Mikuláš Minář ist mit etwa 25 Jahren zufällig ins Zentrum des politischen Geschehens geraten – bis dahin hatte er sich kaum für Politik interessiert. Trotzdem wurde er als Mitbegründer des Vereins Milion chvile pro demokracii (Eine Million Momente für die Demokratie) zu einem der bekanntesten Gesichter des zivilgesellschaftlichen Protestes der Nachwendezeit. Wie fühlt es sich an, die Hoffnung und Erwartung hunderttausender Menschen auf seinen Schultern zu tragen? Und kann man dabei die eigene Integrität wahren? Während wir dieses Interview führen, steht die Tschechische Republik erneut vor einer Richtungsentscheidung. Es droht eine Rückkehr von Andrej Babiš an die Macht, diesmal möglicherweise in einer deutlich radikaleren Konstellation. Hat es überhaupt noch Sinn, sich um Ideale zu bemühen? Und wie lässt sich in so einer Situation die zivilgesellschaftliche Widerstandsfähigkeit stärken?
Sie haben wichtige Persönlichkeiten der tschechischen Kultur und Politik getroffen. Wie sind Sie mit dem Druck umgegangen, der Verantwortung und den gegenläufigen Erwartungen, die so eine Rolle mit sich bringt?
Ich habe es genommen, wie es kam (lacht). Ich denke, das Wichtigste ist, dass man sich darüber klar ist, warum man das tut und woran man wirklich glaubt, wo man wirklich dahintersteht. Außerdem habe ich es immer für wichtig gehalten, meinen größten Kritikern genau zuzuhören: denjenigen, denen es um die gleichen Anliegen ging, nicht denen, die sie nur verunglimpfen wollen. Wir haben uns bemüht, uns mit gescheiten Leuten zu umgeben, die uns kritisches Feedback geben konnten. Aber so ein Maß an Verantwortung zu tragen, war natürlich recht anspruchsvoll, weil wir nicht darauf vorbereitet waren.Kann man sich darauf überhaupt vorbereiten?
Ich denke nicht, dass man sich auf das, in das wir da hineingeworfen wurden, tatsächlich vorbereiten kann. Aber man kann an sich arbeiten – charakterlich reifen und sich selbst besser kennenlernen. Dabei ist es egal, ob das über eine Therapie, die Reflexion des eigenen Lebens oder das Verstehen dessen, was im Menschen allgemein vorgeht, passiert. Damit man wenigstens eine kleine Vorstellung davon hat, was im eigenen Inneren zum Vorschein kommen kann, wenn man unter Druck steht. Und trotzdem sind solche Momente immer wieder eine Feuerprobe.Was hat also Ihnen persönlich geholfen, mit dem Druck umzugehen?
Es hat uns geholfen, uns immer wieder zu sagen: Mach dir nicht in die Hose deswegen. Nicht der Annahme unterliegen, all das wäre todernst zu nehmen. Uns klarzumachen, dass es sinnvoll ist, was wir tun, aber gleichzeitig Abstand zu wahren. All das hätte uns sonst paralysiert. Mit persönlich hilft auch Musik und mein eigenes Seelenleben, Meditation oder Gebet. Der Glaube war für mich und auch für meinen Kollegen Ben Roll immer ein wichtiges Hilfsmittel.Eine große Rolle spielte auch das innere Gefühl, dass es um etwas sehr Wichtiges ging und es kein Zurück mehr gab. Dass es bei dem, was wir losgetreten hatten, nicht nur um uns selbst ging, sondern um etwas Größeres über uns Hinausgehendes, das auch für viele andere Menschen Bedeutung hat. Und dieser Gedanke hat uns getragen. Mir persönlich hat es geholfen, dass ich an einem gewissen Punkt einen guten Coach fand, der mir beigebracht hat, in all dem Stress ein gewisses Maß an Leichtigkeit zu bewahren und gleichzeitig möglichst effektiv aus dem Prozess zu lernen. Das war sehr wertvoll.
Wichtig war auch die Fähigkeit, das Maximum dessen zu erreichen, was man erreichen kann, dann aber loszulassen und alles an eine höhere Gewalt abzugeben. Mein Kollege Ben Roll und ich haben uns oft gesagt: „Jetzt liegt es in Gottes Hand.“ Denn solche Aktionen wie auf der Letná [Stadtteil und Hügel in Prag, wo sich 2019 die größten Demonstrationen des Vereins Milion chvilek pro demokracii abspielten, Anm. d. Red.] lassen sich nicht im Voraus planen, sowas lässt sich weder herbeiführen noch kontrollieren. Man kann dem nur den Weg bereiten, offen sein und dann mit dem Flow gehen. Dieses bewusste Loslassen empfand ich als unglaublich befreiend – es nimmt einem die Last, alles selbst regeln zu müssen. Denn davon würde man wirklich verrückt werden.
