Im österreichischen Gramatneusiedl läuft seit ein paar Jahren ein Experiment, begleitet von der Forschung. Statt Zwang und Kontrolle bekommen Langzeitarbeitslose, die möchten, einen Job – einfach so.
Dieser Text erschien zuerst auf Perspective Daily – „Für einen Journalismus, der fragt: Wie kann es weitergehen?“
Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.
Im Jahr 2019 machte das Unternehmen Konkurs, Andrea Herold verlor ihre Arbeit und rutschte in eine Depression. „Ich hatte das Gefühl, von niemandem mehr gebraucht zu werden; dass es keinen Grund mehr gab, morgens aufzustehen.“ Sie habe zwar ihren Garten immer geliebt, aber 2019 sei sie kein einziges Mal dort gewesen. Es fehlte ihr sogar die Kraft zum Zähneputzen, erzählt sie. Nur wenn die Kinder zu Besuch kamen, tat sie alles, um zumindest einen Teil der Fassade als starke und selbstständige Mutter aufrechtzuerhalten. Denn so hatte sie sich immer gesehen.

Als in dem niederösterreichischen 3.600-Einwohner*innen-Ort Gramatneusiedl, in dem sie wohnt, 2020 ein Experiment beginnt, befindet sich Andrea Herold noch in Therapie. 2022 stößt sie dann hinzu. Nun beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt.
Die sogenannte Arbeitsplatzgarantie verspricht allen langzeitarbeitslosen Menschen einen Job – ganz nach den jeweiligen körperlichen und psychischen Möglichkeiten. Obendrein ist die Entscheidung freiwillig, ob man eine Arbeit annimmt. Denn es geht um eine Jobgarantie, keine Arbeitspflicht. Die Teilnehmenden können ihre Einsatzfelder nach Interessen und Fähigkeiten selbst mitbestimmen.
Forschende der Universitäten Oxford und Wien haben das Projekt wissenschaftlich begleitet. Die bisherigen, weitgehend positiven Ergebnisse der Begleitstudien machen Hoffnung, dass die Jobgarantie ein hilfreiches zusätzliches Programm im Besteckkasten der Maßnahmen für Erwerbsarbeitslose sein kann. Das Experiment rückt nebenbei eine Annahme zurecht, die auch in Deutschland oft fast wie ein Naturgesetz behandelt wird – nämlich dass es Zwang und Kontrolle braucht, um arbeitslose Menschen zur Mitarbeit zu bewegen. Vielmehr scheint es andersherum zu klappen: mit Unterstützung, Ermutigung und Vertrauensbildung.
Was Arbeitslosigkeit mit Menschen macht
Angestoßen haben das Experiment die Ökonomen Maximilian Kasy und Lukas Lehner von der Universität Oxford, zusammen mit Sven Hergovich, dem damaligen Leiter des Arbeitsmarktservice (AMS) Niederösterreich. Der AMS ist so etwas wie das Pendant zum Jobcenter in Deutschland. Gemeinsam wollten sie herausfinden, was geschieht, wenn alle Menschen einen Job bekommen, die einen haben möchten. Einfach so, ohne lange Bewerbungstrainings oder andere vorbereitende Maßnahmen, die Betroffenen ohnehin oft als fruchtlose Drangsale erscheinen. Die sind meist unabhängig von der späteren tatsächlichen Arbeit, garantieren auch keinen echten Einsatz. Stattdessen gibt es bei der Jobgarantie eine individuelle 8-wöchige Vorbereitung, die bereits zum Programm gehört.

Die Jobgarantie spielt vor allem im Umfeld der Modern Monetary Theory (MMT) eine große Rolle. Ganz vereinfacht gesagt, geht die MMT davon aus, dass ein souveräner Staat sein eigenes Geld schafft und es deswegen kein knappes, begrenztes Gut ist. Die wahren Begrenzungen spielen dagegen bei natürlichen Ressourcen und Arbeitskraft eine Rolle. MMT-Vertreter*innen lehnen auch die Erklärung ab, dass eine zu große Menge an umlaufendem Geld automatisch zu einer Inflation führt. Dennoch kann es auch hier zu Inflation kommen, die Regulierung der Inflationsrate funktioniert aber im Wesentlichen über Steuern und Investitionen des Staates, weniger über den Leitzins der Zentralbanken.

