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Goethe-Institut im Exil

Interview
mit Vera Dziadok

Tausende Kunst- und Kulturtätige aus Belarus sehen sich wegen der massiven politischen Repressionen und Verhaftungen seit 2020 gezwungen, in europäische Nachbarländer zu fliehen – viele von ihnen setzen sich im Exil weiter aktiv für ein freies Belarus ein. So auch die Journalistin, Übersetzerin und Kulturmanagerin Vera Dziadok. Von 2008 bis 2021 arbeitete sie als Koordinatorin der Kulturprogramme im Goethe-Institut Minsk, bis das dort ansässige Institut schließen und sie ihre Heimat verlassen musste. Im Jahr 2024 kuratierte sie den Länderschwerpunkt Belarus beim Goethe-Institut im Exil. Im Interview erzählt sie, wie sich die äußerst lebendige belarussische Kunst- und Kulturszene zum Motor der neuen Protestkultur gegen das Regime entwickelte und wie es den Künstler*innen heute geht.
Frau Dziadok, Sie haben sowohl die relativ liberalen Zeiten von 2016 bis 2019 hautnah miterlebt, in der sich Minsk zu einer dynamischen und offenen Stadt entwickelte, als auch die zunehmend repressiven Jahre bis zur Zwangsschließung des Goethe-Instituts 2021. Was war Ihre Herangehensweise und wie gestaltete sich Ihre Arbeit in dieser fluktuierenden Zeit?

Der Ansatz des Goethe-Instituts war immer mit der Kulturszene zusammenzuwachsen, ihre Sorgen und Bedürfnisse zu vernehmen und genau diese Vitalität und Diversität zu fördern. Unabhängige kulturelle Akteure wie zum Beispiel die „Minsk Urban Platform“, ein Team junger Fachleute, das landesweit an der Verbesserung der städtischen Infrastruktur arbeitet, war viele Jahre lang Partner des Instituts. Sie boten eine starke Alternative zur staatlich geförderten Kunst. Die Zusammenarbeit mit dem International Film Festival Listapad und dem International Theatre Forum TEART in den Jahren 2013 – 2020 etwa erlaubten dem Publikum in Minsk Zugang zu experimentellen Formaten sowie einen Austausch mit der deutschen Kulturszene.

Wir haben uns insbesondere für jene Bereiche eingesetzt, die von der Regierung, ob bewusst oder unbewusst, unzureichend oder gar nicht unterstützt wurden. Zum Beispiel haben wir eine VR-Rekonstruktion einiger Synagogen unterstützt und andere Projekte, die jüdische Kultur vor allem jungen Menschen näherbringen.

Gleichzeitig muss man sagen, dass die liberalen Zeiten auch nur bedingt liberal waren, auch damals gab es bereits politische Gefangene. Im Nachhinein ist klar geworden, dass es unrealistisch war, nach der Anfangsphase des Kriegs in der Ukraine ernsthaft an eine Liberalisierung zu glauben.


Wie erlebten Sie den Sommer 2020? Gab es ein Moment, ein ausschlaggebendes Ereignis, das Ihnen klar machte, ich werde das Land verlassen müssen?

Überhaupt nicht, 2020 war es noch nicht abzusehen. Ganz im Gegenteil, in diesem Jahr war zum ersten Mal seit 1996/1997 nahezu die ganze Nation auf der Straße. Es lag eine Euphorie in der Luft, es war unglaublich zu sehen, wie ganz unterschiedliche Leute sich den Protesten anschlossen, es entstand eine Stimmung der Zugehörigkeit. Damals hatte ich zum ersten Mal in diesem Land das Gefühl, keiner Minderheit anzugehören, sondern meine Hoffnungen mit vielen Menschen zu teilen. Es herrschte eine einzigartige Atmosphäre der Kreativität, in der jede*r zum Künstler oder zur Künstlerin wurde. Auf den Sonntagskundgebungen gab es immer mehr neue witzige und schöne Plakate zu bestaunen, überall fanden kleine Performances statt. Die Teilnehmenden arbeiteten die ganze Woche an ihren Looks, es war wie auf einem Festival. Und die Menschen dort reagierten auf die Anschuldigungen der Politik aus dem Fernsehen. Als der regierende Amtsinhaber die Demonstrierenden als Huren und Alkoholiker beschimpfte, konterten diese mit einer Parole: „Sind die Huren da?“ „Ja!“ „Die Alkoholiker?“ „Ja!“ Sehr viele Memes sind in dieser Zeit entstanden, die später viral gingen und als Sticker und in anderer Form reproduziert wurden. Es gab eine Gruppe von Frauen, die spontane Kundgebungen an unerwarteten Orten veranstalteten. Sie wurden als die „Frauen mit den Regenschirmen in den Farben der Revolution“ bekannt, ihre Aktionen bezogen sich auf tagesaktuelle Themen. In den ersten Wochen nach den gefälschten Wahlen kamen vor dem Eingang der Philharmonie in der Mittagspause mehrere Sänger*innen zusammen und sorgten mit ihren Liedern bei den Menschen für Stimmung. Später trat der Volny Chor in Bahnstationen und Kaufhäusern auf:
 
Selbst an den drei schlimmsten Tagen und Nächten nach dem Wahltag versammelten sich unzählige Menschen vor dem Gefängnis an der Akrestina Straße, sie unterstützten einander, boten Hilfe jeder Art an. Die Solidarität und der Zusammenhalt innerhalb der Zivilbevölkerung waren so stark wie nie zuvor.

