Insel des Mangels  Kuba und die Leere im Paradies

Kuba und die Leere im Paradies Foto: © Daniel Ryba

Schlange stehen für Lebensmittel, das sind die Kubaner*innen noch aus Fidel Castros Zeiten gewohnt. Die Knappheit, die in den 1990er Jahren noch beispiellos war, ist heute eine Erfahrung, die alle machen. Der Strom, den sich die Menschen ohnehin nicht leisten können, fällt immer wieder aus. Die Regale in den Geschäften sind leer und die Kubaner*innen, von denen die meisten nicht einmal eine Bankkarte haben, müssen sich an den meisten Tagen entscheiden, ob sie zu Mittag oder zu Abend essen, weil es für zwei Mahlzeiten am Tag nicht reicht. Auch das ist Realität auf Kuba, das Tourist*innen, die in Varadero ankommen, nur als tropisches Paradies kennen.

Kuba heute

Dieser Artikel ist der erste Teil unserer Serie über Kuba und die gesellschaftlichen Realitäten und Probleme, denen die Kubaner*innen heute gegenüber stehen. Die Autorin Kristina Böhmer ist Kuba-Expertin. Die Fotos hat JÁDU-Redakteur Daniel Ryba im Januar 2022 auf Kuba gemacht.

Die anderen Teile der Serie sind:

Die Sonne ist noch nicht einmal richtig aufgegangen und vor dem Laden bildet sich bereits eine lange Schlange. Links von der Tür hängen die Porträts von Camilo Cienfuegos und Ernesto Che Guevara, zwei der Führer der kubanischen Revolution von 1959, nach der Fidel Castro an die Macht kam. Auf der rechten Seite eine Aufschrift: Frutas Selectas. Ausgewähltes Obst. Das Schild ist verblasst und in den Regalen ist statt Obst ausgewähltes Nichts.

In den letzten Monaten erlebte Kuba die schlimmste Wirtschafts- und Nahrungsmittelkrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die unabhängige kubanische Journalistin Maria Matienzo Puerto berichtete im Sommer, das einzige, was noch irgendwie zu bekommen wäre, sei Hühnchen. „Also essen wir seit einem Jahr Hühnchen“, fügt sie hinzu. In den Warteschlangen dafür stehen manchmal bis zu zweihundert Personen sieben oder acht Stunden lang an. Dadurch ist ein illegaler Job entstanden: Der so genannte Colero ist jemand, der Schlange steht und für andere gegen eine Gebühr einkauft. So ähnlich war es auch in den 1990er Jahren auf Kuba nach dem Fall der Sowjetunion. Damals nannte man das Período Especial, also Ausnahmezeit. „So etwas war noch nie dagewesen“, erklärt der kubanische Kulturwissenschaftler Enrique del Risco, der unter dem Namen Enrisco als Schriftsteller und Humorist bekannt ist. Jetzt ist es jedoch keine Ausnahme mehr, die Kubaner wissen nun nur allzu gut, was Knappheit bedeutet.

Rezepte von Herzen

Das kommunistische Regime nennt eine Reihe von Gründen, warum den Kubaner*innen der Magen knurrt. Schuld sind die Sanktionen, die der ehemalige US-Präsident Donald Trump gegen Kuba verhängt hat, weil er gegen die dortigen Menschenrechtsverletzungen vorgehen wollte, während er selbst an der Grenze zwischen Mexiko und den USA Müttern ihre Kinder wegnahm. Laut Matienzo Puerto ist klar, dass die Embargos nur ein Vorwand sind, denn „das Huhn, das sie im Handel haben, kommt aus den USA“. Andere angebliche Gründe sind die Krise in Venezuela oder die weltweite Pandemie. Covid-19 mag die Probleme Kubas extrem verschärft haben, die Ursache ist es jedoch nicht. Das Leben auf Kuba war schon vorher schwierig. Bereits vor acht Jahren ermittelte die Denkfabrik Brookings, dass die meisten Kubaner*innen ein Einkommen von etwa 20 Dollar pro Monat nach Hause brachten.

