Schon lange nicht mehr hat ein Musikvideo für so viel Erregung im Social-Media-Kosmos gesorgt wie der Song „Berghain“, performt von der spanischen Sängerin und Songwriterin Rosalía. Auch Berit Glanz ist hingerissen – vor allem, weil im Internet so schön kollektiv darüber gerätselt wird.
Ende Oktober 2025 veröffentlichte die spanische Sängerin und Pop-Ikone Rosalía ihre Single samt Musikvideo zu ihrem Song Berghain, der seitdem die sozialen Medien in Atem hält. Der Song ist auf Deutsch, Spanisch und Englisch gesungen, wird vom London Symphony Orchestra (LSO) unter der Leitung des isländischen Dirigenten Daníel Bjarnason begleitet, und auch die isländische Künstlerin Björk sowie der US-Amerikaner Yves Tumor sind daran beteiligt. Abgesehen vom Titel, spielt der Berliner Club Berghain zwar weder im Song noch im Video eine explizite Rolle, doch die zahlreichen Bezüge zur deutschen Sprache, Operntradition und Clubkultur sind unübersehbar.Lustvolle Suche nach Bedeutung
Seit es das Video gibt, versuchen Fans im Internet, den Songtitel, die Berliner Technokultur und die deutschsprachigen Zeilen des Songs miteinander in Verbindung zu bringen. Ein im Zugang legendär beschränkter Club in einem ehemaligen Heizkraftwerk, mystische Spiritualität, klassische Musik und Opernarien – Themenfelder, die bereits in der Vorab-Promo zu Berghain angedeutet wurden und ganz unterschiedliche Interpretationen inspirierten. Die Mehrdeutigkeit des Songs und des dazu entstandenen Materials, bestehend aus verschlüsselten Hinweisen, Vorabinformationen und einer starken Bildsprache in den sozialen Medien, hatten schon vor der Veröffentlichung die Vorfreude drastisch gesteigert. Der anhaltende Erfolg von Rosalías neuem Song in den sozialen Medien, hat auch nach der Veröffentlichung wesentlich mit der Lust am Dechiffrieren eines Kunstwerks zu tun, das auf vielen Bedeutungsebenen arbeitet. Mich interessieren an dem Song als Internetphänomen besonders zwei Aspekte: die Mehrsprachigkeit und die kollektive Kreativität der Rezeption.Singende Rotkelchen und andere Rätsel
Die mystisch verschlüsselten Liedzeilen, die mit den großen Themen Liebe und Tod jonglieren, erfordern durch ihre Mehrsprachigkeit vor jeder Deutung zunächst eine Übersetzungsleistung. Auch das ätherische Musikvideo, in dem Björk als singendes Rotkehlchen erscheint und Rosalía verschiedene ikonische Kleidungsstücke des verstorbenen Modedesigners Alexander McQueen trägt, inspirierte zahlreiche Analysen in sozial-medialen Posts und Videos, in denen die verschiedenen modischen Zeichen erklärt und gedeutet wurden. Hinzu kommt, dass Rosalía bereits vor der Veröffentlichung des Songs die Partitur mit ihren Fans teilte. Die Folge: Es kursierten bald viele Videos, in denen Menschen das Stück auf unterschiedlichen Instrumenten ausprobierten und so eine Art kollektive Sneak Preview des Songs produzierten.Große Gefühle – opernhaft zelebriert
Nach der Veröffentlichung entstanden sehr rasch zahlreiche Remixes. Selbstverständlich sind nicht alle vom Song beeindruckt; immer wieder gab es auch Kritik an der pompösen Ästhetik, die angeblich große Emotionen nur vorgaukeln würde. Der opernhafte Anfang des Stücks verweist immerhin auf eine Musiktradition, in der große Gefühle an der Grenze zum Kitsch einerseits und Mehrsprachigkeit andererseits zum Standard gehören. Es ist ein wesentlicher Bestandteil der Opernausbildung, auch in Fremdsprachen zu singen, schließlich zeichnet sich das klassische Opernrepertoire durch seine Sprachenvielfalt aus. Auf die international erfolgreiche deutsche Operntradition spielt Rosalía auch mit der deutschen Passage ihres Liedes an. Die zahlreichen Versuche von Internetnutzer*innen, diese Zeilen zu übersetzen und in Beziehung zu den spanischen und englischen Passagen zu setzen, sind Teil des Sprachspiels, das dieses Kunstwerk entfaltet.Monumentalkunst
Dabei sind die vom Chor gesungenen deutschsprachigen Zeilen des Liedes durchaus kitschig: „Seine Liebe ist meine Liebe / Sein Blut ist mein Blut.“ Ästhetisch greifen diese Zeilen einerseits den schwärmerischen Stil der deutschen romantischen Oper auf, rufen jedoch durch ihre brachiale sprachliche Vereinfachung zugleich die monumentale Ästhetik der titelgebenden deutschen Technokultur auf. Besonders gelungen ist die ironische Brechung dieser Monumentalität in der von Rosalía gesungenen zweiten Strophe, wenn eine Flamme „wie ein Blei-Teddybär“ in das Gehirn eindringt. Der chorische Gesang wird schließlich von Björks typisch mystischen Zeilen unterbrochen, in denen sie als einzigen Weg zur Rettung die göttliche Intervention besingt. All das fügt sich in ein Kunstwerk, das als Internetphänomen zu vielfältigen Interpretationen und Weiterverarbeitungen einlädt – und dessen poetische Mehrsprachigkeit ein entscheidender Teil seiner Anziehungskraft ist.Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
November 2025