Guilty pleasures: Kennen wir alle, aber früher sollte niemand etwas davon wissen. Heute ist das umgekehrt. Berit Glanz entdeckt mehr und mehr Persönliches und Peinliches im Internet, offensiv und weltweit dargeboten – und meistens zutiefst menschlich.
Wir alle tun manche Dinge sehr gerne oder zumindest regelmäßig, sprechen jedoch sehr ungern darüber. Nächtliche Snacks, zu lange im Bett liegenbleiben und endlos durch den Feed doomscrollen, heimlich die Nachbarn beobachten, all das gehört dazu. Diese „guilty pleasures“ – ein Begriff, für den es bis heute keine wirklich treffende deutsche Übersetzung gibt – sind uns manchmal sozial oder ästhetisch unangenehm. Denn sie entlarven Seiten unserer Persönlichkeit, die wir lieber verborgen halten, manchmal sogar vor uns selbst.Wir essen dreimal pro Woche Tiefkühlpizza, obwohl wir eigentlich auf unsere Gesundheit achten wollen. Wir kauen beim Filmeschauen an unserer Nagelhaut oder sehen uns endlos eklige YouTube-Videos an, in denen Pickel und Abszesse geöffnet werden. Manche dieser Lieblingshandlungen bewegen sich sogar im Graubereich der Legalität, etwa das wiederholte falsche Einscannen an der Selbstzahlerkasse im Supermarkt oder der morgendliche Mundraub am Apfelbaum des Nachbarn.
Inszenierte Selbstdarstellung
Die sozialen Medien lieben genau diesen Aspekt von Menschlichkeit. Denn dort hat sich in den letzten Jahren eine Kultur der Authentizität etabliert, geprägt von permanentem Oversharing und der Offenbarung eigener Wunden, dunkler Seiten und Fehler. Diese vermeintlich authentische, in Wahrheit jedoch meist sorgfältig inszenierte Selbstdarstellung führt dazu, dass sich eigentlich fremde Menschen in den Timelines mit einem Account identifizieren und sogenannte parasoziale Beziehungen entstehen.Das Teilen von Geheimnissen, Geständnissen und Beichten – auch anonym – ist seit den Anfängen des Internets eine zentrale Praxis. In Foren und Subreddits, auf Seiten wie Grouphug oder über Twitter-Bots wie @Fesshole wurden jahrelang die privatesten Momente anonym veröffentlicht und anschließend lebhaft diskutiert. Menschen lieben es, über soziales Drama, Peinlichkeiten und moralisch fragwürdiges Verhalten zu debattieren und das Internet liefert unaufhörlich neuen Stoff dafür.
Raus aus der Anonymität
Während früher noch verschämt die Anonymität gesucht wurde oder anonyme Foren als Ort für kreative Schreibübungen dienten, auf der Menschen möglichst absurde Geschichten erfanden, um mit ihrem „Geheimnis“ maximale Reichweite zu erzielen, zeigt sich heute ein gegenteiliger Trend. Auf TikTok und Instagram kursieren seit einiger Zeit immer wieder Memes, in denen Geständnisse offensiv zur Schau gestellt werden. Der Internetausdruck #SorryNotSorry beschreibt diesen Gestus wohl am treffendsten: Es geht darum, zwar anzuerkennen, dass man etwas preisgibt, für das man sich eigentlich entschuldigen müsste, es aber dennoch zu tun und trotzig auf jedes Schuldgefühl zu verzichten.Seit einiger Zeit tauchen in meiner mehrsprachigen Timeline immer wieder Videos mit den Hashtags #UnfortunatelyIDoLove oder #LeiderLiebIch auf. Darin filmen sich Menschen selbst und legen als Text all jene Dinge über das Video, die man eigentlich nicht tun sollte, die man aber dennoch liebt. Oft, wenn auch nicht immer, ist dieses Format mit dem über fünfzig Jahre alten Song Rocky Mountain Way von Joe Walsh unterlegt, der die #SorryNotSorry-Outlaw-Haltung ziemlich treffend einfängt.
Globale Freude an Geständnissen
Manches in diesen Videos ist banal, anderes ein bisschen erschreckend und vieles einfach sehr sympathisch und zutiefst menschlich. Mir gefällt die kollektive Schreibpraxis, mit der diese kleinen Sünden und Fehler formuliert werden. Ich beobachte außerdem, wie der Trend sich ausbreitet und in verschiedenen Sprachen eigene Namen bekommt. Internetmemes leisten in ihrer globalen Ausbreitung nämlich fortwährend Übersetzungsarbeit. Aus dem englischen #UnfortunatelyIDoLove wird das deutsche #LeiderLiebIch. Über alle Sprachen und Kulturen hinweg teilen wir offenbar die Freude daran, über unsere Vorlieben und die Geständnisse anderer nachzudenken und bei Memes mitzumachen, die uns dafür Gelegenheit bieten.Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
Oktober 2025