Was Arbeitslosigkeit mit Menschen macht, ist also gut erforscht. Was passiert, wenn das Gegenteil eintritt, also wenn alle Arbeit haben, soll jetzt das Experiment am selben Ort zeigen – fast 100 Jahre später. MAGMA (Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal) nennt sich das Ganze.

Das ist eine weitere Erkenntnis bei der Jobgarantie: durch den AMS geschaffene Jobs. Teilweise haben die Programmteilnehmenden ihre Arbeitsplätze nach eigenen Interessen und Fähigkeiten sogar selbst geschaffen. Einige führen Wohnungsrenovierungen aus, andere haben eine Werkstatt für Holzarbeiten gegründet, worin Möbel repariert oder geschreinert werden. Weitere Teilnehmende unterhalten einen Gemüse- und Kräutergarten für die Gemeinde, wo sie Essbares anbauen, wieder andere halten Wanderwege instand. Es sind Aufgaben, die einen Mehrwert für den Ort bringen, die aber nicht in jedem Fall ein „Business Case“, also wirtschaftlich gewinnbringend sind.

Die Arbeitsplatzgarantie habe vieles im Dorf verändert, sagt sie. „Wir erfahren auch Wertschätzung von anderen im Ort. Wenn Menschen bei uns reinkommen und über unsere aufgearbeiteten Möbelstücke staunen, dann ist das natürlich schön für mich. Wir machen nicht einfach irgendetwas, damit der Tag vergeht, sondern wir schaffen etwas Sinnvolles, das Wert hat.“ Etwa 5 Prozent des 7,4-Millionen-Euro-Budgets für das mehrjährige Programm kommt aus solchen Verkäufen oder anderen Dienstleistungen.
Niemand hat sich verweigert
Bisher haben alle Menschen, die arbeiten konnten und eine Arbeit angeboten bekamen, auch mitgemacht. Vielleicht nicht trotz, sondern wegen der freiwilligen Teilnahme. Langzeitarbeitslosigkeit gibt es jetzt nicht mehr in Gramatneusiedl, und der Preis dafür ist sogar geringfügig günstiger als das übliche Vorgehen des AMS bei Langzeitarbeitslosen.Dafür sind die Menschen laut der Studien aktiver und sozial vernetzter als zuvor, haben einen strukturierten Tag. Auch im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, einem Ort mit fast identischer Struktur und Eigenschaften, der so weitermachte wie bisher, entwickelten sich viele untersuchte Bereiche besser, vor allem das allgemeine Wohlbefinden: Wie Andrea Herold haben auch viele andere Teilnehmende das Gefühl, etwas Sinnvolles zur Gemeinschaft beizutragen. Sie haben darüber hinaus weniger Angst vor finanziellen Problemen – denn sie verdienen durch die Teilnahme am Programm einen Tariflohn.

