Flucht mit Behinderungen  „Hier sind wir doch alle krank!“

Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon am 4. April 2022 auf einer Protestaktion auf der Autobahn A2 an der deutsch-polnischen Grenze: Aktivist*innen erzeugten einen künstlichen Stau in Richtung Berlin, um die deutsche Regierung dazu zu bringen, stärkere EU-weite Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu befürworten.
Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon am 4. April 2022 auf einer Protestaktion auf der Autobahn A2 an der deutsch-polnischen Grenze: Aktivist*innen erzeugten einen künstlichen Stau in Richtung Berlin, um die deutsche Regierung dazu zu bringen, stärkere EU-weite Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu befürworten. Foto: © Peggy Lohse

Oleksandr Nikulin und sein Partner Denys Kutsekon erlebten die erste Woche des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in Kyjiw. Darauf folgten zwei Wochen voller bürokratischer Schwierigkeiten in der südwestlichen Grenzstadt Uschhorod, bis Militär und Grenzschutz sie aufgrund ihrer chronischen Erkrankungen letztlich doch ausreisen lassen. Nun selbst in Sicherheit, organisiert Nikulin für die NGO „Fight for Right” Evakuierungen von Menschen mit Behinderung aus dem Kriegsgebiet. Im Gespräch mit unserer Autorin Peggy Lohse blickt er auf die sich überschlagenden Ereignisse des ersten Kriegsmonats zurück und erläutert die Arbeit seines Vereins.

22. Februar 2022: „Scheiße, es gibt Krieg!“

Vor dem 24. Februar lebten wir ein ganz normales, routiniertes Leben. Auf meiner Arbeit im Chemielabor sollten neue Projekte beginnen. Bei Fight for Right planten wir einen Tanzworkshop für Menschen mit Behinderung, einen Blog mit persönlichen Geschichten besonders aktiver und herausragender Persönlichkeiten mit Behinderung sowie einen Dokumentarfilm über die Dscharylhatsch-Pride letztes Jahr. Privat planten wir, wie wahrscheinlich jedes Paar zu Jahresbeginn, Besuche bei unseren Müttern im Donezker und Chersoner Gebiet, und wollten meine Schwester nach Kyjiw einladen.
 

„Kiew“ ist die deutsche Version des russischen Namens der ukrainischen Hauptstadt. Auf Ukrainisch heißt es Київ (Kyjiw). Spätestens seit der Invasion ist die Bezeichnung „Kiew“ zu einem symbolischen Überbleibsel der russisch-sowjetischen Kolonialisation geworden. Respektvoller ist es, die Hauptstadt der Ukraine als „Kyjiw“ zu transkribieren. | Anm. d. Red.

Es war surreal: Im Dezember waren in Kyjiw schon Fliegeralarm-Sirenen getestet worden. Medien verbreiteten Karten mit Schutzräumen in der Stadt und informierten, was die Bevölkerung im Falle eines Angriffs tun muss. Wir hatten keinen „Fluchtkoffer“ vorbereitet. Dachten, wenn wir loslaufen müssen, schnappen wir uns sowieso nur das Katzenklo, Futter und ein paar Klamotten.

Aber als Putin dann in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar die Anerkennung der selbsternannten, sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk unterschrieb, war mir klar: Scheiße, es gibt Krieg! Aber bis zuletzt dachten wir, der Angriff würde vom Donbas ausgehen, bis er Kyjiw erreichen würde, hätten wir noch viel Zeit gehabt.

24. Februar 2022: „Kaum zu glauben, was da gerade passiert!“

Am 24. Februar um halb fünf Uhr morgens weckten uns Explosionsgeräusche. Aber ich war noch so blöd und dachte im Halbschlaf: Sollte da draußen wirklich schon Krieg sein? Ach Quatsch, besser weiterschlafen. Erst als Denys dann aufgeregt durch die Wohnung lief und Sachen zusammenpackte, klappte ich den Laptop auf. Dort zeigten die Nachrichten: Russland hat die Ukraine überfallen. Ein totaler Krieg.

