Verschleppte ukrainische Kinder  „Die Russen machen Kinder zur Waffe gegen die Ukraine“

„Die Russen machen Kinder zur Waffe gegen die Ukraine“ - Verschleppte ukrainische Kinder Illustration: © Tetiana Kostyk

Angelina aus dem Dorf Oknyno in der durch die russische Armee besetzten Region Luhansk hat ihren ältesten, 12-jährigen Sohn Viktor erst eineinhalb Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion wiedergesehen. Viktor ist eines der Kinder, die von Russland ihren Eltern geraubt wurden, und eines der wenigen, die aus der Gefangenschaft wieder nach Hause zurückkehrten.

Angelina arbeitete als Köchin beim Militär. Bereits 2016 unterschrieb sie einen Vertrag mit den ukrainischen Streitkräften und diente in der 92. Selbständigen mechanisierten Brigade Cholodnyj Jar. Vor dem 24. Februar 2022 lebte ihr Sohn bei Angelinas Mutter Oksana auf dem Land. Die 92. Brigade war in der Region Charkiw stationiert, etwa 250 km von Oknyno entfernt. Angelina besuchte ihren Sohn zweimal im Monat – sobald sie ein freies Wochenende oder Urlaub hatte.

„Warte bis wir die Invasoren vertreiben“

Vom Krieg erfuhr sie am Morgen des 24. Februar aus den Nachrichten. Erst am nächsten Tag, am 25. Februar, konnte sie ihre Familie kontaktieren. „Ich habe es gerade noch geschafft, ihnen zu sagen, dass ich mich eine Weile nicht melden würde, und das Letzte, was ich hörte, war von meiner Mutter: ‚Tochter, hier sind Panzer‘. Ich fragte nach: ‚Wessen Panzer?‘. Und sie sagte: ‚Denk mal drüber nach.‘ Und das Gespräch war aus“, sagt Angelina. Später wurde ihre Mutter für drei Tage im Keller [Als „Keller“ werden provisorische Gefängnisse in den von Russland besetzten Gebieten bezeichnet, Anm. d. Übers.] eingesperrt, weil die Großmutter den Besatzern verraten hatte, dass ihre Enkelin beim Militär war.

Während der ganzen Zeit, in der ihre Familie unter der Besatzung lebte, telefonierte Angelina nur ein paar Mal mit ihnen. Die Gespräche dauerten nicht länger als eine oder zwei Minuten. Viktor fragte immer wieder, wann seine Mutter ihn abholen würde.

Das Kind hatte sich sehr verändert, es war ganz anders als vorher. Wir sind immer noch dabei, uns aneinander zu gewöhnen.“

Angelina sagt, sie habe ihr Kind immer aus der Besatzung zurückholen wollen. Aber sie habe nicht gewusst, an wen sie sich um Hilfe wenden sollte. „Ich fragte meinen Vorgesetzten, aber was konnte er für mich tun? Er zuckte nur mit den Schultern und das war`s. Warte, sagte er, bis wir die Invasoren vertreiben. Einige Volontäre versprachen meine Angehörigen mitzunehmen, aber nicht aus der Region Luhansk, wo sie waren, sondern nur aus der der Region Cherson. Andere meinten, sie würden helfen und haben sich immer noch nicht gemeldet. Nur meine Psychologin Lolita hat wirklich geholfen: Sie gab mir einen Link zu einer Facebook-Gruppe für Binnenflüchtlinge“, erzählt Angelina.

Es war das Ukrainische Netzwerk für Kinderrechte, das in Zusammenarbeit mit der internationalen humanitären Organisation Save the Children in Ukraine an dem Projekt Way Home (шлях додому) arbeitet. Das Projekt zielt darauf ab, Kinder, die nach Russland oder in nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiete verschleppt wurden, zu finden und zurückzuholen. Die Organisation führt auch Familien zusammen, deren Kinder in besetzten Gebieten ohne Eltern zurückgeblieben sind.

