Eine Geschichte von Umsiedlung und Okkupation  Die Mädels von Tschornobyl

Nadija Wassylowna wohnt 20 Kilometer vom Kernkraftwerk Tschornobyl entfernt.
Nadija Wassylowna wohnt 20 Kilometer vom Kernkraftwerk Tschornobyl entfernt. Foto: © Andriy Zhyhajlo

In Tschornobyl, am „schrecklichsten Ort der Welt“, leben Menschen: Man nennt sie „Samosely“ – Selbstsiedler*innen. Sie haben sich in den späten 1980er Jahren „freiwillig isoliert“. Anders ausgedrückt: Sie sind 1986 nach der Nuklearkatastrophe im Atomkraftwerk Tschornobyl in der abgesperrten Zone geblieben. Seit damals sind einige von ihnen zu zweifachen Binnenumsiedler*innen geworden, denn 2022 sie haben auch noch die russische Besatzung erlebt.

Die Katastrophe im Reaktor-Block 4 des Atomkraftwerks Tschornobyl erschütterte vor 36 Jahren die ganze Welt. Die radioaktiven Partikel gelangten bis nach Grönland und Kasachstan. Während ein Teil der Radionuklide ziemlich bald zerfiel, werden manche davon noch auf tausende Jahre hinaus den Boden verseuchen.

In den 1970er Jahren setzte die Sowjetregierung ein großes Programm zur „Atomisierung“ des ganzen Landes durch. Überall, von der Krim bis Sibirien, wurden Kernkraftwerke gebaut. Das AKW in der historischen Region Polesien sollte die Energieversorgung von Kyjiw und seiner Vororte sicherstellen.

Zwischen den Dörfern Kopatschi und Tschystohaliwka, am Fluss Prypjat, begann man im Mai 1970 mit dem Bau des AKW. Obwohl Polesien mit seinen zahlreichen Sümpfen und Flüssen nicht einfach zu bewohnen ist, entstanden schon im 10. Jahrhundert die ersten Siedlungen an diesem Fluss. Diese Menschen, die seit vielen Generationen hier lebten, waren nach der Explosion im AKW im April 1986 gezwungen, vor der radioaktiven Strahlung zu fliehen. Fast 200.000 Menschen wurden zwangsumsiedelt. 92 Orte wurden menschenleer, darunter zwei größere Städte und zwei stadtähnliche Siedlungen.

Heute leben in der Sperrzone zwei Kategorien von Menschen: jene, die im AKW gearbeitet hatten und hier geblieben sind. Sie haben Sondergenehmigungen. Die anderen sind hier geboren und leben seit ihrer Kindheit hier, in der Sperrzone – aktuell sind dies etwa 130 Personen.

„Bei mir zu Hause zieht man Schuhe aus“

Im Jahr 1193 wurde der Ort Tschornobyl zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt, damals gingen die Kyjiwer Fürsten in den Prypjater Wäldern gerne auf die Jagd. Nach der Nuklearkatastrophe wurde in der Stadt, in der damals 16.000 Menschen lebten, das Verwaltungszentrum der Sperrzone eingerichtet.

Vor dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 wohnten und arbeiteten hier – nach dem Rotationsprinzip – circa 3500 Menschen: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des stillgelegten AKW, Personal der Sperrzone, Polizei, Förster und Grenzpolizisten, nicht zu vergessen das Personal der Labors, das die Radioaktivität untersucht. Außerdem lebten hier auch 30 Selbstsiedler*innen, die nach dem Unfall von 1986 heimgekehrt waren. Anfang 2000 gab es noch fast 1000 von ihnen.

