Über eineinhalb Jahre sind seit den Ereignissen des Frühjahrs 2022 in Butscha bei Kyjiw vergangen – seit den Kämpfen um die Stadt, der brutalen Besetzung mit dem Massenmord an der Zivilbevölkerung und schließlich dem Rückzug der Invasoren. Einige Text- und Fotofragmente des Schriftstellers Oleh Kotsarev geben einen Eindruck vom heutigen Leben in Butscha, einem kontrastreichen Leben, in dem sich Schrecken und Wunden der Vergangenheit mit heiteren, lebensbejahenden Momenten verbinden, in dem die Wiedergeburt trotz aller Gefahren ihren Lauf nimmt.
Menschen in Schwarz
Von Zeit zu Zeit kommen ganz besondere „Gäste“ nach Butscha. Es handelt sich um russische Kriegsgefangene, die während der Kämpfe um die Stadt und der Besatzung bemerkt wurden. Jetzt werden sie zu Ermittlungszwecken hierhergebracht, damit sie zeigen, wo und was sie getan haben. Diese Besuche erregen bei den Einheimischen viel mehr Aufsehen als offizielle ausländische Delegationen.Einer dieser „Besucher“ erzählte von seiner Teilnahme an den Ereignissen des 27. Februar, als die russischen Truppen zum ersten Mal in Butscha einmarschierten, aber abgewehrt wurden und sich zunächst zurückziehen mussten. Das erste Gefecht fand an diesem Tag in der Nähe des grellgrünen Novus-Supermarktes statt, wo die Angreifer auf die Selbstverteidigung der Anwohner*innen trafen. Die Kräfte waren ungleich verteilt (etwa zwei Dutzend Verteidiger gegen eine große Kolonne von Angreifern), aber den tapferen Mitgliedern der Selbstverteidigung gelang es, den russischen Vormarsch abzufangen und den Verteidigern an der Grenze zwischen Butscha und Irpin Zeit zu verschaffen. Nach Angaben eines gefangenen Russen hatten die Gruppenbefehlshaber zu Beginn ihres Überfalls auf Butscha befohlen, alle schwarz gekleideten Personen als Feinde zu identifizieren. Unnötig zu erwähnen, dass viele Menschen im Winter schwarz tragen. Die Russen führten den Befehl aus. Mit Einzelschüssen aus Sturmgewehren. Zumindest sind solche Zeugenaussagen auf Video für die Geschichte erhalten. Ein unbewaffneter Supermarktwächter in schwarzer Uniform ist an seinen Verletzungen gestorben.
Wiederaufbau

Es ist schön, Bäume zu sehen, die überlebt haben und vielleicht sogar jemanden gerettet haben, der hinter dem Stamm stand.
Bäume
Zum russischen Ökozid in der Ukraine gehören tote Delfine im Schwarzen und Asowschen Meer, die Folgen der Zerstörung des Staudamms und Wasserkraftwerks Kachowka und vieles mehr. In der Region Kyjiw haben Wälder, Tiere, Vögel, Gewässer und Parks gelitten. Eines der sichtbarsten Beispiele sind die beschädigten Bäume. Allerdings haben sie sich als recht widerstandsfähig erwiesen. Viele von ihnen haben Kugeln und Granatsplitter eingesteckt und nicht mehr losgelassen. Und jetzt wachsen sie weiter und sind grün. Es ist schön, Bäume zu sehen, die überlebt haben und vielleicht sogar jemanden gerettet haben, der hinter dem Stamm stand.„Sonnenschein“
Spuren von Mörsergranaten auf den Bodenplatten und dem Asphalt. Die Menschen nennen sie „Sonnenschein“, was natürlich lebensbejahend klingt. Besonders bizarr wirken diese „Sonnenschein-Bilder“ im prächtigen Butscha-Park, der sonst während der Kämpfe und der Besetzung wenig beschädigt wurde, in Kombination mit beispielsweise Parkskulpturen oder zahlreichen Menschen, die den Kai entlang zum See baden gehen. „Zum See?“, wundern sich Menschen aus anderen Ländern und Städten, „wird in Butscha im See gebadet?“ Ja, es wird gebadet. Wie hätten wir sonst die jüngste Hitzewelle von 36 Grad Celsius überlebt?Ein Mülleimer mit einem Loch ist ein Symbol für die beschädigte beziehungsweise vielerorts völlig zerstörte Infrastruktur der Ukraine.
„Danke!“

Man hört weit entfernte aber laute Explosionen. Russische Soldaten betreten den Innenhof eines Mehrfamilienhauses. Einer von ihnen fragt die Bewohner des Hauses, die dort stehen:
- Wer seid ihr?
- Wir sind die Bewohner.
- Bewohner? Wie könnt ihr hier wohnen? Es ist doch gefährlich! Es ist sehr gefährlich hier.
Ja, es ist gefährlich – Woher kämen sonst die mehreren hundert Zivilist*innen, die in den rund vier Wochen der Besetzung getötet wurden?
Ein Mülleimer mit einem Loch ist ein Symbol für die beschädigte beziehungsweise vielerorts völlig zerstörte Infrastruktur der Ukraine. Manches ist nicht mehr zu renovieren. Manches wird allmählich, manches unerwartet schnell wiederhergestellt. Aber jedes laute Geräusch lässt uns ängstlich nach Norden, Osten oder Süden schauen.
Rutsche