Auch Henry Eric Hernández, kubanischer Meinungsforscher, Journalist, Künstler und Mitglied der Freiheitsbewegung ist nicht der Meinung, dass die Krise ausschließlich auf die Pandemie zurückzuführen ist. Er macht die politische Verwaltung der „unfähigen“ kubanischen Regierung, die seit den 1960er Jahren im Amt ist, dafür verantwortlich, dass die meisten kubanischen Familien wählen müssen, ob sie mittags oder abends essen, weil sie sich keine zwei Mahlzeiten am Tag leisten können. Auch deshalb heißt es seit Monaten, dass es auf Kuba nur drei Probleme gibt: Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Wer kulinarische Tipps braucht, was man mit den spärlichen Vorräten kochen kann, findet Inspiration in der Facebook-Gruppe Recetas desde el corazón (Rezepte von Herzen). Die älteren Generationen haben mehr Erfahrung, weil sie schon in den 1990er Jahren so gekocht hatten. „Es war eine Nachkriegszeit, nur dass es vorher keinen Krieg gegeben hatte“, sagte Enrisco über die Zeit nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes.

Schweine im Badezimmer

Armut hat es immer gegeben, aber eine solche Warenknappheit nie. Die Sowjetunion hatte Kuba nämlich mit allem beliefert, von Fischkonserven bis hin zu Kalaschnikows, um einen Verbündeten vor der Haustür der USA zu haben. Nach dem Zerfall der UdSSR in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sei die kubanische Wirtschaft jedoch völlig am Boden gewesen, so del Risco. Öffentliche Verkehrsmittel gab es so gut wie gar nicht. „In der Zeit, als die Wirtschaft in staatlicher Hand war, wurde der Dienstleistungssektor praktisch auf null reduziert, Restaurants und Cafés verschwanden ebenso wie Bekleidungsgeschäfte“, so del Risco und er fügt hinzu, dass auch Kulturzentren, Kinos, Theater und Kabaretts verschwanden, der Strom nur acht Stunden am Tag lief und die meisten Lebensmittel rationiert waren.

„Diebstähle und Gewalt erreichten ein bis dahin ungekanntes Ausmaß. Viele verbrannten Möbel, um auf dem Feuer zu kochen. Katzen verschwanden von den Straßen, weil einige sie aßen. Viele Leute begannen, Schweine in ihren Badezimmern zu halten“, erzählt del Risco, und da schüttelt es mich. In den Badezimmern? „Damit man sie ihnen nicht klaute“, fügt er hinzu, als ob es ganz normal wäre und beschreibt dann fast etwas poetisch, was in den 1990er Jahren passierte: „Das war nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern vielmehr ein zivilisatorisches Debakel.“ Die Lösungen, die das kommunistische Regime seinen Einwohner*innen damals anbot, waren nicht sehr poetisch. Es wurde empfohlen, öffentliche Verkehrsmittel durch Fahrräder zu ersetzen oder frisch geschlüpfte Küken zu verteilen, damit die Leute sie zu Hause halten konnten, erinnert sich del Risco. „Oder es in der Küche so zu machen wie im Krieg, nämlich die Schalen von Bananen und Orangen essen.“
 
  • Leere Regale, politische Slogans und Reste der Neujahrsdekoration. Havanna in der zweiten Januarhälfte 2022. Foto: © Daniel Ryba
    Leere Regale, politische Slogans und Reste der Neujahrsdekoration. Havanna in der zweiten Januarhälfte 2022.
  • In Cienfuegos bilden sich am Morgen lange Schlangen vor jedem Geschäft. Foto: © Daniel Ryba
    In Cienfuegos bilden sich am Morgen lange Schlangen vor jedem Geschäft.
  • Das Obst- und Gemüseangebot in der Stadt Trinidad. Foto: © Daniel Ryba
    Das Obst- und Gemüseangebot in der Stadt Trinidad.
  • Trinidad. Wer sich kein Fleisch leisten kann, kann oben auf der Terrasse zumindest einen Kaffee bekommen. Den gibt es auch nicht überall. Foto: © Daniel Ryba
    Trinidad. Wer sich kein Fleisch leisten kann, kann oben auf der Terrasse zumindest einen Kaffee bekommen. Den gibt es auch nicht überall.