Flagge zeigen für die Ukraine: Seit dem 21. Februar (dem Tag, als Russlands Staatschef Putin die selbsternannten, sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine offiziell anerkannte) hing die Staatsflagge weithin sichtbar auf den Kyjiwer Balkon von Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon, bis die beiden die Hauptstadt in Richtung Westen verließen. Flagge zeigen für die Ukraine: Seit dem 21. Februar (dem Tag, als Russlands Staatschef Putin die selbsternannten, sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine offiziell anerkannte) hing die Staatsflagge weithin sichtbar auf den Kyjiwer Balkon von Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon, bis die beiden die Hauptstadt in Richtung Westen verließen. | Foto: © Oleksandr Nikulin Seit diesem Morgen läuft in meinem Laptop immer der Info-Marathon der jetzt vereinten Fernsehkanäle. [Auf allen ukrainischen TV-Kanälen läuft seit dem 24.2. das gleiche Programm mit Nachrichten, Informationen und Interviews rund um den Kriegsverlauf. Anm. d. Red.] Wir verfolgten die Nachrichten und gleichzeitig Telegram-Kanäle und private Mitteilungen. Die ganze Zeit suchst du nach etwas, was du noch nicht erfahren hast.

Um 6 Uhr rief ich meine Mutter in Bachmut an, das liegt im von der Ukraine kontrollierten Donezker Gebiet. Denys telefonierte mit seiner Mutter im Gebiet Cherson. Meine Mutter reagierte wenig überrascht: „Wir leben schon acht Jahre so, unter Beschuss und Fliegeralarm, das ist ganz normal.“ Jetzt war bei ihr alles ruhig, und in Kyjiw begann ein Albtraum.

Während ich an meinem Arbeitsplatz die Labore sicherte, fuhr Denys ins Krankenhaus, um Medikamente zu besorgen. Wir sind beide HIV-positiv. Denys hat außerdem Probleme mit dem Rücken, einem Bein und dem Herzen. Ich habe zusätzlich eine Sehbehinderung. Als Kind hatte ich auch epileptische Anfälle. Lange Zeit war das kein Problem mehr für mich, aber seit dem Kriegsbeginn hatte ich immer wieder das Gefühl, dass sich neue Anfälle ankündigten.

Am Abend des 24. Februars waren in Kyjiw dann erstmals Luftalarmsirenen zu hören. Wir packten auch einen „Fluchtkoffer“ mit dem Nötigsten zusammen, aber vor allem für die Sprints in den nächsten Fußgängertunnel unweit unseres Hauses.

Eine Woche Kriegsalltag in Kyjiw

Der Keller in unserem Wohnblock ist nicht als Schutzraum geeignet, in den benachbarten Schutzkellern waren Tiere verboten. Also gingen wir mit unserer Katze Asja bei Fliegeralarm in einen Fußgängertunnel, der auch als Schutzraum ausgeschildert war. Er war auf beiden Seiten offen, es war windig, kalt und nicht wirklich sicher vor russischen Saboteuren.

In den ersten Kriegstagen war viel los in Kyjiw: Die Leute besorgten sich in den Geschäften Vorräte, warteten vor Geldautomaten, um Geld abzuheben. In den U-Bahn-Stationen sammelten sich immer mehr Menschen und richteten sich für längere Aufenthalte ein.

Im Schutztunnel lernten wir Studierende aus Indien kennen, die sogar in unserem Haus wohnten. Sie hatten Probleme mit der Sprache, also half ich ihnen mit meinem Englisch. Bevor sie lange online übersetzen mussten, was vor sich ging, sagte ich ihnen direkt Bescheid, wenn Nachbarn Lebensmittelkisten für unseren Aufgang brachten oder wenn sie sich dringend in Sicherheit bringen sollten. Als die Nachbarn ihnen einmal von den Einkäufen nichts abgeben wollten, weil sie ja nicht von hier kämen, verteidigten wir sie und brachten ihnen etwas. Denys gab auch an Obdachlose etwas ab, denn sie sind ja vom Krieg − wie schon von der Corona-Pandemie − besonders stark betroffen.

Kyjiwer Hausgemeinschaft in der ersten Kriegswoche: Im Schutztunnel lernten Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon auch mehr Nachbarn kennen, zum Beispiel eine Gruppe Studierender aus Indien. Kyjiwer Hausgemeinschaft in der ersten Kriegswoche: Im Schutztunnel lernten Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon auch mehr Nachbarn kennen, zum Beispiel eine Gruppe Studierender aus Indien. | Foto: © privat Ab dem zweiten oder dritten Tag wurde der öffentliche Stadtverkehr eingestellt, Geschäfte öffneten nur verkürzt, wenn überhaupt. Es gab nur wenige Lebensmittel zu kaufen. Man besorgte nicht mehr, was man wollte, sondern was es gab. Es fuhren nur noch Taxis, die Preise stiegen. Die Brücken über den Dnjepr wurden vom Militär und der Territorialverteidigung gesperrt, nur über einen Kontrollpunkt auf der Nordbrücke konnte man nun noch ans andere Ufer kommen.

