Politischer Widerstand auf Kuba  Patria o Muerte? Das kubanische Volk will nicht mehr zwischen Vaterland und Tod entscheiden

Die Straßen im Viñales-Tal sind – wie fast überall auf Kuba – in schlechtem Zustand. Propaganda darf jedoch nicht fehlen. Viñales begrüßt den Parteitag der städtischen Organisation der Kommunistischen Partei.
Die Straßen im Viñales-Tal sind – wie fast überall auf Kuba – in schlechtem Zustand. Propaganda darf jedoch nicht fehlen. Viñales begrüßt den Parteitag der städtischen Organisation der Kommunistischen Partei. Foto: © Daniel Ryba

Krise des Gesundheitssystems, Wirtschaftskrise, Nahrungsmittelkrise. Und über all diesen Krisen schwebt die politische. Obwohl zum ersten Mal seit Fidels Machtübernahme 1959 kein Revolutionsveteran und auch kein Castro an der Spitze des Landes steht, haben sich die Methoden des kubanischen Regimes nicht verändert. Selbst vorgebliche Wirtschaftsreformen konnten das kubanische Volk nicht aus der Armut holen. Im Gegenteil, die Krise hat sich verschärft und der Absturz nach ganz unten hat viele gezwungen, für Veränderungen zu kämpfen. Auf der Insel kam es zu den größten Demonstrationen seit der Revolution, doch das Regime ging hart dagegen vor. Gibt es noch Hoffnung?

Kuba heute

Dieser Artikel ist der zweite Teil unserer Serie über Kuba und die gesellschaftlichen Realitäten und Probleme, denen die Kubaner*innen heute gegenüber stehen. Die Autorin Kristina Böhmer ist Kuba-Expertin. Die Fotos hat JÁDU-Redakteur Daniel Ryba im Januar 2022 auf Kuba gemacht.

Die anderen Teile der Serie sind:

Auch in unserem Land kennen viele das noch. Wenn man in einem Regime aufwächst, in dem Angst, Anschuldigungen, Repressionen und gnadenlose Unterdrückung jeglicher Andersdenkender an der Tagesordnung sind, lernt man, in Angst zu leben. Das gab auch der kubanische Künstler Efe Randy Malcom vom Duo Gente de Zona zu, der noch vor wenigen Jahren die Fans bei einem Konzert aufforderte, Miguel Díaz-Canel, „unserem Präsidenten“, zu applaudieren.

Nicht etwa, weil er den kommunistischen Nachfolger von Castro unterstützte, der nach seiner Amtsübernahme von Raul Castro die continuidad, die Fortsetzung von Castros Politik, versprach. Er hatte einfach Angst, wie die meisten Kubaner.

Doch damit ist es nun vorbei. Die Wirtschaftskrise auf Kuba hat sich in den letzten zwei Jahren derartig verschärft, dass die meisten Menschen nicht einmal genug Geld für Strom haben. Die Regale in den Geschäften sind leer und die meisten Lebensmittel nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich und dann so teuer, dass sie sich nur wenige leisten können. Die Krankenhäuser befinden sich in einem solch katastrophalen Zustand, dass auch Menschen dort an Covid starben, die unter besseren Bedingungen überlebt hätten.

Das kubanische Volk ist ganz unten angekommen, und um wieder wieder aus dem Tief herauszukommen, brach es das über Jahre hinweg gepflegte Schweigen. Zunächst die Künstler, darunter auch das Duo Gente de Zona, dann die Kubaner*innen, die im Juli 2021 bei der größten Demonstration, die die Insel seit Fidels Revolution gesehen hat, für eine bessere Zukunft auf die Straße gingen.
 
 

Patria y Vida!

Bekannte kubanische Künstler, von denen einige auf Kuba und andere im Exil leben, schlossen sich Anfang 2021 zusammen, um mit ihrem Song Patria y Vida (Vaterland und Leben) auf die aktuelle Situation in ihrem Heimatland zu reagieren. Das Lied wurde sofort von der Regierung kritisiert und verboten. Der kubanische Künstler, Journalist und Forscher Henry Eric Hernández erzählte mir damals, dass seinen beiden Nachbarn in der Schule gesagt wurde, dass das Lied nicht gehört werden dürfe und dass jeder, der es sich anhöre, Ärger bekommen würde, und dass sie deshalb auf ihre Kinder aufpassen sollten.

