Autobiographischer Dokumentarfilm  Meine Mutter, der Krieg, und ich

Meine Mutter, der Krieg, und ich
„Meine Mutter, der Krieg und ich“ - Videostill © Inga Pylypchuk | JÁDU - jadumagazin.eu

Der Krieg hat die ukrainische Journalistin und Filmemacherin Inga Pylypchuk mit ihrer Mutter wiedervereint. Es ist nicht die erste Katastrophe, die beide gemeinsam durchmachen. Schließt sich ein Kreis?

Vor einem Jahr ist meine Mutter zu mir nach Berlin gekommen. Sie ist vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und erstmal geblieben, weil eine sichere Rückkehr immer noch unmöglich ist. Kyjiw, die Hauptstadt der Ukraine, die Stadt, in der meine Mutter gelebt hat, wird mit Raketen und Drohnen attackiert. Manchmal gibt es tagelang keinen Strom, kein heißes Wasser, keine Heizung, keinen Empfang.

Dieses erste Kriegsjahr hat mir gezeigt, dass alles noch viel schlimmer kommen kann, als ich befürchtet hatte. Ich musste erkennen, dass Städte, in denen ich glücklich war, bis auf den Grund vernichtet werden können. Die besten Menschen meines Landes können jeden Augenblick mitten aus dem Leben gerissen werden – zufällig in ihrem Wohnzimmer, in das eine Rakete einschlägt, oder an der Front. Die ganze Welt schaut zu und findet kein Mittel, die Gewalt zu stoppen. Und manche verlangen von der Ukraine sogar, sich dieser ungeheuren Ungerechtigkeit und Grausamkeit einfach zu ergeben.

Aus zwei Flugstunden werden sieben Fußminuten

Dieses Kriegsjahr hat mir aber auch meine Mutter näher gebracht. Nachdem wir 14 Jahre lang in verschiedenen Städten gelebt haben (ich bin 2008 nach Berlin gezogen) wohnt sie nun nur sieben Fußminuten von mir entfernt. Früher waren es zwei Flugstunden. Ihre Wohnung in Kyjiw liegt ganz nah am Flughafen. Es war immer sehr schön, zu landen und dann mit einem kleinen Rollkoffer zu Fuß nach Hause zu laufen.

Nun fliegen seit einem Jahr keine Flugzeuge – weder nach Kyjiw, noch nach Lwiw, noch in irgendeine andere ukrainische Stadt. Russland gibt immense Geldsummen aus, um die Ukraine zu beschießen, zu bombardieren, zu vernichten. Meine Mutter und ich lesen jeden Tag die Berichte darüber in Telegram-Kanälen und erstarren mit den Handys in unseren Händen. „Hast du schon gesehen, dass die Russen wieder 50 Raketen abgeschossen haben?“ – „Ja.“

Wir leben in diesen beiden Realitäten gleichzeitig: Wir trauern und hassen, wir schweigen und seufzen, und dann gehen wir zum Strand.

So viel Angst und Verzweiflung, wie noch nie in meinem Leben

Weit weg von zu Hause zu sein und zu wissen, was die Menschen, die man liebt, dort gerade durchmachen, ist schmerzhaft. Es ist ein besonderer Schmerz, er ist physisch ungreifbar, aber ständig auf irgendeiner Ebene des Bewusstseins präsent. Ende Juni 2022 verbringen meine Mutter und ich ein paar Tage an der Ostsee. Das Wetter ist traumhaft sommerlich, das Meer frisch, die Luft salzig. Am ersten Tag nach unserer Ankunft dort erfahren wir, dass es einen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in Krementschuk gab, bei dem über 20 Menschen getötet und 59 verwundet wurden. Wir leben in diesen beiden Realitäten gleichzeitig: Wir trauern und hassen, wir schweigen und seufzen, und dann gehen wir zum Strand.

Am 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel, befand sich meine Mutter noch in Kyjiw. Sie hat zweieinhalb Tage zwischen einem Luftschutzbunker und ihrer Wohnung verbracht – zweieinhalb Tage, in denen ich so viel Angst und Verzweiflung gespürt habe, wie noch nie in meinem Leben. Ihr Telefonempfang war oft stundenlang unterbrochen, aber unsere Verbindung wurde so stark wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Über Whatsapp überzeugte ich sie, nach Deutschland zu fliehen. „Jetzt weiß ich, dass du mich wirklich liebst“, sagte sie zu mir, als wir dann zum ersten Mal in Berlin zu Abend gegessen haben.