На війні вибухи лякають не менше, аніж тривала тиша"

Manchmal gab es mehrmals am Tag Fliegeralarm. Einmal wollten wir Pelmeni kochen, dachten: Das geht schnell. Aber wir konnten nicht mal das Wasser zum Kochen bringen. Dreimal mussten wir an jenem Mittag in den Schutztunnel. Später entschieden wir uns, bei Alarm im Hausflur im Erdgeschoss zu bleiben. Das war näher und wärmer. Unsere „Fluchtkoffer“ wurden immer minimalistischer: Von anfangs vier Reisetaschen blieben am Ende noch zwei kleine Rucksäcke plus Katze.

Die Fußgängerunterführung war als Schutzraum kaum geeignet: zugig, kalt und in zwei Richtungen offen. Darum gingen Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon mit Katze und der nötigsten Verpflegung bei Fliegeralarm bald nur noch in den Hausflur in der ersten Etage, manchmal mehrmals am Tag, manchmal ganze Nächte lang. Die Fußgängerunterführung war als Schutzraum kaum geeignet: zugig, kalt und in zwei Richtungen offen. Darum gingen Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon mit Katze und der nötigsten Verpflegung bei Fliegeralarm bald nur noch in den Hausflur in der ersten Etage, manchmal mehrmals am Tag, manchmal ganze Nächte lang. | Foto: © Oleksandr Nikulin Als am Wochenende über den 26. und 27. Februar erstmals eine mehrtägige Ausgangssperre verhängt wurde, sahen wir von unserem Balkon aus verdächtige Personen, die auf benachbarten Hausdächern Markierungen anbrachten. Das war Horror, wir waren so hilflos! Bei der Polizei ging niemand ans Telefon, also informierten wir die Freiwilligen von der Territorialverteidigung, schrieen ihnen vom neunten Stock aus zu. Sie nahmen dann auch jemanden von den Typen fest.

28. Februar 2022: Flucht aus der Hauptstadt

Es war eine schwere Entscheidung, wir überlegten lange: Was können wir tun, wie können wir nützlich sein? Wir haben gesundheitliche Probleme, im Militärdienst würden wir eher stören als helfen. Nach dem Vorfall mit den Saboteuren auf den Dächern beschlossen wir wegzugehen.

Am 28. Februar machten wir uns mit einem befreundeten schwulen Paar und einem Freund auf den Weg. Zweieinhalb Stunden fuhren wir mit dem Taxi zum Bahnhof. Durch eine total leere Innenstadt: keine Autos, keine Menschen, nur Soldaten und Militärtechnik. Gespenstisch.

Am Bahnhof war ein Meer von Menschen. Alle drängelten zu den Zügen, Mütter ließen ihre Kinderwagen zurück. Ausländer wurden am Einsteigen gehindert. Das war schlimm. Wir wussten da noch nicht, wohin wir wollten. Nur nach Westen, in Sicherheit. In einen Zug nach Lwiw kamen wir nicht mehr rein, dann sprangen wir über die Gleise und erreichten noch einen Zug nach Uschhorod. Er kam aus Charkiw. Tickets brauchte man für diese Evakuationszüge nicht.

Von sieben Uhr abends bis etwa zwölf Uhr mittags am Folgetag waren wir in einem übervollen Zug unterwegs: mit zugezogenen Vorhängen und ohne Licht, damit der Zug im Dunkeln nicht zu sehen ist. Wir lagen im Bordrestaurant auf dem Boden, immer wieder kletterte eine Frau aus Charkiw über uns hinweg, die wegen ihrer Panikattacken zwischen den Wagen frische Luft schnappen wollte. Im Internet sahen wir, dass ein russischer Mehrfachraketenwerfer „Grad“ uns unterwegs passiert hatte. [In Telegram-Kanälen werden manchmal solche Informationen geteilt, wenn sie bekannt sind. Anm. d. Red.]

