Was haben Stummfilme und TikTok-Clips gemeinsam? Warum sind Lip-Sync-Videos Mini-Dokumente gelebter Mehrsprachigkeit? Berit Glanz kennt die Antworten – und freut sich über spielerische Playback-Memes in ihrem Feed.
Es ist kein Zufall, dass auf TikTok ständig Lip-Sync-Videos und entsprechende Memes im eigenen Feed auftauchen. Schon in den Jahren von 2014 bis 2018, als die App noch Musical.ly hieß, war das Lip-Syncing zu Songs der zentrale Inhalt. Die sehr junge Nutzerbasis erstellte in dieser Frühzeit der Plattform kurze Clips von sich selbst, in denen sie gefiltert oder ungefiltert, in normaler oder beschleunigter Geschwindigkeit die Lippen zu zuvor ausgewählten Liedern bewegte. Ein Format, das damals vor allem bei jungen Mädchen beliebt war – sie entdecken oft besonders früh neue Trends.So körperlich wie der Stummfilm
Beim Blick auf die Frühphase einer Social-Media-Plattform kann man einiges darüber erfahren, mit welchem Grundkonzept menschlicher Interaktion und Kommunikation sie gestartet ist. Diese Ansätze prägen die Plattform meist bis in die Gegenwart. So stand auf Twitter anfangs der Text im Mittelpunkt, auf Facebook das soziale Netzwerk und die Pflege von Kontakten, auf Instagram das Teilen von Bildern aus dem Alltag. TikTok wiederum begann mit Videos spielerischer, ästhetischer Praxis, nämlich mit Lip-Syncing und Tanz zu populären Songs.Wie stark sich die frühen Jahre von TikTok und der frühe Stummfilm in ihren Werkzeugen, visuellen Mitteln und ästhetischen Interessen ähneln, ist an vielen Stellen nachzulesen. Besonders die erzwungene Kürze und die eingeschränkte Kameraperspektive führten bei beiden zunächst dazu, dass Körperlichkeit, Tanz, Slapstickhumor und überraschende visuelle Effekte dominierten. Mir gefiel in diesen ersten Jahren, wie auf TikTok immer wieder Stilmittel und Techniken auftauchten, die mir durch mein Interesse am Stummfilm bereits vertraut waren.
Ein Ohrwurm – hundertfach interpretiert
Im Gegensatz zum Stummfilm sind TikTok-Trends jedoch gemeinschaftlich. Sie sind ein zentrales Element jener Kultur der Digitalität, wie sie der Medienwissenschaftler Felix Stalder bereits 2016 beschrieben hat. Diese Gemeinschaftlichkeit der sozialen Medien, in denen Trends nie isoliert entstehen, sondern durch Wiederholung und wechselseitige Referenzen zu viralen Memes werden, führt gerade bei Lip-Sync-Videos dazu, dass beinahe der Eindruck eines zeitversetzten chorischen Sprechens entsteht.In den letzten Monaten verbreitete sich beispielsweise der Song Golden aus dem Netflix-Film K-Pop Demon Hunters viral. Auf TikTok wurde das Lied rauf und runter verwendet: für Tänze, Lip-Sync-Videos und kreative Neuinterpretationen in den unterschiedlichsten Stilen. Die einzelnen Clips überzeugen in solchen Fällen nicht unbedingt durch Originalität, sondern vor allem dadurch, dass sie einen bereits etablierten Ohrwurm bedienen. Und wie bei vielen K-Pop-Hits war auch hier die Mischung aus koreanischen und englischen Liedzeilen niemals hinderlich. Im Gegenteil: Viele zeigten mit ihren Videos, wie mühelos ihnen der Wechsel zwischen den Sprachen oder in die zwei Fremdsprachen gelingt.
Gelebte Mehrsprachigkeit
Es wird jedoch nicht nur zu Songs kollektiv gesungen oder die Lippen bewegt. Auch virale Sounds führen immer wieder zu neuen Videos, in denen sich Menschen zu Klangausschnitten aus anderen TikToks oder Hollywoodfilmen inszenieren oder diese phonetisch nachahmen. Gemeinsam ist all diesen Playback-Situationen ein spielerischer Übungseffekt. Schließlich geht es jedes Mal auch darum, mit der Stimme eines anderen zu sprechen oder die Lippen zu bewegen - manchmal in einer Fremdsprache, manchmal einfach nur in einer anderen Tonalität oder mit verändertem Sprachrhythmus.Ich betrachte diese viralen Trends als eine Art Fingerübung in verschiedenen Sprechweisen und in gelebter Mehrsprachigkeit, sogar wenn sie nur aus dreißig Sekunden Teilnahme an einem Meme bestehen. In den sozialen Medien vermischen sich Sprachen ständig, und regelmäßig kommen Personen mit unterschiedlichsten Hintergründen zusammen, wenn wir für einen viralen Moment alle denselben Song lip-syncen.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
Oktober 2025