Mikuláš Minář (*1993) ist zivilgesellschaftlicher Aktivist und ehemaliger Vorsitzender des Vereins Milion chvile pro demokracii (Eine Million Momente für die Demokratie), der größten Demonstrationen in der Tschechischen Republik seit 1989 initiierte. Er studierte Philosophie, Bohemistik und evangelische Theologie. Im Jahr 2020 hat Minář den Verein verlassen. und versucht, mit der Partei Lidé PRO (Menschen PRO) in die Politik einzutreten. Die Partei stellte ihre Tätigkeit jedoch noch vor den Parlamantswahlen 2021 ein. Heute ist Mikuláš Minář als Coach und Lektor zu Themen des gesellschaftlichen Engagements, Widerstandsfähigkeit und gesellschaftlicher Veränderungen tätig.
In welcher Form äußert sich der Druck, dem ein Mensch in so einer Rolle ausgesetzt ist?
Das sind verschiedene Arten von Druck. Eine davon ist der Konflikt zwischen dem, was gemacht werden muss und den persönlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten des Privatlebens. Man hat das Gefühl, zu viel zu opfern. Es ist auch schwer, sich einzugestehen, dass etwas, was man für die Gesellschaft tut, gleichzeitig negative Auswirkungen auf einen selbst und seine Liebsten haben kann. Ständig habe ich deshalb abgewogen, wie viel ich noch leisten kann.Ein anderer innerer Druck ist die Erschöpfung. Dann will man einfach nur noch weglaufen, kann es aber nicht und man versucht ein bisschen mit Gewalt weiterzumachen. Das innere Unbehagen muss verarbeitet werden, man muss sich wieder und wieder in Erinnerung rufen, warum man das tut. Ich habe auch lernen müssen, um Hilfe zu bitten, nicht zu versuchen, alles allein zu bewältigen und nicht alles perfekt machen zu wollen. Es ist enorm hilfreich, damit zufrieden zu sein, dass einiges eben nur gut erledigt wird.
Eine gewisse Rolle spielte auch die Angst. Zum Beispiel davor, dass man wichtige Entscheidungen in Eile treffen muss und oft nur auf Grundlage einer begrenzen Menge an Informationen. Und dabei ist einem bewusst, dass diese Entscheidungen im schlimmsten Fall der ganzen Bewegung schaden könnten. Ich habe in mir die große Angst gespürt, dass ich das Ganze gefährden könnte, dass ich nicht genug bin, um der Sache wirklich dienlich zu sein.
Die Demonstration „Je to na nás!“ (Es liegt an uns!), die am 23. Juni 2019 vom Verein „Milion chvilek za demokracii“ (Eine Million Momente für die Demokratie) in Prag auf der Letná organisiert wurde, war mit 250.000 Teilnehmern die größte Demonstration in Tschechien seit 1989. | Foto: Kenyh Cevarom via via wikimedia | CC BY-SA 4.0
Hing der Druck auch mit der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, den Reaktionen der Medien oder der Menschen zusammen?
Auf jeden Fall. Man muss lernen, damit umzugehen, dass verschiedene Desinformationen über einen in den Medien die Runde machen, dass die Leute einen beschimpfen oder bedrohen. Das ist die äußere Komponente, aber gleichzeitig gibt es auch eine innere Dimension – was es mit einem macht und wie man damit umgeht, ob man es an sich ranlässt. Die anderen sehen vielleicht nicht, dass ich tue, was ich kann. In solchen Momenten ist es wichtig, großzügig mit sich selbst zu sein, mit sich selbst Mitgefühl zu haben, die Ambitionen loszulassen, man müsse allen gefallen und es allen recht machen.Haben Sie erst mit der Zeit den Umgang damit gelernt, oder fiel es Ihnen von Anfang an leicht?