Die Züge fahren nicht ihre üblichen direkten Strecken, die Routen werden aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht. Unser Zug hielt erst am Vormittag wieder an, irgendwo in den Karpaten. Die meisten Menschen saßen die ganze Zeit über still und verschreckt da. Keine Kraft mehr für Emotionen. Im Krieg erschrecken dich Explosionen genauso wie anhaltende Stille.

1. März 2022: „Raucht doch Cannabis, wenn Euch die Medikamente ausgehen!“

Auch am Bahnhof in Uschhorod waren viele Menschen: Fliehende aus den Zügen, Freiwillige in gelben Westen, auf dem Vorplatz standen Busse bereit. Aber viel habe ich nicht mitbekommen. Wir hatten so einen Tunnelblick, darauf konzentriert, was wir jetzt zu tun hatten. Wir wurden von einem Freund in Uschhorod abgeholt, er zeigte uns ein bisschen die Stadt. Weil wir dachten, dass wir schon alle nötigen Dokumente zusammenhatten, kauften wir für den Abend direkt ein Busticket nach Košice, über die Grenze in die Slowakei. Von dort aus wollten wir dann weiter nach Deutschland. Die Verkäuferin an der Kasse sagte, Männern würden die Fahrkarten als letztes verkauft. Aber dann waren doch fünf übrig für uns.

Dieses Plakat in Uschhorod sagt sinngemäß: Russland, f**k dich! Dieses Plakat in Uschhorod sagt sinngemäß: Russland, fick dich! | Foto: © Oleksandr Nikulin An der Grenze stand der Bus knapp zwei Stunden. Freiwillige verteilten heißen Tee und Snacks. Dann stieg noch vor dem eigentlichen Grenzübergang ein Soldat in den Bus und kontrollierte die Passagiere. Wir zeigten ihm unser „Belyj Bilet”, den Ausschluss aus dem Wehrdienst aufgrund des Gesundheitszustands und sämtliche medizinische Nachweise. Das interessierte ihn nicht: Alle ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 sollten seiner Meinung nach kämpfen. Und wenn uns die HIV-Medikamente ausgehen? „Dann raucht eben Cannabis, hilft auch“, antwortete er uns flapsig. Ich hab mich noch nie so gedemütigt gefühlt.

Wir mussten aussteigen. „Ausreisen dürfen nur wirklich Behinderte und Väter von mindestens drei minderjährigen Kindern − und auch das nur nach meinem Ermessen!“, belehrte uns der Soldat noch. Niedergeschmettert liefen wir zurück in die Stadt. Am Bahnhof sitzend überlegten wir, ob wir jetzt mit einem leeren Zug nach Kyjiw zurückfahren sollten? In der Kleinstadt Uschhorod sind jetzt tausende Flüchtlinge unterwegs. Überall Menschen. Manche Einwohner reagieren schon genervt, weil ihnen die Ansprüche von manchen Flüchtenden zu hoch sind.

Für uns wurde es langsam spät. Wir brauchten eine Übernachtung. Das Schlaflager für Geflüchtete kam nicht in Frage, es kursierten Gerüchte, dass dort − wo Männer und Frauen getrennt untergebracht sind − Männer direkt zum Militär abgeholt würden. Wir hatten Glück: Über unsere NGO fand sich eine Bekannte von Bekannten, die mit ihrer Familie in Friedenszeiten auch Couchsurfing anbot und gern Besuch hatte. Dort kamen wir unter − alle fünf. Letztlich für ganze zwei Wochen.

Katze Asja versteckt sich seit der Flucht aus Kyjiw am liebsten unter Bettdecken. Katze Asja versteckt sich seit der Flucht aus Kyjiw am liebsten unter Bettdecken. | Foto: © Denys Kutsekon Am Folgetag versuchten wir noch einmal, über die Grenze zu kommen. Vielleicht hatte ja nur ein schlecht gelaunter Soldat Schicht gehabt. Aber auch das klappte nicht. Also blieben wir in Uschhorod.

3. bis 15. März 2022: „In dieser Schlange hier sind wir doch alle krank!“

In den kommenden Tagen besprach ich mich mit den Anwälten unserer NGO, versuchte es über eine Vertreterin von Amnesty International in Uschhorod und sogar einen geplanten Evakuierungskonvoi der Vereinten Nationen. Aber all diese Unternehmungen scheiterten immer wieder an den strengen Militärs an der Grenze, die in mehreren Reihen noch vor dem eigentlichen Grenzschutz die Ausreisewilligen kontrollieren.