Nachdem Angelina ihren Antrag abgeschickt hatte, wurde sie von Anastasija, der Projektleiterin, angerufen und musste einige Fragen beantworten. Vor allem, ob ihr Kind russische Papiere habe. „Erst nachher erfuhr ich, dass meine Mutter nicht nur eine russische Geburtsurkunde für meinen Sohn ausstellen, sondern mir auch die Elternrechte offiziell entziehen lassen hatte. Ich weiß immer noch nicht, warum sie das getan hat. Sie ist überzeugt, es sei notwendig gewesen. Sie bat mich, meinen Sohn selbst abzuholen, und sagte, man habe ihr versprochen, dass ich ihn ohne Probleme mitnehmen würde. Und ich wollte wirklich hinfahren, obwohl ich zu dem Zeitpunkt mit dem zweiten Kind schwanger war. Aber mein Vorgesetzter hat mir das strikt verboten: Auf dem besetzten Gebiet würde ich wegen meines Armeedienstes definitiv sofort eingesperrt“, erklärt die Frau.

Insgesamt dauerte die Rückholaktion von Viktor sechs Monate. Angelina macht keine genauen Angaben zum Ablauf, denn ähnliche Methoden nutzen die Mitarbeiter*innen der Organisation für die Rückführung von Kindern aus Russland und aus den besetzten Gebieten auch weiterhin. Bekannt ist nur, dass Viktor und seine Großmutter über die russische Stadt Belgorod angereist sind. Im September traf Angelina die beiden zum ersten Mal wieder.

„Das Kind hatte sich sehr verändert, es war ganz anders als vorher. Wir sind immer noch dabei, uns aneinander anzupassen. In den ersten Monaten machte mir mein Sohn ständig Vorwürfe, dass ich ihn im Stich gelassen hatte und zum Militär gegangen war. Auch meine Mutter kam als eine andere Person zurück. Ich hatte den Eindruck, dass sie dort einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen worden war. Ich erkläre meinem Sohn immer wieder, dass wir ohne die ukrainische Armee obdachlos in unserem Dorf geblieben wären. Denn unser dortiges Haus war völlig zerstört worden. Mein Sohn erzählt mir nichts über die Besatzung, und ich frage ihn auch nichts, weil ich ihn nicht verletzen will. Er sagte nur, dass er seinen Freund vermisst. Aber neulich wurde auch dieser Freund aus dem besetzten Gebiet Luhansk rausgeholt. Wir werden ihn in der Region Mykolajiw bald besuchen“, sagt Angelina.
 

Derzeit dauert es zwei bis vier Monate, bis die russische Seite auf einen Antrag überhaupt erst reagiert. Und die Zeit läuft gegen uns, denn die Kinder werden größer.“

Die Familie lebt derzeit in der Nähe von Dnipro. Angelina hat einen Sohn aus ihrer zweiten Ehe mit einem Militärangehörigen zur Welt gebracht. Ihr Mann ist im Krieg, und sie kümmert sich allein um die beiden Kinder.

Darja Kasjanowa, Vorstandsvorsitzende des Ukrainischen Netzwerks für Kinderrechte, erklärt gegenüber JÁDU, dass sich die Rückführung deportierter ukrainischer Kinder aus Russland und derjenigen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind, erheblich verlangsamt hat. Das genaue Verfahren für die Rückführung der Kinder wird derzeit aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich gemacht. Es ist bekannt, dass Russland den Prozess sabotiert und „einen Haufen Papiere“ verlangt. Und Vermittler*innen, die das zurückzugebende Kind abholen, werden gezwungen, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Insgesamt hat die Organisation, die Darja vertritt, 143 Kinder zurückgebracht. „Derzeit dauert es zwei bis vier Monate, bis die russische Seite auf einen Antrag überhaupt erst reagiert. Und die Zeit läuft gegen uns, denn die Kinder wachsen. Die Russen machen sie zur Waffe gegen die Ukraine und nutzen sie für Propagandazwecke aus. Sie sagen: ‚Schaut her, wir bringen die Kinder in die Ukraine zurück‘ oder ‚Schaut, wie wir sie beschützen‘. Dabei handelt es sich jedoch um Zwangsevakuierungen und Deportationen. Es gibt Fälle von illegaler Zwangsadoption. Und das, obwohl es viele verlassene russische Kinder in Waisenhäusern und Internaten in Russland gibt“, sagt Darja.

