Die Krimtatar*innen  Zum vierten Mal ins Exil

Die Krimtatar*innen. Zum vierten Mal ins Exil Illustration: © Tetiana Kostyk

Die Geschichte des krimtatarischen Volkes ist ein immerwährender Kampf um das Recht, auf dem eigenen Land zu leben, trotz Repressalien, Russifizierung und versuchter Auslöschung. Dieser Kampf ist immer noch nicht zu Ende.

Die Krimtatar*innen sind ein turksprachiges Stammvolk der Ukraine. Sie leben bereits seit dem Mittelalter auf der Krim und im angrenzenden südlichen Steppengebiet. Die Krimtatar*innen haben ihre eigene Sprache und bekennen sich zum Islam. Ein Teil von ihnen erlebt gegenwärtig bereits die vierte Zwangsumsiedlung in der Geschichte des Volkes.

Zum ersten Mal ereilte die Krimtatar*innen dieses Schicksal im Jahr 1783. Damals wurde die Krim nach dem russischen Sieg über das Osmanische Reich von Russland besetzt und annektiert. Um ihr Leben zu retten, flüchteten viele Menschen in das Gebiet der heutigen Türkei.

Die zweite Welle waren die Deportationen im Mai 1944. Innerhalb von einigen wenigen Tagen deportierte die Sowjetmacht über 200.000 Personen nach Zentralasien und in die nordöstlichen Regionen Russlands. Als offizieller Grund wurde „Kollaboration mit den Nazi-Besatzern“ angegeben. Das inoffizielle Ziel war jedoch, die dem Regime gegenüber illoyale Bevölkerung ein und für allemal loszuwerden. Nach unterschiedlichen Einschätzungen ist damals mindestens ein Drittel, wenn nicht die Hälfte des damaligen krimtatarischen Volkes umgekommen.

1974 wurde es den aus der Krim stammenden Menschen offiziell erlaubt, in ihre historische Heimat zurückzukehren. Tatsächlich war es aber erst 1989 soweit, als die Werchowna Rada (das Parlament) der Ukrainischen SSR die Deportation verurteilte und für unrechtmäßig und kriminell erklärte. Während der Zeit der ukrainischen Unabhängigkeit sind mehr als die Hälfte aller sowjetischen Krimtatar*innen, das sind über 250.000 Menschen, heimgekehrt.

Ihre Wanderschaft war damit jedoch nicht zu Ende. Die Annexion der Krim 2014 veranlasste wieder viele Menschen, ihr Land zu verlassen. Heute werden Krimtataren von der russischen Regierung massenweise zum Kriegsdienst gegen die Ukraine einberufen. In Kyjiw nannte man das „einen weiteren Versuch, die rebellische Bevölkerung zu eliminieren und einen Völkermord zu verüben“. Einige Krimtatar*innen sahen sich nun schon zum vierten Mal in ihrer Geschichte gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie weigern sich, gegen die Ukraine zu kämpfen und unter der Besatzung zu leben. Manche von ihnen ließen sich auf dem ukrainischen Festland nieder, andere emigrieren ins Ausland und schließen sich in der Diaspora ihrem Volk an.

„Die Menschen starben wegen der Enge, an Krankheiten, Hunger und Durst“

Seit 2014 hilft der Vorsitzende der Wohltätigkeitsstiftung Evkaf Foundation Eldar Umerov den Krimtatar*innen, in die Festland-Ukraine und in andere Länder auszuwandern. In dieser Zeit hat seine Organisation für ungefähr 3.000 Menschen die Umsiedlung ermöglicht. Eldar ist sich schmerzlich bewusst, dass sich sein Volk nicht zum ersten Mal von der Heimat verabschieden muss.

„Die Bevölkerung der Länder, in die meine Vorfahr*innen in den 1940er Jahren deportiert wurden, wurde auf ihre Ankunft vorbereitet, indem man ihnen sagte, dass Menschenfresser mit Hörnern auf dem Kopf kommen werden“, erzählt Eldar. „Als dann überwiegend Kinder, Frauen und ältere Menschen kamen, war das Erstaunen und die Verwunderung groß – und auch die Bereitschaft, diesen Menschen zu helfen und ihnen Unterschlupf zu gewähren“.