Einmal wurden unser Freund und wir in Uschhorod von der Polizei angehalten, die uns befragte, was wir hier wollten und ob wir uns nicht besser direkt beim Militärstützpunkt zur Mobilisierung melden wollen? „Warum müssen unsere Jungs kämpfen und ihr nicht?“, scheinen sich alle zu fragen. Alle sind wütend, das kann man auch verstehen. Aber wir trauten uns nach diesem Vorfall mehrere Tage nicht aus dem Haus, versteckten uns sogar beim Rauchen auf dem Balkon hinter der Brüstung. Immerhin waren wir in Sicherheit. Und ich begann, Fight for Right bei der Koordination der Evakuierung von Menschen mit Behinderungen zu unterstützen: Suchen und Finden von Transportmöglichkeiten, Betreuung, Medikamenten, Unterkünften…

Unsere NGO-Anwälte stellten bald fest: Eigentlich reichen unsere Papiere für die Ausreise. Aber: Eine Erneuerung meiner Dokumente könnte die Chancen erhöhen, dass man uns die Grenze passieren lässt. In Denys’ Nachweis steht „Vom Militärdienst ausgeschlossen, ohne erneute Begutachtung”. Bei mir fehlte dieser Punkt. Also ging ich zum Militärstützpunkt, wo ich meinen Fall der Medizinischen Kommission vorlegen sollte, damit mein Papier aktualisiert wird. Schlangestehen von acht bis 20 Uhr, drei Tage lang. In der Schlange für die Wehrdienstbefreiungen standen viele Menschen mit psychosozialen und körperlichen Beeinträchtigungen. Ein Mann mit Diabetes packte pünktlich nach der Uhr mitgebrachtes Essen aus und löffelte es im Stehen. Begleitpersonen hatte niemand dabei. Kontakt untereinander gab es kaum, nur wenn sich wer als „schwerer krank“ vordrängeln wollte. Dabei waren wir doch hier alle irgendwie krank!

Warteschlange vor dem Militär-Einberufungsamt: Hier werden Freistellungsbescheinigungen ausgestellt, wenn Männer zwischen 18 und 60 Jahren aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Armee kämpfen können. Warteschlange vor dem Militär-Einberufungsamt: Hier werden Freistellungsbescheinigungen ausgestellt, wenn Männer zwischen 18 und 60 Jahren aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Armee kämpfen können. | Foto: © Oleksandr Nikulin Drei Tage später bestätigte mir die Kommission nochmal meine Wehruntauglichkeit. Das war am 13. März, einen Tag später ab 15 Uhr sollte ich mir mein Dokument vor dem Armeebüro abholen. Dort wurden diese Papiere am Zaun wie an Tiere verteilt − Namen aufgerufen und abgefragt, das war’s. Ich wartete bis zum Abend, mein Name war nicht dabei. Und dann passierte etwas, was ich in Uschhorod noch nicht erlebt hatte: Es gab Fliegerarlarm!

Тільки зараз, майже через місяць, я дійсно починаю розуміти, що насправді відбувається в моїй країні"

Alle Lichter gingen aus, die Soldaten vom Stützpunkt schickten uns in ein Kellerkaffee, das als Schutzraum dienen sollte. Leider wussten die Betreiber davon zunächst noch nichts und ließen uns erst rein, als Militärs ihnen die Lage erklärt hatten. Mit dem Dokument wurde es wieder nichts. Erst am nächsten Vormittag, fünf Tagen nach meinem ersten Besuch am Militärstützpunkt, hielt ich den wichtigen Zettel in den Händen. Schnell ließen wir noch unsere Katze chippen, erstellten ihr einen digitalen Pass. Und machten uns am frühen Abend wieder auf zum Grenzübergang zur Slowakei.

16. März 2022: Ein langer, europäischer Tag im Zug

Fünf Stunden, drei Kontrollreihen von Militärs, mehreren Versuchen, unsere Dokumente für nichtig zu erklären, viel gutes Zureden einer Freundin, die uns auf dem schweren Weg zur Grenze begleitete, und letztlich eine richtige Überprüfung durch den Grenzschutz später, standen wir kurz nach Mitternacht mit beiden Füßen in der Slowakei, in einer anderen Zeitzone, in Europa, in Sicherheit.