Die 70-jährige Tetiana Andrijiwna kam 1984 nach Tschornobyl. Sie arbeitete mit am Bau des AKW, dann heiratete sie einen Einheimischen. Nach der Reaktorexplosion wurde sie nach Kyjiw evakuiert, blieb aber nicht lange dort.
  „Wir sind damals zurückgekehrt, weil wir es in Kyjiw nicht ausgehalten haben. Kurz vor der Katastrophe hatten wir das Haus meines Mannes renoviert und neu eingerichtet. Aber das Wichtigste: Hier hatte ich Arbeit im Kraftwerk“, erzählt die Frau. „Ich habe im AKW bei der Stadt Prypjat gearbeitet und in Tschornobyl gewohnt. Es war hier genau so viel los wie auch vor der Katastrophe: Geschäfte, Kantine, Post. Es gab sogar eine Zeit lang eine Disko.“

Tetianas kleines einstöckiges Haus mit vier Zimmern steht fast in der Stadtmitte. Bis vor kurzem waren noch zwei weitere Häuser in ihrer Straße bewohnt, aber die Bewohner*innen sind nach der Befreiung von der russischen Besatzung weggezogen.

Tetiana lebt alleine. Ihr Mann ist vor zehn Jahren gestorben. Sie hat zwei Katzen. Jede verfügt über ihr eigenes Zimmer. „So raufen sie wenigstens nicht. Ich hatte nur einen Kater, aber als der Krieg ausbrach, ist mir noch einer zugelaufen. Er kam einfach auf meinen Hof, und ich habe ihn nicht weggejagt“, erklärt sie. „Ich füttere sie mit Fisch: jeden zweiten Tag gehe ich an den Prypjat angeln. Was habe ich altes Weib sonst zu tun…“

Die Möbel im Haus sind noch aus sowjetischen Zeiten. Aber das Bad, das WC und die Heizung sind modern. Das alles haben ihre Enkelkinder vor einigen Jahren gebracht. Sie boten ihrer Oma auch an, zu ihnen nach Kyjiw umzuziehen. „Das wäre vielleicht besser für mich, aber nein, ich will nicht. Ich bin es gewohnt, alleine zu leben. Aber ab und zu gehe ich in die Stadt, damit ich meine Urenkelin sehen kann, denn Kinder dürfen nicht die Sperrzone“, erzählt Tetiana Andrijiwna.

Die russischen Truppen planten den Angriff auf Kyjiw auch von Belarus aus. Die Tschornobyl-Sperrzone wollten sie als Transitgebiet auf dem Weg zur ukrainischen Hauptstadt nutzen. Auf diesem radioaktiv kontaminierten Boden richteten sie Versorgungsstützpunkte ein. Sie gruben sogar ihre Schützengräben in die gefährlichste Stelle auf dieser Erde, im radioaktiven Roten Wald unmittelbar in der Nähe des explodierten Reaktors.

Während der ganzen Zeit, als die russischen Soldaten in Tschornobyl waren, besuchten sie das Haus von Tetiana Andrijiwna nur einmal. „Sie sind zu zweit gekommen. Der eine trug eine Gesichtsmaske, der andere hatte eine interessante kleine Maschinenpistole. Ich sitze im Sessel, sie kommen herein. Ich sage: Bei mir zu Hause zieht man Schuhe aus. Und er zu mir: Wohnen Sie alleine? Ich antworte: Ja, alleine. Der Mann ist tot. Und vor einem Jahr ist auch der Sohn an Corona gestorben. Dann sind sie schnell weggegangen. Und ich habe sie nie wieder gesehen.“

Ihre Maschinengewehre waren auf meine Fenster gerichtet.“

Tetiana erzählt, dass die Besatzer den Einheimischen verboten haben, die Häuser zu verlassen. Aber die Selbstsiedler*innen haben sich trotzdem getroffen und sogar die Verwandten „draußen“ kontaktiert. Da sie ihre Stadt sehr gut kennen, gingen sie durch Gärten und Hinterhöfe zur Kirche, wo man das Netz eines ukrainischen Handy-Anbieters empfangen konnte. So erhielten sie Nachrichten, erfuhren, was in der Welt passiert, und konnten einander helfen. „Ein paar Mal bin ich den russischen Soldaten begegnet. Ich kann nicht sehr gut gehen, aber sie haben mich nicht angesprochen. Sie sind einfach vorbeigegangen“, so Selbstsiedlerin Tetiana.