Jobgarantie vs. Bürgergeld
Im aktuellen deutschen System gibt es für langzeitarbeitslose Menschen das Bürgergeld. Um dieses zu erhalten, muss man eine Mitwirkungspflicht erfüllen. Also: Termine beim Jobcenter wahrnehmen, gegebenenfalls an Schulungen und Weiterbildungen teilnehmen. Wer sich weigert oder wiederholt nicht erscheint, dem wird die Grundsicherung gekürzt. Auch in Österreich gibt es die Pflicht zur Mitwirkung. Die Teilnahme am Pilotprojekt in Gramatneusiedl ist aber optional. Wer möchte, kann teilnehmen. Wer nicht mitmacht, bleibt einfach im normalen Sozialsystem.
Studienleiter Jörg Flecker empfindet die Freiwilligkeit der Teilnahme ebenfalls als sehr wichtig: Transferzahlungen wie das Arbeitslosengeld seien Ersatzleistungen, wofür keine Arbeit verlangt werden kann. Er zieht einen Vergleich zu sogenannten Workfare-Programmen, die Transferleistungen nur gegen Arbeit ermöglichen. Zwang sei in Gramatneusiedl nicht nötig gewesen, „aber es ist eine große Bandbreite von Überzeugung, Ermutigung, Einladung und Verständnis nötig“. Das liege oft daran, dass Menschen sich Arbeit wegen physischer Einschränkungen oder psychischer Erkrankungen nicht mehr zutrauten.
„Wir haben eine gesellschaftliche Ideologie, nach der gemeinnützige öffentliche Arbeit weniger wert ist als Arbeit im Unternehmenssektor. Zugespitzt: Nur ein Job mit kapitalistischer Ausbeutung ist wirklich ein Job. Diese Ideologie haben viele Menschen verinnerlicht und waren dann enttäuscht“, so Jörg Flecker. Diese Ideologie sei aber Humbug, meint der Soziologe der Universität Wien. Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen oder die Polizei böten öffentliche Jobs mit Sinn und Zweck.
Und jetzt: Jobgarantie für alle?
Ist ein erfolgreicher Feldversuch schon Garant dafür, dass es überall geht? Lukas Lehner von der Universität Oxford dreht die Frage um: „Warum sollte es nicht in anderen Gemeinden funktionieren?“Er plädiert dafür, die Jobgarantie auch in größeren Gemeinden und Städten auszuprobieren. Zudem könnte die Jobgarantie auch Arbeit im Privatsektor besser machen, sagt Maximilian Kasy. Die Jobgarantie setze eine Untergrenze sowohl für den Lohn als auch für Arbeitsbedingungen. Sie stärke auch die Verhandlungsposition der Arbeitnehmenden. Denn zur Not könne man ja im Jobgarantie-Programm bleiben.
Kasy sieht die Jobgarantie aber nicht als Allheilmittel. Oftmals läuft die Diskussion in diesem Bereich zwischen Verfechter*innen der Garantie und denen eines bedingungslosen Grundeinkommens unversöhnlich ab: Entweder das eine oder andere. Unnötig, findet der Wissenschaftler. „Beide sollten Teil eines modernen Cocktails sozialer Absicherung sein. Sprich: eine finanzielle Absicherung für alle, ohne staatliche Überwachung und Zwang, und zusätzlich eine Jobgarantie, die für spezifischere Bevölkerungsgruppen relevant ist, wie Langzeitarbeitslose, die wegen bestimmter Lebenssituationen und Einschränkungen davon profitieren können, indem sie wieder Arbeit finden.“
Die Jobgarantie scheint also in diesem Fall vor allem eine Maßnahme zu sein, die langzeiterwerbslosen Menschen hilft, wieder ins Leben zu finden, teilzuhaben und aktiv etwas zum Gemeinwohl beizutragen.
Auch Menschen mit Behinderung könnten übrigens an der Jobgarantie teilnehmen und so einer tariflich bezahlten Arbeit nachgehen, die ihre Bedürfnisse beachtet.
Weniger klar ist, ob sie langfristig dabei helfen kann, Menschen den Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Denn dass Unternehmen trotz der großzügigen Unterstützung von 100 Prozent beziehungsweise 66 Prozent der Lohnkosten wenig neue Arbeitsplätze geschaffen haben, zeigt, dass der erste Arbeitsmarkt keine Arbeit für jede und jeden parat hat.
Andrea Herold jedenfalls ist von ihrem Job begeistert: „Mir hätte nichts Besseres passieren können, als in einen Job zu kommen, der mir wahnsinnig guttut und der mir sehr viel bedeutet. Ich gehe gerne hin und werde dort als Person geschätzt. Ich bin jetzt ein lebensbejahender, glücklicher Mensch“, sagt sie zum Abschluss unseres Gesprächs. Wenn jetzt ihre Kinder zu Besuch kommen, muss sie die Fassade der starken Mutter nicht mehr extra hochziehen. Denn nun empfindet sie sich wieder als genau dieser Mensch.
April 2023