Künstler haben sich schon früher aktiv für den Kampf gegen das kubanische Regime engagiert. Sie schlossen sich zusammen in der San-Isidro-Bewegung. Der Widerstand war jedoch für die Welt noch nie so sichtbar wie nach der Veröffentlichung von Patria y Vida. Gesungen wurde der Song von Yotuel Romero, Descemer Bueno, dem Duo Gente de Zona und den Rappern Maykel Osorbo und El Funky. Er handelt von Hunger und Lebensmittelknappheit, von der brutalen Unterdrückung durch die Regierung und vor allem davon, dass sie nicht länger tatenlos zusehen können. „Es ist vorbei. Keine Lügen mehr. Mein Volk will Freiheit. Keine Doktrinen mehr. Wir rufen nicht mehr Patria o Muerte, sondern Patria y Vida!“
 

Roberto Hechavarría ist Chefredakteur der unabhängigen kubanischen Nachrichten-Website CubaNet. Seiner Meinung nach hat der Song Patria y Vida das Regime aus mehreren Gründen provoziert. Er wird von sehr beliebten Künstlern gesungen. Sie haben Fidels Slogan Patria o Muerte in Patria y Vida abgeändert. Und nicht zuletzt „übermittelt der Song dem kubanischen Volk die Botschaft, dass das Regime seit 60 Jahren die individuellen Freiheiten auf der Insel einschränkt, Armut schafft und Andersdenkende unterdrückt“, sagte Hechavarría.

Im März des vergangenen Jahres griff Präsident Miguel Díaz-Canel Fidels Ausruf auf Twitter wieder auf. Das war einen Monat nach der Veröffentlichung des neuen Songs und die Regierung war immer noch beunruhigt über dessen Erfolg. „Das ist eine Liebeserklärung an das kubanische Volk, die inmitten von tiefem Schmerz geboren wurde“, schrieb der Präsident über den Ausruf Patria o Muerte.

1960 wurde das französisches Frachtschiff La Coubre im Hafen von Havanna entladen. Es transportierte 76 Tonnen Granaten und Munition und plötzlich explodierte es. Bis zu 100 Menschen starben und viele wurden verletzt. Fidel Castro bezeichnete dies als Sabotage seiner Revolution durch die USA, die jegliche Beteiligung abstritten. Damals rief Fidel: Patria o Muerte! Vaterland oder Tod!

11J. Wir sehen uns draußen

Die Kubaner begannen, Patria y Vida, Vaterland und Leben, auf Geldscheine zu schreiben, einfach so, mit Filzstift. Es ist ihr Credo in diesen schwierigen Zeiten, in denen sie nicht mehr zwischen Vaterland und Tod wählen möchten, sondern ihr Vaterland und das Leben dort wollen. Und auch jetzt noch, wenn ich mit jemandem aus Kuba schreibe, heißt es zum Abschied statt des traditionellen Un saludo in Großbuchstaben: PATRIA Y VIDA. Viele riefen das auch bei der Demonstration im Juli.

Der Historiker Manuel Cuesta Morúa ist Mitglied des Rates für den Übergang zur Demokratie auf Kuba. „Ich werde ständig von der Polizei überwacht“, sagte er einmal beiläufig. Er schickte mir Hintergrundinformationen über die Initiative 11J. Darin heißt es, das Ziel sei „ein Rechtsstaat und rechtsstaatliche Demokratie“, und es wird von „Vielfalt und Pluralismus“ gesprochen.

Im Grunde wollen sie ein freies Kuba. Und 11J spielt dabei als Zahl und Buchstabe eine sehr wichtige Rolle, denn so nennen die Kubaner den 11. Juli 2021, den Tag, an dem so viele unzufriedene Menschen auf die Straße gingen, dass die Demonstration die größte war, die Kuba seit der Castro-Revolution erlebt hat. Sie seien auf die Straße gegangen, um zu zeigen, dass sie keine Angst mehr hätten, sagte mir Maykel Aledo, der an der Demonstration teilnahm und auch ein Video drehte, in dem eine Frau ruft: „Unsere Kinder sterben hier vor Hunger.“ Er schaffte es, das Video auf Facebook hochzuladen, doch dann blieb es still.
 

Das kubanische Regime hatte das Internet abgeschaltet. „Und zwar damit die Welt die brutale Unterdrückung, die hier stattfindet, nicht sieht“, schrieb mir Aledo später, als es ihm gelang, wieder online zu gehen. Angeblich wurde eine Ausgangssperre verhängt. Aber die Menschen waren auf der Straße. Die Polizei schlug mit Stöcken auf sie ein, schoss in die Menge und verhaftete die wichtigsten Anführer. Maikel Iglesias aus der Stadt Pinar musste wieder mitansehen, wie Paramilitärs mit Waffen auf unbewaffnete Menschen zielten. „Ich befürchte das Schlimmste“, schrieb er mir.

