes entstanden insgesamt rund 50 Projekte. Wichtigste Bauten von Egli sind in Ankara das Konservatorium, der Oberste Rechnungshof, die Ismet-Pascha-Mädchenschule, das Mädchenlyzeum und diverse Bauten für die Landwirtschaftliche Fakultät. In Istanbul errichtete Egli das Botanische Institut der Universität Istanbul. Daneben realisierte er verschiedene moderne Wohnhäuser in Ankara und Istanbul sowie die Gesandtschaften der Schweiz und des Irak. In der Phase ab 1936 wandte sich Egli vermehrt dem Städtebau zu. Bis zu seinem Abschied von der Türkei im Jahr 1940 arbeitete er an rund zehn Bebauungsplänen für  verschiedene Städte in der Türkei. Zwischen 1953 und 1955 hielt sich Egli erneut in der Türkei auf, diesmal im Auftrag der UNO als Experte für Stadt- und Landesplanung.

Aufgewachsen in Österreich als Sohn eines Schweizers und einer Tschechin, war es Egli gewissermaßen in die Wiege gelegt, sich in und zwischen verschiedenen Kulturen zu bewegen. Mit nur 34 Jahren wurde der völlig unbekannte Egli in die Türkei berufen. Eglis Rolle in der Türkei war vergleichbar jener eines Botschafters; er vertrat jedoch nicht ein Land, sondern eine neue, internationale Kultur – die Kultur der Moderne. Die Aufgabe, mit der Egli als Architekt konfrontiert war, ging über das Schaffen der Voraussetzungen für ein gutes Funktionieren des Staates in effizienten baulichen Infrastrukturen hinaus. Egli und die anderen ausländischen Architekten sollten durch ihre Arbeit auch immaterielle Werte  vermitteln. Sie sollten den Staat in seinen Bauten als modern, fortschrittlich und zivilisiert präsentieren, ihm eine neue, westlich geprägte Identität vermitteln und damit nach innen und außen die Stärke des kemalistischen Konzepts demonstrieren.

Die Aufgabe war zunächst eine technisch-funktionale, vor allem aber auch eine explizit politische – Egli erweiterte sie zudem um das Thema der „nationalen Identität“. Die Frage der Synthese des Zeitgemäßen und des Zeitlosen, des Regionalen und des Internationalen beschäftigte Egli bereits seit seiner Ausbildung in Wien. Egli war mit der direkten Übertragung mitteleuropäischer Stadt- und Wohntypologien nicht einverstanden, da diese seines Erachtens weder der Landschaft, noch dem Klima, noch der türkischen Kultur und Lebensweise angepasst waren. Obwohl er sich im Kontext seiner Arbeit für das Erziehungsministerium naturgemäß nicht hauptsächlich mit dem Wohnen befassen musste, begann er schon sehr früh, sich dem Studium der traditionellen türkischen Architektur zu widmen. Die typologische Untersuchung des türkischen Hauses war für ihn auch deshalb eine Notwendigkeit, weil er sich damit Kenntnisse über die regionalen und kulturellen Einflussfaktoren verschaffen wollte. Dazu konzipierte er an der Akademie der Künste in Istanbul, wo er von 1930 bis 1936 das Dekanat innehatte, zusammen mit Sedad Hakkı Eldem das „Millî Mimarlık“-Seminar (Seminar für nationale Architektur).

Der Beitrag Ernst Arnold Eglis zur türkischen Architektur der Republik ist deshalb vielfältig: In seiner Eigenschaft als Chefarchitekt des Erziehungsministeriums realisierte er Bauten, die in den frühen Dreißigerjahren gewissermaßen prototypisch waren; als Dekan der damals einzigen Architekturschule des Landes wiederum prägte er die Ausbildung der ersten im Land geschulten Architektengeneration und wurde gleichzeitig – über das Millî Mimarlık-Seminar – zu einem der Begründer einer eigenständigen türkischen Moderne.

Moderne an der Peripherie als „Andere Moderne“

Die türkische Moderne der frühen Republik im Zeitraum zwischen etwa 1927 und 1935 ist zunächst als „Mosaik“ formal ähnlicher, da durch einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund geprägter, aber untereinander kaum koordinierter Einzelbeiträge ausländischer Architekten zu sehen; ein Mosaik, das in der Summe seiner Einzelteile ein Gesamtbild einer Architektur von durchaus beachtlicher Qualität und Ausdrucksstärke ergab. Ermöglicht wurde dies auch durch den weit verbreiteten Glauben an die gemeinsame Aufgabe im Prozess des „Nation Building“ und durch die visionäre und motivierende Persönlichkeit Atatürks.

Da diese pragmatisch-monumentale türkische Moderne jedoch von Ausländern gestaltet wurde, erwuchs diesem Projekt mehr und mehr Widerstand seitens einer neuen Generation türkischer Architekten – ohne dass diese jedoch selbst eine klare und eindeutige Vorstellung von einer eigenständigen „türkischen“ Architektur gehabt hätten. Tatsächlich war die Moderne der frühen Republik in wesentlichen Teilen eine „importierte Moderne“, da die ausländischen Architekten gewissermaßen ein Monopol auf die prestigeträchtigen Grossaufträge zur Etablierung der staatlichen Verwaltung hatten. Diesen öffentlichen Bauten ausländischer Architekten standen nur verhältnismäßig wenige markante türkische Beiträge gegenüber.

Über Ihre Arbeit als Architekten, Planer und Lehrer haben die deutschsprachigen Architekten in nicht unwesentlichem Maße dazu beigetragen, eine neue Bau-Tradition zu begründen. Wie die Architektur der modernen Türkei ohne die Beiträge der ausländischen Architekten geworden wäre, darüber lässt sich bestenfalls spekulieren. Die moderne Architektur der 1920er- und 1930er-Jahre in der Türkei hat das gesellschaftliche Projekt nicht nur gespiegelt, sondern sie hat es auch mitgeformt. Die Faszination für die Moderne und der damit verbundene Glaube an eine bessere Zukunft in einer selbstbewussten Nation bildeten den Antrieb für die Gestaltung einer neuen, eigenständigen Architektur, die zu einem beachtenswerten Element der modernen Architekturgeschichte geworden ist.

Dr. sc. techn. Oya Atalay Franck

Goethe-Institut Ankara
2010