„Mein einziger Wunsch: bis zum Tode in meiner Heimat leben zu dürfen“

Die 56-jährige Nadija Wassyliwna wohnt in der Nähe der Feuerwehr. Das Blumenbeet vor ihrem Haus ist mit einer Kosaken-Figur samt ukrainischer Fahne geschmückt. Noch eine Fahne hängt am Hauseingang. Nadija erzählt, dass sie die Fahne selbst dann nicht entfernte, als die russischen Soldaten in ihren Hof kamen. „Vielleicht wussten sie nicht, dass das die ukrainische Staatsfahne ist. Als sie ins Haus kamen, konnten sie nicht übersehen, dass bei mir in jedem Zimmer eine kleine Fahne steht. Aber sie haben nicht mal danach gefragt. Auf der anderen Straßenseite, meinem Haus gegenüber, stand ihre Technik. Ihre Maschinengewehre waren auf meine Fenster gerichtet“, erinnert sich Nadija Wassyliwna.
  Sie beschreibt, wie die russischen Panzerwagen kurz vor der Befreiung pausenlos die Stadt in Richtung belarusischer Grenze passierten. „Am meisten machte ich mir um den Hund Sorgen, nicht um mich selbst. Er hörte nicht auf, in seinem Gehege zu bellen“, erzählt Nadija.

Der struppige Schäferhund bellt auch jetzt andauernd, solange wir im Hof stehen. Nadija Wassyliwna, eine kleine Frau mit kurzen blonden Haaren, ist in Tschornobyl geboren und hat ihr ganzes Leben hier verbracht. „Am schwierigsten war es in den 1990er Jahren, das war schlimmer als jetzt. Damals war hier alles viel strenger, man brauchte für alles eine Genehmigung von der Polizei. Es gab kaum Lebensmittel. Wir haben uns fast ausschließlich von unseren Gemüsegärten ernährt“, erzählt Nadija. „Aber schon damals wollten wir hier nicht weg. Und jetzt auch nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, hier zu leben.“

„Ich brauche nichts mehr. Mein einziger Wunsch ist, bis zum Tode in meiner Heimat leben zu dürfen, und nahe der Gräber meiner Eltern bestattet zu werden“, sagt sie. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch auf dieser Welt sein werde, aber ich will hier nicht weg“.

Die Russen plünderten Tschornobyl. Sie demolierten die Häuser der AKW-Mitarbeiter, raubten alle Geschäfte, die Polizei, die Feuerwehrzentrale und das Museum aus. Sie nahmen sogar die Lenin-Figur mit, die auf dem zentralen Platz der Stadt stand und wahrscheinlich das allerletzte Lenin-Denkmal in der Ukraine war.

„Im Labor haben sie Behälter mit radioaktiven Stoffen geklaut, die nur unter besonderen Bedingungen aufbewahrt werden dürfen. Im Polizeirevier von Tschornobyl haben sie aus der Asservatenkammer das Hirschgeweih geklaut, das wir einem Mann abgenommen haben, der es aus der Zone hinauszuschmuggeln versuchte“, erzählt der Polizeichef der Sperrzone Serhij Tschumak. „Es hat stark gestrahlt und war natürlich für Menschen lebensgefährlich. Die Russen wollen wohl damit ihre Wohnung schmücken. Höchstwahrscheinlich hat jemand davon schon eine ernsthafte Dosis Radioaktivität abgekriegt!“
 