Wir wollen hier bleiben

Die Verhaftungen dauern bis zum heutigen Tag an. Eine zweite friedliche Demonstration, die für den 15. November als 15N geplant war, konnte nicht einmal richtig beginnen. Manuel Cuesta Morúa wurde verhaftet gleich nachdem er sein Haus verlassen hatte. „Sie haben mich nicht einmal angehört“, schrieb er mir kurz nach seiner Entlassung. Um ein Uhr nachts. Yunior García, ein Aktivist der Archipiélago-Bewegung, schaffte es nicht einmal bis nach draußen. Sein Haus war umstellt. Als er wenigstens eine weiße Rose, das Symbol der Demonstrationen, aus dem Fenster halten wollte, rollten plötzlich riesige kubanische Fahnen vom Dach über seine Fenster herab und versperrten ihm die Sicht.

Alle hatten Angst um Yunior. Einige Tage lang beantwortete er Nachrichten nicht, und die Leute fragten sich gegenseitig, ob jemand etwas von ihm gehört hätte. Dann schrieb er auf Facebook: „Ich bin in Spanien.“ Das ist eine weitere Art, wie das Regime mit unbequemen Landsleuten verfährt. Man öffnet ihnen den Weg ins Exil. Aber als Yunior sich in Madrid in eine von Kubanern geführte Pizzeria setzte, sagte er nach einem Blick auf die Speisekarte: „Ich möchte nach Hause.“ Denn heute wollen die Kubaner nicht mehr fliehen, wie das bei früheren Generationen der Fall war.

Zum Beispiel während des Maleconazo, der großen Demonstration gegen Fidel im Jahr 1994. Manuel Cuesta Morúa war damals dabei. „Ich erinnere mich sehr gut daran. Tausende Bewohner von Havanna gingen auf die Straße und forderten Veränderungen oder die Ausreise aus dem Land, in spontanen Demonstrationen, die zum ersten Mal die Kluft zwischen der Regierung und der kubanischen Gesellschaft zeigten“, erzählt Cuesta Morúa. Da kam Fidel zum Malecón, einem mehrere Kilometer langen Pier in Havanna, stieg aus seinem Jeep aus und sagte, wer gehen wolle, der solle gehen. Viele stiegen in Boote und gingen in die USA.
 
Armut und Mangel prägen auch das Gesicht der Altstadt von Havanna. Armut und Mangel prägen auch das Gesicht der Altstadt von Havanna. | Foto: © Daniel Ryba

Wir werden sehen…

Aber die heutige Generation will nicht weggehen. Sie wollen zu Hause bleiben und ein Land aufbauen, in dem sie eine andere Meinung haben können und diese auch frei äußern dürfen. Ein Land, in dem sich die Wirtschaft öffnet und die Menschen die Möglichkeit haben, normal ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und so kämpfen die Kubaner weiter. Der Song Patria y Vida hat inzwischen zwei Latin Grammys gewonnen. Aber nicht alle, die daran mitgewirkt haben, konnten die Preise entgegennehmen.

Der Sänger Maykel Osorbo ist nämlich im Gefängnis. Wie Hunderte andere politische Häftlinge. „Wie soll man das denn schafften, dabei nicht zu weinen und gleichzeitig Freunde zu empfinden?“, fragt mich der kubanische Schriftsteller Maikel Iglesias nach der Preisverleihung, und meint, das sei „ein Song mit Aussage, bewegend und repräsentativ für viele Generationen, die nicht in der Lage waren, ihre Wünsche gemeinsam und frei zu äußern.“ Aber gibt es tatsächlich eine Chance, das zu erreichen? Der Journalist Roberto Hechavarría ist Optimist. Die junge Generation wurde ihm zufolge in Armut geboren, sie glaubt nicht an die Ideologie der Regierung und will besser leben und besser essen. Und da sie wütend ist, könnte sie Erfolg haben.

Der kubanische Kulturwissenschaftler Enrique del Risco, der unter dem Namen Enrisco als Schriftsteller und Humorist bekannt, sieht alles etwas schwärzer. Das kubanische Regime sei darauf vorbereitet, man weiß genau, was 1989 in Osteuropa passiert ist. Man sah, wie sich die Armee auf die Seite des Volkes stellte und die Unruhen nicht unterdrückte. „Und so entstand die Idee, das Militär zum wichtigsten Unternehmer des Landes zu machen, der sechzig Prozent der Wirtschaft kontrolliert“, sagt er.

Del Risco zufolge steht auf der einen Seite ein hungerndes, frustriertes und verzweifeltes Volk, das jedoch kaum Möglichkeiten hat, sich zu organisieren, da alle Medien von der Regierung kontrolliert werden und auch die Telekommunikation in deren Händen liegt. Auf der anderen Seite steht ein Regime, das bis an die Zähne bewaffnet und zu allem fähig ist. „Zieht eure eigenen Schlüsse“, fügte del Risco hinzu.
 

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