GRAUE RUTSCHE
welche der beiden durch stücke russlands gelöcherten
und von kindern weiterhin gerne genutzten rutschen
soll ich lieber für ausländer fotografieren?
es ist leicht zu erkennen
dass die gelbe plastikspirale
viel besser passt als
die flache graue aus metall
farbe intrige katharsis – was soll man da sagen
natürlich fotografiere ich die gelbe
es tut mir leid, graue rutsche,
du hattest heute pech
das weißt du doch
graue rutsche
es liegt nicht an uns
so ist das leben
In Butscha haben die Besatzer eine Kindergärtnerin getötet. Auch Kinder, die dem russischen Militär nichts anhaben konnten, wurden umgebracht.
Schubladen der Erinnerung
Die russischen Angreifer kümmerten und kümmern sich nicht um die Welt der Kinder. Zerstörte Kindergärten und Schulen, verstreute blutige Spielsachen sind die Normalität dieses Krieges. In Butscha haben die Besatzer eine Kindergärtnerin getötet. Auch Kinder, die dem russischen Militär nichts anhaben konnten, wurden umgebracht.Vor nicht allzu langer Zeit wurde hier eine Installation zum Gedenken an die Getöteten im Februar und März 2022 aufgestellt. Silberne Tafeln in Form von Schubladen mit Namen darauf: „Erinnerungsschubladen“. Auf einer von ihnen steht der Name eines achtjährigen Mädchens mit dem sprechenden Nachnamen Schtschaslywa – die Glückliche. Sie starb am 4. März 2022, in den ersten Tagen der Besatzung. Eine wahre Verkörperung der schmerzhaften und bösen Ironie des Schicksals. Eines dieser Dinge, die bei einem, wie der polnische Dichter Czesław Milosz es ausdrückte, „die Uneinigkeit mit der Welt“ hervorruft. Falls es denn vorher Gründe für eine Einigkeit gab.
Nach Hause

Kinder spielen im Park.
- Olena, kommst du morgen wieder, um zu spielen?
- Nein, ich fahre morgen nach Hause zu meiner Mutter.
- Wohnst du nicht in Butscha?
- Nein, ich habe nur meine Großmutter besucht. Ich wohne in Cherson.
Cherson steht derzeit fast täglich unter brutalem russischem Beschuss. Man lernt also alles im Vergleich. Die Eltern der anderen Kinder werfen der kleinen Olena einen langen Blick zu. Vielleicht einen solchen, wie sie ihn selbst zum Beispiel in der Westukraine oder im Ausland erlebten, als sie freudig verkündeten, dass sie endlich nach Hause nach Butscha gehen würden.
Mauerkommunikation aus den Zeiten der Befreiung und der Besatzung
Noch heute finden sich an einigen Zäunen, Mauern oder Türen von Butscha bunte Inschriften, die an die Zeit der Kämpfe, der Besatzung und der Befreiung erinnern. Ein vielschichtiges Palimpsest findet sich bei der Einfahrt in die Stadt von der Seite des Flugplatzes Hostomel aus, wo Ukrainer und Russen sich gegenseitig verunglimpften. Die Telefonnummer des Fahrers des LKWs „Cargo 200“ (desjenigen, der die Leichen transportiert) an einer Kellertür. Zahlreiche Botschaften wie „Hier wohnen Menschen“, „Kinder“, „Zivilisten“ an den Zäunen und Wänden der Gebäude. Die Aufschrift „Leiche“ und ein Pfeil an der Stelle, wo ein toter Zivilist gefunden wurde. Oder das fröhliche „Minen geräumt. Bussi!“ an einer Garage – das kommt schon von den ukrainischen Pionieren nach der Befreiung von Butscha.Die Menschen leben

Wie bei den Reichen

Allee der Verteidiger

Am auffälligsten ist bisher die Allee der Unabhängigkeitskämpfer in der Majdan-Helden-Straße. Dabei handelt es sich um ziemlich große Billboards mit Fotos und Biographien von Einwohner*innen von Butscha, die im russisch-ukrainischen Krieg seit 2014 getötet wurden, und von denen, die bei der Verteidigung der Stadt oder im Untergrundkampf gegen die Besatzer im Februar und März 2022 gefallen sind. Diese Billboards werden oft mit Blumen und Schleifen geschmückt. Die Allee hilft uns, nicht zu vergessen, wem das heutige Butscha sein kontrastreiches Leben und seine ruhelose Wiederbelebung zu verdanken hat.
Jeder hat hier „seine“ Ecke. Für mich ist es das Foto von Jurij Jermolajew, einem städtischen Aktivisten, den ich kannte. Am 24. Februar 2022 schloss er sich der Selbstverteidigung an, nahm an den Kämpfen um Butscha und Irpin als Aufklärer teil. Offenbar wurde er in der ersten Märzhälfte von den Besatzern gefangen genommen und um den 20. März umgebracht. Er wurde in einem Kindergarten erschossen.
Oktober 2023