„Es ist jetzt gefährlich, in den Wald zu gehen: Es kann dort Minen geben“

Die Dörfer der Selbstsiedler*innen in der Sperrzone haben Strom. Früher wurde ihnen einmal im Monat ihre Rente gebracht. Alle fünf Wochen kam sogar ein mobiler Laden mit dem Nötigsten, was man zum Leben braucht. Aber das war vor dem 24. Februar. Jetzt sind die Menschen hier ziemlich isoliert. Die Ärzt*innen der Sanitätsstelle in Tschornobyl verließen den Ort. Von den einst drei Geschäften ist nur eins geblieben. Die Post ist geschlossen, die Feuerwehr ausgeraubt, wie auch das AKW selbst. Die Lebensmittel werden aus Kyjiw von Verwandten oder Volontär*innen gebracht.

Wäre ich in Kyjiw geblieben, wäre ich schon längst tot.“

Nach dem Unfall 1986 waren alle 300 Einwohner*innen des Dorfes Kupowate evakuiert worden. Aber schon drei Monate später kamen die ersten Einwohner*innen wieder zurück, denn es hatte sich herausgestellt, dass das Dorf von der radioaktiven Wolke verschont geblieben war. Außerdem musste ja jemand in der Versuchsfarm arbeiten, die auch nach der Reaktorexplosion weitergeführt wurde. Hier untersuchte man den Einfluss der Radioaktivität auf Pflanzen.

„Wäre ich in Kyjiw geblieben, wäre ich schon längst tot. Ich fühlte mich schlecht in der Fremde“, sagt Sofia Sowita. Sie ist schon über 80 und wohnt in einem Holzhaus mit einem sehr großen Hof. Am Haus wachsen Weintrauben, hinter dem Haus sieht man die sauberen, geraden Beete des Gemüsegartens, in denen Weißkraut und Karotten gedeihen.

Sofia, Bewohnerin des evakuierten Dorfes Kupowate vor ihrem Haus. Während der ganzen Besatzungszeit hat Sofia keinen einzigen russischen Soldaten gesehen. Sofia, Bewohnerin des evakuierten Dorfes Kupowate vor ihrem Haus. Während der ganzen Besatzungszeit hat Sofia keinen einzigen russischen Soldaten gesehen. | Foto: © Andriy Zhyhajlo 1990 beschloss die Regierung der Ukrainischen SSR, dass in den Dörfern der Sperrzone niemand ohne Sondergenehmigung wohnen dürfe. Mittlerweile gibt es ein Übereinkommen zwischen den Einheimischen und der lokalen Verwaltung, und nun wohnen zehn Selbstsiedler*innen in Kupowate, überwiegend Menschen über 80. Sofia nennt sie scherzhaft „unsere Mädels“. Sie alle behaupten, keine Besatzer gesehen zu haben. Vielleicht wussten die russischen Soldaten einfach nicht, dass es hier überhaupt noch Menschen gibt.

Während der Besatzungszeit lebte man hier von Vorräten und vom Eingelegten. Sofias Vorratskammer ist voll mit konserviertem Gemüse aus dem eigenen Garten. „Es ist jetzt gefährlich, in den Wald zu gehen, es gibt dort Minen. Oft kann man hören, wie etwas im Wald explodiert. Entweder schießt das Militär, oder Tiere laufen auf Minen. Die Förster haben die zerfetzten Leichen von Elchen und von einem Wolf gesehen, die auf Minen getreten waren“, erzählt Sofia.

Handys kann man mit Hilfe der Solaranlage auf dem Dach laden. Dank des Internets konnten die Menschen auch die Nachrichten verfolgen. „Das alles hat mir mein Enkel eingerichtet. Und auch Heizung, Strom, sogar Internet. Er arbeitet in Kyjiw irgendwo im IT-Bereich. Vor kurzem hat er mich besucht und wollte mich beinahe zwingen, hier wegzugehen. Er wollte mich nach Berlin schicken, wo schon seine Frau und die Kinder sind. Aber ich will nicht weg. Mein Platz ist hier!“

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