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Erstes Selfie in Sicherheit: Nach drei Wochen Krieg, davon zwei Wochen bürokratischen Fragen, passieren Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon endlich den Grenzübergang von Uschhorod nach Vyšné Nemecké (Slowakei). Erstes Selfie in Sicherheit: Nach drei Wochen Krieg, davon zwei Wochen bürokratischen Fragen, passieren Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon endlich den Grenzübergang von Uschhorod nach Vyšné Nemecké (Slowakei). | Foto: © Oleksandr Nikulin Es war beeindruckend, wie wir dort empfangen wurden: Überall gab man uns Tee und Essen, dabei waren wir gar nicht hungrig. Wie bei einem Street Food Festival. An einem gut ausgeschilderten Infopunkt erfuhren wir, mit welchem Busshuttle wir nach Košice kamen, um von da aus mit dem Zug über Bratislava und Prag weiter nach Berlin zu reisen, wo wir abgeholt wurden. Andere fuhren nach Ungarn und Polen. Alle Leute dort versuchten uns zu helfen.
 

 

Uschhorod-Košice-Bratislava-Praha-Berlin-Frankfurt (Oder): Eineinhalb Tage reisten Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon mit Katze Asja (in der Tragetasche) mit kostenfreien Bussen und Zügen von der Westukraine nach Deutschland. Uschhorod-Košice-Bratislava-Praha-Berlin-Frankfurt (Oder): Eineinhalb Tage reisten Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon mit Katze Asja (in der Tragetasche) mit kostenfreien Bussen und Zügen von der Westukraine nach Deutschland. | Foto: © Peggy Lohse

Gute 20 Stunden später erreichten wir − Denys, Asja und ich − den Berliner Hauptbahnhof, die erste leckere Currywurst in meinem Leben mit Blick aufs Regierungsviertel und die Spree. Am 16. März um 23 Uhr bezogen wir unser neues, vorübergehendes Zuhause in Frankfurt (Oder) [bei Peggy Lohse, die Oleksandr Nikulins Aussagen für JÁDU protokolliert hat, Anm. d. Red.]. Bald wollen wir weiter nach Kopenhagen in Dänemark, wo unsere NGO mit Unterstützung von internationalen Stiftungen ein Büro eröffnen konnte und Wohnräume für die Mitwirkenden zur Verfügung gestellt bekommt.
Gute 20 Stunden später erreichten wir − Denys, Asja und ich − den Berliner Hauptbahnhof, die erste leckere Currywurst in meinem Leben mit Blick aufs Regierungsviertel und die Spree. Am 16. März um 23 Uhr bezogen wir unser neues, vorübergehendes Zuhause in Frankfurt (Oder) [bei Peggy Lohse, die Oleksandr Nikulins Aussagen für JÁDU protokolliert hat, Anm. d. Red.]. Bald wollen wir weiter nach Kopenhagen in Dänemark, wo unsere NGO mit Unterstützung von internationalen Stiftungen ein Büro eröffnen konnte und Wohnräume für die Mitwirkenden zur Verfügung gestellt bekommt.


Erst jetzt, fast einen Monat später, beginne ich richtig zu verstehen, was eigentlich gerade in meinem Land passiert. Dass der Krieg wirklich nah sein kann. Selbst Europa scheint dieser Krieg bei uns nahe zu gehen. Darum wird überall geholfen und aufgenommen, obwohl ja auch Europa nicht unendlich viel Platz hat. Einerseits haben mich viele Menschen enttäuscht. Andererseits habe ich gelernt, dass einem Nahestehende plötzlich ganz fremd und fremde Leute plötzlich ganz nah sein können. Und dass Krieg und Menschenrechte überhaupt nicht zusammengehen.

Sicher und nach Entspannung suchend: Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon am Grenzfluss Oder. Sicher und nach Entspannung suchend: Oleksandr Nikulin und Denys Kutsekon am Grenzfluss Oder. | Foto: © Peggy Lohse Wie es für uns weitergehen wird, ist nicht klar. Je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher ist eine baldige Rückkehr. Aber jetzt, wo wir selbst in Sicherheit sind, ist das Wichtigste: mehr Menschen mit Behinderungen aus den Kriegsgebieten in der Ukraine zu evakuieren, die diese Reisen nicht selbstständig machen können.