Darja Kasjanowa, Vorstandsvorsitzende des „Ukrainischen Netzwerks für Kinderrechte“ und Programmdirektorin der Wohltätigkeitsorganisation „SOS-Kinderdörfer Ukraine“ Darja Kasjanowa, Vorstandsvorsitzende des „Ukrainischen Netzwerks für Kinderrechte“ und Programmdirektorin der Wohltätigkeitsorganisation „SOS-Kinderdörfer Ukraine“ | Foto: © privat Die meisten verschleppten Kinder haben ihre Familien verloren, setzt Daria fort. Eine Familie hat zum Beispiel versucht, Mariupol oder Wolnowacha zu verlassen, und ist entweder unter Beschuss geraten oder auf eine Mine gestoßen. Die Eltern sind tot, und das Kind wird in einem besetzten Gebiet ins Krankenhaus gebracht. Und so bleibt es alleine. „Aber es kann durchaus eine Großmutter oder eine Tante in der Region Tschernihiw haben, die nicht wissen, was passiert ist. Aber das Kind wird inzwischen in einer Pflegefamilie in Russland untergebracht. Solche Fälle sind recht häufig. Oder es handelt sich um Kinder von gefangengenommenen ukrainischen Militärangehörigen. Die Kinder und ihre Großeltern sind in der Besatzungszone geblieben, und letztere sind gezwungen, das vorübergehende Sorgerecht nach russischem Recht zu übernehmen. Die Russen schüchtern sie ein: ‚Sie dürfen mit dem Kind nicht mehr wegfahren, weil es ihnen unterwegs weggenommen wird‘. Und die Großeltern haben Angst. Auch das kommt sehr oft vor“, sagt Daria.

In der letzten Zeit greifen die Russen zu einer neuen Taktik

Nach Angaben von Dmytro Lubinets, dem ukrainischen Ombudsmann, hat Russland seit 2014 19.546 Kinder entführt [Die russische Seite spricht von 700.000 Kindern, die das Land „erhalten“ habe, die meisten angeblich in Begleitung ihrer Eltern oder anderer Angehöriger. Anm. d. Red.]. Es ging mit der Annexion der ukrainischen Krim, mit dem sogenannten Zug der Hoffnung los, einem Programm, nach dem jede russische Familie auf die Krim kommen konnte, sich ein ukrainisches Kind in einem Waisenhaus aussuchen, es adoptieren und nach Russland mitnehmen konnte. Es war ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Die meisten Kinder wurden jedoch erst nach der russischen Großoffensive deportiert. Bis Anfang Dezember 2023 konnte die Ukraine 522 Kinder zurückholen. Auch Lubinets bemerkt, dass sich dieser Prozess deutlich verlangsamt hat. Er sagt, dass Russland keine Informationen über die entführten ukrainischen Kinder bereitstellen will, weder direkt an die Behörden in Kyjiw noch über internationale Organisationen.

Dmytro Lubinets, Ombudsmann für Menschenrechte in der Ukraine Dmytro Lubinets, Ombudsmann für Menschenrechte in der Ukraine | Foto: © Halyna Ostapovets In der letzten Zeit greifen die Russen zu einer neuen Taktik: Sie bringen die Kinder zunächst nach Belarus und erst dann nach Russland. „Vielleicht will Russland Belarus für die Abschiebung von Kindern mitverantwortlich machen. Oder es handelt sich um ein neues Instrument, das uns verhindern soll, nachzuweisen, dass ukrainische Kinder von Russland deportiert werden. Das erschwert unsere Aufgabe, die Tatsache der Deportation offiziell zu bestätigen“, sagt Lubinets. Ihm zufolge verfolgt die Russische Föderation inzwischen die Strategie, fast niemanden mehr zurückzuschicken. Internationale Verträge oder Konventionen sind für die Russen nur ein Stück Papier, dem sie keine Beachtung schenken. Und die ukrainische Seite weiß nicht, wie sie diese Behinderung überwinden soll. Kyjiw bittet Drittländer wie die Türkei und Katar um Hilfe. Dank Katar konnten übrigens mehr als zehn Kinder zurückgebracht werden. Lubinets macht keine genaueren Angaben dazu, wie das funktioniert. Es gibt auch viele weitere internationale Initiativen, aber keine Einzelheiten zu ihrem Vorgehen. „Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Zahl der betroffenen Kinder noch steigen wird, denn Russland verschleppt weiterhin Kinder, jeden Tag werden neue Listen erstellt. Dies ist ein weiterer Völkermord am ukrainischen Volk, und wir werden die Gründung eines eigenen Tribunals für diesen Fall fordern“, so Lubinets abschließend.

Am 17. März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa. Beide werden verdächtigt, seit mindestens dem 24. Februar 2022 Kriegsverbrechen in Form von illegaler Deportation und Vertreibung der Bevölkerung, unter anderem Kinder, aus den besetzten Gebieten der Ukraine begangen zu haben.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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