Ein Foto aus Eldars Familienarchiv. Oben rechts der Großvater und die Großmutter. Ein Foto aus Eldars Familienarchiv. Oben rechts der Großvater und die Großmutter. | Foto: © privat Die Reise zum zugewiesenen Ort der Zwangsansiedlung dauerte sieben Tage während derer die Deportierten fast pausenlos unterwegs waren. Wenn der Zug irgendwo kurz anhielt, wurden diejenigen, die ausstiegen und es nicht rechtzeitig zurück schafften, einfach dort gelassen. Im Zug starben die Menschen wegen der Enge und an Krankheiten, vor Hunger und Durst.

„Die ersten kehrten in den 1990er Jahren zurück in die Heimat“, sagt Eldar. „Sie reisten gruppenweise an. Sie kamen mit Autoanhängern, auf denen sie ihr Hab und Gut transportierten. Ihr Ziel waren die ehemaligen Siedlungen, in denen ihre Ahnen gelebt hatten. Sie ließen sich mitten auf dem Feld nieder und bauten dort ihre Zelte auf. Die Aufforderungen seitens der lokalen Verwaltungen, wieder zu verschwinden, wurden ignoriert. Es kam auch zu Konflikten mit den damaligen russischen Anwohnern, die die einstigen Einheimischen auf jede erdenkliche Weise wieder, diesmal endgültig, vertreiben wollten. Aber mein Volk gab nicht auf. Mitten auf dem Feld wurden Gruben gegraben, Fundamente gegossen und Häuser gebaut. Viele davon ohne Genehmigung! Was jetzt mit den Häusern derjenigen passiert, die die Krim wegen des Krieges verlassen haben, ist schwer zu sagen. Von der Halbinsel kommen nur sehr spärliche Informationen. Aus dem Gebiet Cherson gibt es auch schon Nachrichten, dass sich Unbekannte in den verlassenen Häusern der Krimtatar*innen niedergelassen haben.“

„Zu Hause sprechen wir miteinander Krimtatarisch und Russisch, wir scherzen gerne auf Ukrainisch“

Safije ist in Jalta geboren. Dort lebte sie, bis sie 2016 die Krim verließ und nach Polen ging. Safije träumt davon, nach der Befreiung der Krim in ihre Heimat zurückzukehren. Ihr Bruder und zwei Cousins verließen die Krim aus Protest gegen die Zwangsmobilisierung und gingen nach Kasachstan. Jetzt lassen sie sich dort in der ukrainischen Botschaft ukrainische Papiere ausstellen. Es sei nicht ausgeschlossen, betont Safije, dass sie in die Ukraine zurückkehren, um zu kämpfen.

„Ich werde oft gefragt, warum die Krimtatar*innen die Ukraine so aktiv unterstützen. Als sich seinerzeit die Sowjetmacht auf der Krim durchsetzte, wurden uns viele Vorrechte zugestanden: Ermäßigungen bei Studiengebühren, Sondervergünstigungen und Förderprogramme. Aber wir haben nicht vergessen, was Russland uns jahrhundertelang angetan hat“, erklärt die Krim-Bürgerin Safija.

Sie erinnert sich, wie sie in der Schule schikaniert wurde. Die Mitschüler*innen machten es ihren Eltern nach und verachteten und mobbten die krimtatarischen Kinder. Es tut ihr weh, dass die krimtatarische Sprache auf der Krim immer noch nicht als offizielle Sprache anerkannt ist. „Zu Hause sprechen wir miteinander Krimtatarisch und Russisch. Wir scherzen gerne auf Ukrainisch. Aber wenn man in die Schule geht und die eigene Sprache lernen will, ist das nicht möglich“, bedauert Safije.