 

Wer hilft Menschen mit Behinderung in Kriegsgebieten in der Ukraine?

Schon 2021 hatte die ukrainische NGO Fight for Right unter anderem mit staatlichen Partnern begonnen, einen Handlungsplan für die Ukraine zur Evakuierung von Menschen mit Behinderungen im Kriegsfall auszuarbeiten. Diesen Plan konnten sie nicht mehr vollenden. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist es für das Koordiationsnetzwerk zur Praxis geworden, möglichst viele Menschen aus dem Krieg zu retten, die nicht selbstständig fliehen können.
 

„Lights for Rights” − Aktion von Fight for Right für mehr Sichtbarkeit für Menschen mit Behinderungen auf dem Kyjiwer Maidan im Januar 2022

„Viele Menschen mit Behinderungen sind unverhältnismäßig stark betroffen und während des Krieges einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt, da sie nur begrenzt Zugang zu geeigneten Hilfsgütern, barrierefreien Informationen und Warnsystemen, sicheren Evakuierungswegen und -zentren haben. Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen scheinen in der Ukraine nicht im Mittelpunkt der humanitären Bemühungen zu stehen, obwohl internationale Konventionen, das humanitäre Völkerrecht und Best-Practice-Standards und -Leitlinien für die Integration auch in Konfliktzeiten eingehalten werden müssen“, schreibt Fight for Right am 1. März 2022. „Es gibt Menschen, die gefangen sind, es gibt Menschen, die sterben; wir sind zurückgelassen worden. Wir haben versucht, uns selbst zu helfen, aber wir brauchen Hilfe. Wir brauchen vorrangig zugängliche Evakuierungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen“, betont darin die NGO-Vorsitzende Julija Satschuk. Auch Amnesty International machte am 10. März 2022 auf die schwierige Lage aufmerksam: „In Gesprächen mit ukrainischen Bewohnern bedrohter Städte erfuhr die Organisation von Menschen mit Behinderungen, älteren Menschen und Menschen mit gesundheitlichen Problemen, die nicht so leicht ihre Häuser verlassen, sich bei Angriffen in Sicherheit bringen oder medizinische Versorgung erhalten können.“ Laut European Disability Forum gibt es in der Ukraine rund 2,7 Millionen Menschen mit Behinderungen.

Das Team von Fight for Right organisiert darum − mittlerweile vorrangig aus dem Ausland − Medikamente und Behandlungen, Bus- und Zugverbindungen, Transportmittel, Fahrer und Betreuungspersonen für die Flucht aus den umkämpften Gebieten in den bislang sichereren Westen der Ukraine oder ins Ausland und unterstützt bei der Suche nach Unterkünften. Anfragen erreichen sie über befreundete Organisationen, persönliche Kontakte oder soziale Netzwerke. Auch ihre Aktionen sind abhängig von humanitären Korridoren, die aber immer wieder nicht eingehalten oder gar nicht erst ausgehandelt werden können. Von russischen Truppen besetzte Gebiete können nicht erreicht werden.

Dank großer Spendenbereitschaft hat die NGO jüngst einen eigenen Krankentransporter anschaffen können, häufiger mietet sie Busse für die Evakuierung größerer Gruppen. Die Behinderungen der Menschen sind dabei ganz unterschiedlich: von Herz- und chronischen Erkrankungen wie HIV oder Diabetes über Seh- und Hörbeeinträchtigungen bis hin zu psychischen Behinderungen und eingeschränkter Mobilität besonders älterer Menschen. Auch an die Angehörigen der Betroffenen wird gedacht. In einem Fall wird sogar ein ganzes Seniorenheim mit 90 Bewohnenden aus der Ukraine ins Ausland evakuiert. Zum Evakuierungsteam, das mittlerweile fast komplett im sicheren Ausland sitzt, gehören acht feste Aktive von Fight for Right und knapp weitere 20 Freiwillige aus aller Welt. Es fehlt vor allem an Ukrainischsprechenden.

Seit Kriegsbeginn konnten von rund 330 eingegangenen Hilfeanfragen zur Evakuierung von insgesamt 1600 Personen bereits knapp 130 realisiert werden. 600 Personen sind so in Sicherheit gebracht worden (Stand: Anfang April).

Spenden für Fight for Right und die Evakuierung von Menschen mit Behinderungen aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine: gofundme.com/f/help-disabled-ukrainians

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