Der Staat und nur der Staat

Wegen Covid-19 ist praktisch die ganze Welt in der Krise. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) steigen die Lebensmittelpreise weltweit so schnell wie seit 2011 nicht mehr.  Alles ist teuer, und Kuba, das bis zu 70 Prozent seiner Lebensmittel importiert, kann sich das jetzt nicht leisten. Das Land könnte jedoch eigene Produkte herstellen, aber dazu müssten die Kommunisten ihre bürokratischen Zügel lockern und es Unternehmern leichter machen. Obwohl zum ersten Mal seit der Revolution kein Castro und auch kein Revolutionsveteran mehr in der Regierung oder der Führung der Kommunistischen Partei Kubas sitzt, ist es nicht zu einem politischen Wandel gekommen. Als Präsident Miguel Díaz-Canel im April 2021 die Nachfolge von Fidels Bruder Raúl Castro an der Spitze der einzigen verfassungsmäßig zugelassenen Partei antrat, verkündete er stolz die continuidad. „Eine Kontinuität des Elends und der Repressionen“, schrieb Matienzo Puerto damals.

Statt seinen Markt zu öffnen, schlug das Regime den Kubaner*innen eine andere Möglichkeit vor. Sie könnten ins Ausland reisen und sich dort mit dem Nötigsten versorgen. Duty-free, alles, was man in ein Flugzeug packen kann. Aber wie viele können sich so eine Reise leisten? „Die kubanische Gesellschaft lässt sich entsprechend ihrer Mittel einteilen“, erklärt Dimas Castellanos, ein Aktivist der kubanischen Freiheitsbewegung. „Sie ist jetzt sehr gespalten in diejenigen, die viel haben, diejenigen, die wenig haben, und diejenigen, die nichts haben. Ins Ausland reisen, das können die wenigsten“, sagt er und fügt hinzu, dass die meisten dieser wenigen mulas sind, also Leute, die ausreisen, um Dinge einzukaufen, die sie dann auf Kuba wieder verkaufen. Denn die Mehrheit der Kubaner*innen hat nicht einmal eine Bank- oder Kreditkarte, wie Matienzo mir einmal sagte. Deshalb können sie in den Geschäften auch nicht für Dollar einkaufen.

Dollar sind ohnehin eine Seltenheit und den konvertiblen Peso gibt es seit Anfang 2021 nicht mehr, weil Kuba sein Doppelwährungssystem abgeschafft hat. Dies geschah im Rahmen einer umfassenden Wirtschaftsreform, bei der auch die Gehälter erhöht wurden. Die Preise stiegen jedoch noch stärker an und die Kubaner*innen können sich nicht einmal mehr den Strom leisten, der zudem sowieso ständig ausfällt. Der Treibstoff für die Stromproduktion wurde von Venezuela geliefert, wohin Kuba im Gegenzug Experten, insbesondere Ärzte, entsandte. Venezuela befindet sich jedoch in einer Krise und ist nicht in der Lage, das Abkommen einzuhalten. Kuba hingegen verfügt tatsächlich über wirklich hochkarätige Experten. Diese haben auch einen eigenen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt.

Wie damals, nur anders

Obwohl die derzeitige Krise an die 1990er Jahre erinnere, gebe es viele Unterschiede, so Castellanos. Damals nahm Kuba noch Anleihen bei sozialistischen Ländern auf. Heute hat das Land niemanden, von dem es sich etwas leihen kann. Die Industrie, die schon damals in einem katastrophalen Zustand war, ist heute noch schlechter dran und viele Fabriken sind völlig veraltet. In den 1990er Jahren herrschte zudem eine starke Korruption und das traditionelle Vorgehen der Menschen kommunistischer Ländern hatte Hochkultur: In Zeiten der Knappheit stiehlt man von Papa Estado, Vater Staat, was zur Entstehung eines Schwarzmarktes führte.

Aber hauptsächlich erfuhr das Regime damals trotz der unglaublichen Knappheit eine große Unterstützung durch die Bevölkerung. „Heute ist das nicht mehr der Fall“, sagt Castellanos. „Wenn es jetzt wirklich freie Wahlen gäbe, wäre die Mehrheit gegen die derzeitige Regierung.“ Denn die heutige Generation hat bereits Zugang zum Internet. Ihre Eltern und Großeltern mussten sich noch auf Informationen verlassen, die das Regime selbst verbreitete.

Genau deshalb ist die heutige Generation anders. Endlich gibt es Internet auf den Handys. Sie wollen nicht auswandern, wie damals ihre Eltern. Sie wollen Kuba zum Besseren verändern. Damit Cuba libre nicht nur ein Drink ist, für den jetzt sowieso niemand Geld hat, und Coca Cola ist auch knapp, sondern damit ihr Land tatsächlich zu einem Cuba libre, einem freien Kuba wird.

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