Meine Mutter, der Krieg, und ich - Videostill „Meine Mutter, der Krieg, und ich“ - Videostill | © Inga Pylypchuk | JÁDU - jadumagazin.eu

Kein Happy End, sondern der Beginn einer neuen Geschichte

Man könnte diesen Moment als eine Art „Happy End“ denken: Eine Frau, gerettet vor den Bomben, vereint mit ihrer Tochter. Doch das war erst der Anfang einer neuen Geschichte. Von nun an hatte ich plötzlich neue Pflichten: Ich begleitete sie zum Woolworth, um neue Töpfe und Pfannen zu kaufen, zum Sozialamt, zum Bürgeramt, zur Ausländerbehörde, zum Fitnessstudio, ins Kino, zum Arzt. Spätestens als ich sie begleitete, wie sie mit einem Rucksack auf den Schultern zu ihrer ersten Deutschstunde ging, die zufälligerweise in einer Grundschule stattfand, wurde mir klar: Wir haben die Rollen getauscht. Sie hat mich großgezogen, jetzt bin ich für sie verantwortlich.

Für mich war das keine leichte Erkenntnis. Schon immer habe ich mich gegen das auch in der ukrainischen Kultur sehr populäre Narrativ gewehrt, dass Kinder ihren Eltern etwas „schulden“ würden und deswegen für sie sorgen müssen, wenn sie alt oder krank werden. Wer sagt denn, dass jede Beziehung, die auf Blutsverwandtschaft beruht, ein ganzes Leben dauern muss?

Es wäre einfacher für mich zu sagen: Ich helfe ihr, weil sie ein guter Mensch ist und ich sie mag, und nicht weil sie meine Mutter ist. Ich helfe ihr genauso, wie ich anderen Menschen aus der Ukraine helfe, ich helfe, wo ich kann. Aber nein: Ich fühle für sie nun doch mehr Verantwortung als für andere.

Ich wünsche mir eine Mutter-Tochter-Beziehung, die von Angst befreit ist. Denn die gab es in meiner Kindheit mehr als genug.

Leben im dauernden Übergangszustand

Meine Mutter lernt mit 65 Jahren eine neue Welt kennen. Ich, die einen magischen Schlüssel zu dieser Welt besitze – nämlich die deutsche Sprache – kann ihr helfen, die Türen schneller zu öffnen. Ich weiß, wie diese Realität funktioniert und bringe es ihr bei. Manchmal fühle ich mich dabei überfordert. Das ist keine Aufgabe, die ich mir ausgesucht habe.

Für sie ist aber nicht nur die neue Realität anstrengend, sondern auch das Leben in zwei Welten gleichzeitig. Zurück wollen, hoffen auf den Sommer, dann Herbst, dann Frühling, irgendwo dazwischen sein, schwebend in einem Übergangszustand. Ich bewundere, wie sie das meistert.

Meine Mutter, der Krieg, und ich - Videostill „Meine Mutter, der Krieg und ich“ - Videostill | © Inga Pylypchuk | JÁDU - jadumagazin.eu Der Krieg verändert uns: Nun reden wir Ukrainisch und nicht Russisch miteinander. Früher dachte ich, dass es mir schwer fallen würde, auf meine „Muttersprache“ zu verzichten. Nun will ich mit Russland dermaßen nichts gemeinsam haben, dass in meinem Kopf Russisch wie automatisch abgeschaltet wird.

Zwei Katastrophen, die unsere Leben miteinander verschweißen

Als meine Mutter mit mir schwanger war, ist der vierte Reaktor-Block des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert. (Diese Geschichte habe ich schon einmal in einem anderen Essay beschrieben.) Sie hat damals gemeinsam mit meinem Vater in Kyjiw gewohnt, nur 150 Kilometer von dem Katastrophenort entfernt, in genau der gleichen Wohnung, aus der sie vor einem Jahr fliehen musste. Mein Vater ist vor sechs Jahren gestorben.

Schon damals, im Mai 1986, musste sie in einem überfüllten Zug fliehen, um sich und mich zu retten. Im September brachte sie mich dann zur Welt, am gleichen Tag, an dem sie selbst Geburtstag hatte. Fast 36 Jahre später saß meine Mutter nun wieder in einem überfüllten Zug Richtung Westen. Diesmal fuhr sie zu mir. Irgendwie gehören diese beiden Geschichten immer zusammen, wenn meine Mutter davon erzählt. Zwei Katastrophen, die unsere Leben miteinander verschweißen. Ich frage mich: Schließt sich hier der Kreis? Ist das eine Chance für uns, einander neu zu begegnen?

Es soll ein Film entstehen

Ich wünsche mir eine Mutter-Tochter-Beziehung, die von Angst befreit ist. Denn die gab es in meiner Kindheit mehr als genug: Da bestand immer der Verdacht, es könnte mit mir etwas nicht stimmen, weil ich ein Tschernobyl-Kind war. Heute weiß ich, dass mit mir alles in Ordnung ist.

Aber wie kann man eine Beziehung anders gestalten, wenn nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart von Angst geprägt ist? Wenn jeden Tag unsere Stadt zerstört und unsere Freund*innen getötet werden können? Ich habe darauf keine Antwort, aber ich habe mich entschieden, diesen Prozess zu dokumentieren. Daraus soll ein Film entstehen: Meine Mutter, der Krieg und ich (AT). Ich hoffe, dass mir die Arbeit an dem Film neue Erkenntnisse bringt.

Dies ist der Teaser:

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