Als Kind hörte Safije die Erzählungen ihrer Verwandten, die nach Usbekistan deportiert wurden. Ihre Oma war damals fünf Jahre alt, ihr Opa zwölf. Niemand wusste, wohin sie gebracht wurden und für wie lange. Auf der Fahrt starb ein Kind ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits. Die Deportierten waren mehrere Tage unterwegs, und die Frau musste ihr totes Kind die ganze Zeit im Arm halten, sonst wäre es aus dem Fenster geworfen worden. Der Urgroßvater väterlicherseits kämpfte in der Sowjetarmee. Nach dem Krieg musste er sehr lange in ganz Usbekistan nach seinen Kindern suchen, weil seine Frau bei der Deportation umgekommen war.

Im fremden Land waren die Krimtatar*innen sich selbst überlassen. „Die offiziellen Angaben der UdSSR über die Toten sind zu niedrig angesetzt und absurd“, ist Safije überzeugt. „Nimmt man die Geschichten der einzelnen Familien, so ergeben sich ganz andere Zahlen: mehr als 70 Prozent unserer Leute sind damals umgebracht worden.“ Die Frau berichtet auch, dass viele Russ*innen heute, nach dem Beginn des totalen Angriffs, ihre Immobilien auf der Krim verkaufen und nach Russland zurückgehen. Safije wartet wie die meisten Krimtataren auf die Befreiung ihrer Heimat. Aber sie gibt auch zu, Menschen zu kennen, die Russland unterstützen.

„Mit zehn Jahren fuhr der Vater schon Traktor – er musste für’s Essen arbeiten“

Alim* kommt aus Simferopol. Er hat die Krim nach der Annexion 2014 verlassen und lebt nun in der Slowakei.

Seinen 14-jährigen Großvater verschleppten die Nazis 1943 nach Österreich. Als minderjähriger Zwangsarbeiter arbeitete er auf einem Bauernhof. Als die Sowjetarmee nach Österreich kam, wurden er und weitere Krimtatar*innen „befreit“… und sofort nach Usbekistan geschickt. Dort schloss Alims Großvater sich dem Rest seiner deportierten Familie an. Im neuen Land wartete auf alle körperlich schwere Arbeit. Alims Vater fuhr schon mit zehn Jahren Traktor: Er musste arbeiten, damit die Familie zu Essen hatte, welches überwiegend aus Kartoffeln bestand.

1989 wurde es in Usbekistan unruhig. „Wir wohnten in der Stadt Hamsa, Provinz Fargʻona“, erzählt Alim. „Ich war damals 14 Jahre alt. In der Region kam es zu ethnischen Konflikten zwischen Usbeken und Mescheten. Hubschrauber flogen stündlich über den Wohnhäusern. Abends waren ständig Schüsse zu hören. Wir bangten um unser Leben, verkauften das Haus und beschlossen, auf die Krim zurückzukehren. Auf der Krim kauften wir dann Häuser für unsere zwei Familien.“

Fotos aus Alims Familienarchiv in Usbekistan (aus Sicherheitsgründen geben wir nicht an, wer auf dem Foto zu sehen ist) Fotos aus Alims Familienarchiv in Usbekistan (aus Sicherheitsgründen geben wir nicht an, wer auf dem Foto zu sehen ist) | Foto: © privat Alim besaß einen kleinen Laden und handelte mit Lagerregalen, als die Krim 2014 von Russland annektiert wurde. Er hatte Angst, sein Geschäft zu verlieren. Er sei überzeugt, dass es in Russland keine Kleinunternehmen gibt, denn da funktioniere alles nur durch Korruption und „Provisionen“, sagt Alim. „Im Januar 2014 hat man jede Menge ,Tituschkisʻ [Provokateure— Anm. der Red.] zu uns gebracht“, erinnert er sich. „Keiner von uns hat auf sie reagiert. Sie riefen sowas wie: ,Die Krim ist Russlandʻ. Die ganze Zeit fanden prorussische Demos statt.“

Alims Frau flehte ihn an, wegzugehen. Bekannte halfen ihnen, in der Slowakei Fuß zu fassen. Auf der Krim verkauften sie alles, was möglich war. Nun wohnt die Familie in einer gemieteten Wohnung und stellt Souvenirs aus Holz und Spannplatten her. Der Sohn studiert an der Universität Architektur, die Tochter wird an einer Fachschule zur Industriedesignerin ausgebildet. Alim sagt, dass sie in der Slowakei ein bequemes Leben und keinen Grund zur Beschwerde haben. Nichtdestotrotz möchte er auf die Krim zurückkehren, sobald die Halbinsel frei von Besatzern ist.