Im Herbst hat der repressive Apparat angefangen zurückzuschlagen. Ein Ereignis hat mich besonders erschüttert – es handelte sich um ein Video im staatlichen Fernsehen, das einen offensichtlich gefolterten Aktivisten zeigte. Längst ist es zu einer gängigen Praxis der Polizei geworden, solche „Beweise“ ohne jeden Skrupel zu veröffentlichen. Ich frage mich: Was ist da schiefgelaufen, seit wann ist so etwas möglich, welches pervertierte Rechtsverständnis und welche Moralvorstellung liegen solchen Handlungen zugrunde? Für mich ist sicher: Diese Video-Aufnahme wird noch eine Rolle spielen in der Aufklärung der Verbrechen gegen das belarussische Volk.


Welche kulturellen und subkulturellen Strömungen waren und sind bis heute wegweisend für die Proteste innerhalb des Landes? Welche Rolle spielte das im Programm des Minsker Goethe-Instituts?

Ich glaube, der Wunsch sein Leben frei gestalten zu können, hat die Proteste ausgelöst. Diese Diskrepanz zur Regierung hat die Menschen auf die Straße getrieben, sie erkannten sich in der steifen und starren staatlichen Politik nicht wieder. Vor allem, was die Rolle der Frau betraf, gab es einen heftigen Widerspruch zu dem offiziell vermittelten Bild, aber die Proteste richteten sich auch gegen die Unsichtbarkeit anderer marginalisierter Gruppen in der Politik. Auch dekoloniales Denken war und bleibt sehr wichtig und spiegelte sich deshalb auch deutlich im Programm des Goethe-Instituts wider.

Als eine der letzten Veranstaltungen haben wir mitten in der Pandemie Konzerte als öffentlich zugängliche Live-Streams in einem abgelegenen Dorf veranstaltet. Diese Musikveranstaltungen konnten wir nur in Zusammenarbeit mit einem wunderbaren Festival realisieren, das es geschafft hat, sich auf dem Land zu etablieren und damit die lokale Community zu stärken.


Wie würden Sie die aktuelle Situation der unabhängigen belarussischen Kultur- und Kunstszene innerhalb von Belarus beschreiben? Gibt es noch Künstler*innen, die sich im Land gegen die Repressionen zur Wehr setzen?

In Belarus wird alles Andersdenkende verfolgt. Dort wurden bestimmte Methoden entwickelt, z. B. werden Autor*innen zu „Extremist*innen“ erklärt, was für ihre Follower bedeutet, dass sie bereits für ein Like oder Kommentar auf Social Media verhaftet werden können. Das wird auch rückwirkend angewendet, z. B. für Posts, die zehn Jahre zurückliegen können.

Zusätzlich zu den Propagandist*innen, die für offizielle Behörden arbeiten, ist Denunziation zu einer Art Sport geworden. Eine Denunziantin hat es sich sogar zur Aufgabe gemacht, Künstler*innen und Initiativen zu melden, die sie für subversiv hält.

Belarussische Werke werden aus dem Schulcurriculum gestrichen, Bücher werden auch physisch aus den Bibliotheken verbannt. Wie ein Freund von mir, der Literaturkritiker Tsichan Tscharniakievich, es ausgedrückt: „Dort versuchen sie, Bücher zu verbieten, hier versuchen wir, neue Bücher zu schreiben.“ Das Janka Kupala Theater, das älteste Schauspielhaus in Belarus, wurden Schauspieler*innen aus Russland geholt, weil sich nach der Kündigung des Ensembles 2020 niemand auf die Stellen beworben hat.

Insgesamt wird der Kulturbetrieb in den russischen Kulturraum integriert. Auch in anderen Lebensbereichen geschieht eine Anpassung an Russland. Das zeigt sich beispielsweise auch bei Gesetzesentwürfen zu den Themen LGBT und „childfree“, die offensichtlich nach dem Vorbild Russlands gestaltet wurden.