„Als der russische Soldat sich zu mir umdrehte, hatte ich tierische Angst“

Lilia* wohnte in der Nähe von Simferopol. 2014 verließ sie die Krim und zog in die Festland-Ukraine, zuerst nach Odesa und dann nach Kyjiw. Nun ist sie vor dem Krieg nach Großbritannien geflüchtet.

„Aufgrund Gründen der Geschichtsschreibung und der Russifizierung wurde die Geschichte meiner Familie immer verschwiegen“, erzählt sie. „Die Verwandten sprachen nicht darüber, was sie in den 1940er Jahren erlebt hatten. Offensichtlich hatten sie Angst, sich an die Zeit zu erinnern. Sie dachten wohl auch, dass das niemanden interessiere. Meine Urgroßmutter wurde in den Ural deportiert. Unterwegs und gleich nach der Ankunft starben einige ihrer Kinder. Sie arbeitete schwer in einem Holzbetrieb. Dann zog sie nach Usbekistan, wo sie in einer Nähfabrik tätig war. In der Nähe der Fabrik war ein Waisenhaus. Dort adoptierte sie ein Waisenkind von der Krim. Das war mein Großvater. Für uns alle war er der gutmütigste und liebste Mensch, den wir kannten.“
 
  • Die Landschaft in Lilias Heimat auf der Krim, Bezirk Simferopol Foto: © privat
    Die Landschaft in Lilias Heimat auf der Krim, Bezirk Simferopol
  • Chatschapuri, eine krimtatarische Spezialität Foto: © privat
    Chatschapuri, eine krimtatarische Spezialität
  • Zwischen der Krim und der Oblast Cherson hat Russland einen Checkpoint aufgebaut. Фото: © з приватного архіву
    Zwischen der Krim und der Oblast Cherson hat Russland einen Checkpoint aufgebaut.
In der Sowjetzeit pflegte man stillschweigend ein verzerrtes Bild von den Krimtatar*innen, dass sie alle Verräter seien. Und nach ihrer Rückkehr auf die Krim wurden sie gar als „Besatzer“ gesehen. Es wurden sogar Schauermärchen verbreitet, sie würden grundlos morden.

Die Entscheidung, die Krim zu verlassen, war für Lilia traumatisch. „Auch wenn die meisten Menschen die russischen Militärs nicht als Gefahr wahrnahmen, spürte ich Panik“, erinnert sich Lilia. „Ich weiß noch, wie ich einmal über die Straße ging, in der Innenstadt, da drehte sich ein Soldat mit seinem Gewehr zu mir um. Ich konnte weder sein Gesicht noch seine Emotionen sehen, nur den Lauf der Waffe und die auf mich gerichteten Augen. Ich verspürte tierische Angst um mein Leben.“

Als Russland im Februar die Ukraine überfiel, suchte Lilia wie auch Millionen andere ukrainische Geflüchtete Zuflucht im Ausland. „Im Vereinigten Königreich werden Ukrainer und Ukrainerinnen von der Diaspora unterstützt“, fügt sie hinzu. „Für mich ist das wichtig. Ich möchte, dass sich möglichst viele Menschen über die gemeinsame Geschichte der Krim und der Ukraine informieren und Bescheid wissen, und dass sie sich nicht gegenseitig des Kriegsbeginns und der Okkupation beschuldigen. Die einzigen Schuldigen am Krieg sind Russland und das russische Volk.“


* Name aus Sicherheitsgründen geändert

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