Es gibt in Belarus trotzdem noch Künstler*innen und kleine, aber mutige Aktionen. Über viele werden wir erst post factum erfahren. Vieles verlagert sich ins Private, Konzerte finden in Wohnungen, Veranstaltungen im ländlichen Raum statt. Zugleich verwandeln sich private Feiern oft in ein improvisiertes Kulturprogramm. Ich bin mir sicher, dass im Hintergrund gerade neue Werke entstehen und dass wir noch staunen werden über die Entwicklungen vor Ort. Beispielsweise berichtet Maxim Znak in seinem Buch Zekameron von seinen Erfahrungen in Untersuchungshaft. Außerdem ist in Belarus eine neue Generation herangewachsen, die 2020 vielleicht gerade einmal sechszehn Jahre alt war und jetzt auf TikTok und Youtube kreativ wird. Es ist erschreckend zu beobachten, dass immer wieder junge Leute wegen ihrer Beiträge in Sozialen Medien festgenommen werden.


Wie erleben Sie die Stimmung und die Sicherheitslage unter belarussischen Kunst- und Kulturtätigen, die in Vilnius, Berlin, Warschau oder Tbilissi im Exil leben? Und wie hat sie sich seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine verändert?

Viele haben das Exil auch als eine Chance empfunden. In Belarus lebte man ziemlich isoliert und die Künstler*innen hatten wenig Möglichkeiten, sich international auszutauschen. Dies wirkte sich auch auf ihre Werke aus. In dieser Hinsicht haben sich in Bezug auf die Professionalisierung auch positive Entwicklungen gezeigt. Die Künstler*innen und Kulturtätige sind gut ausgebildet, sie arbeiten technisch auf hohem Niveau, sie haben Ideen und etwas zu bieten. Ein Beispiel ist der Jazzmusiker Pavel Arakelian in Litauen oder auch der Akkordeonspieler Yahor Zabelau in Polen, beide sind mittlerweile sehr gefragt und bekannt und geben heute mehr Konzerte als zuvor in Minsk.

Für die Sparten Literatur und Sprechtheater ist es natürlich schwieriger, da für sie die Sprache ein wesentlicher Faktor ist. Insgesamt haben viele Musiker*innen, bildende Künstler*innen, Performer*innen ihre Horizonte erweitern und ihr Publikum finden können.

Große Schwierigkeiten haben Theatergruppen, die Wert darauf legen, weiter als komplettes Ensemble zusammen zu arbeiten, wie z. B. die Truppe des Janka Kupala-Theaters, die unter dem Namen Volnyja Kupalaucy in Warschau aktiv ist. Dies ist der einzige Fall, bei dem fast das ganze Team gekündigt hat. In den letzten drei Jahren haben sie neun Premieren gefeiert und verhandeln nun über die Anmietung eines Hauses in Warschau. Nichtsdestotrotz ist es kein Geheimnis, dass viele Künstler*innen ihr Brot durch Taxifahren oder sonstige Gelegenheitsjobs verdienen, aber zumindest haben sie, in dem erwähnten Beispiel, die Grundidee des Theaters erhalten.

Durch das Exil haben viele die Kultur der Nachbarländer näher kennen gelernt, die Sprache gelernt, es ist ein regelrechter Boom von Übersetzungen aus dem Litauischen bemerkbar.

Was die Sicherheit angeht, so erreichen auch im Exil einige Künstler*innen Beschimpfungen und Hate Speech der staatlichen Propaganda, wobei ich persönlich vermute, dass diese Passagen längst eine KI schreibt.

Die Netzwerke arbeiten weiter. Wir waren es aus Belarus gewohnt, ohne staatliche Förderung zu planen, in diesem Sinne hat sich für Kulturtätige wenig geändert. Die Netzwerke und Strukturen haben sich im Exil schnell wieder aufgebaut, etwa das Theaterinstitut und die Belarusian Independent Film Academy. Verlage haben auch in Belarus keine staatliche Unterstützung bekommen und waren nicht gegen den riesigen russischen Markt geschützt, also verkaufen sie jetzt digital und versuchen so, andere Absatzwege zu finden.

Wer als Kulturschaffende*r in Belarus überlebt hat, wird es im Exil leicht schaffen.


Welche Zukunftsaussichten hat die zeitgenössische Kunst- und Kulturszene in Belarus und im Exil?

Nachdem der Künstler Ales Puschkin im August 2023 im Gefängnis gestorben ist, fällt es mir sehr schwer, über die Aussichten der Kulturszene zu sprechen, vor allem über die Aussichten der Künstler*innen. Wir befinden uns mitten in einem Krieg. Andererseits ist die Nachfrage in Belarus enorm hoch. Für die wenigen Kulturveranstaltungen stehen die Menschen teilweise stundenlang Schlange. Im Exil wird sich die Kultur integrieren, austauschen, öffnen – und vielleicht wird sie etwas mitnehmen für die Zukunft in Belarus.


Dieses Interview wurde im Herbst 2024 schriftlich geführt. Die Fragen stellte Rebecca Ellsäßer, Mitarbeiterin des Projekts Goethe-Institut im Exil.

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