Das ist eine bedeutende Frage. Wo nimmt man diese Fähigkeit eigentlich her? Ich glaube, dass ich das Alermeiste davon erst im Laufe des Prozesses gelernt habe. Nichts hätte mich vollständig darauf vorbereiten können. Zu der Zeit hatte ich jedoch bereits elf Jahre im auf Spitzenniveau Fußball gespielt, wo ich gelernt habe, widerstandsfähig zu sein, Dinge anzupacken und Schmerzen zu ertragen. Bei mehreren Jugendgruppen der Pfadfinder, der christlichen Jugend, in einen niedrigschwelligen Jugendclub und auch bei Kinderferienlagern war ich Gruppenleiter. Dabei habe ich Erfahrung in der Führung von Menschen gesammelt. Und dank meines Studiums der Philosophie, Bohemistik und Theologie habe ich gelernt, Gedanken klar zu formulieren und mich schriftlich ausdrücken. Nichts davon hat mich jedoch auf die konkrete Situation vorbereitet, die dann kam. In die musste ich erst noch hineinwachsen.Vielen Menschen würden sagen, dass Sie in dieser Rolle bestanden haben und Sie ihr genügt haben.
Ich denke, der Grund unseres Erfolges lag auch darin, dass wir uns ständig verbessert haben. Zu Beginn haben wir ehrlich gesagt oft gar nicht geahnt, welche Stunde uns geschlagen hatte. Wir hatten nie zuvor eine Demonstration organisiert. Die erste war totaler Punk. Wir hatten einen ein Meter mal ein Meter großen Tisch inmitten von zwanzigtausend Menschen, ohne vernünftige Tontechnik. Nicht mal die Reden waren vorbereitet. Das war ein verwegenes Unterfangen. Aber dann haben wir uns gesagt, es ist ok, aber das nächste Mal könnten wir es ein bisschen besser machen. Es reicht halt nicht, einfach nur eine gute Absicht zu haben. Wenn man will, dass sich die Dinge wirklich ändern, braucht man auch Kompetenz, Handwerk und fähige Leute um einen herum. Qualität ist unerlässlich.Ihren Worten nach wollten Sie in der Tschechischen Republik etwas anstoßen, Änderungen herbeiführen und sich dabei selbst treu bleiben. Auf die Tschechische Republik komme ich später zurück, aber hatten Sie jemals das Gefühl, sich von sich selbst zu entfernen?
Rückblickend sehe ich, dass ich einige blinde Flecken hatte. Zum Beispiel habe ich zu viel Wert auf Leistung gelegt, darauf, was erledigt werden musste. Ich habe manchmal zu wenig auf die Menschen im Team geachtet oder mich zu wenig um die persönlichen Beziehungen gekümmert. Ich erinnere mich auch, dass sich in einer bestimmten Phase der Parteigründung von Lidé PRO in mir drin so ein toxischer Stolz breitgemacht hat. Obwohl das Ziel der Parteigründung meiner Meinung nach richtig und notwendig war, habe ich angefangen zu denken, alles, was ich anfasste, würde gelingen und niemand außer mir könnte das erreichen, was ich kann. Das war, denke ich, einer der Gründe, über den ich dann gestolpert bin.Woran machen Sie fest, ob Sie sich treu geblieben sind?
Wie schon gesagt, der Schlüssel ist Selbsterkenntnis. Man muss fühlen können, was von einem selbst kommt, was die eigene Wahrheit ist, welchen Dingen man treu sein will. Danach muss man sich richten und sich nicht von diesen Werten abbringen lassen, auch nicht, wenn herausfordernde Prüfungen auf einen zukommen und die Umgebung einen drängt oder verbiegt. Man muss sich auch dann treu bleiben, wenn man versagt oder einen Fehler gemacht hat. Sich nicht auf die Seite all derer ziehen lassen, die einen vorschnell psychisch analysieren und erklären, man hätte nur nach Macht gestrebt und nun versagt. Nein. Das ist nur ein Bild, das sich jemand gemacht hat. Man muss selbst wissen, wer man ist. Dafür muss man eben einstehen, für sich selbst und seine grundlegendsten Werte. Wahrnehmen, was man fühlt, und sich einen Spiegel vorhalten lassen – von Freunde, Menschen, die einem nahestehen, die einen kennen und keine Angst haben, einem zu sagen: „Hey, da liegst du falsch.“ Denn niemand kann sich selbst auf den Rücken sehen.Was hat Sie dazu gebracht, sich gesellschaftlich zu engagieren?
Das gesamte Projekt Milion chvilek ist entstanden, weil ich Freiheit und Demokratie intensiv erleben durfte. Politik hatte mich da noch nicht sehr interessiert, aber ein paar Tage vor den Wahlen im Jahr 2017 ging mit gänzlich auf, wie viel ich der vorhergehenden Generation und den Opfern, die sie gebracht hat, zu verdanken habe. Dafür, dass wir heute in einer demokratischen Gesellschaft leben, wo ich frei über mein Leben entscheiden kann. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, jetzt, wo dieses Geschenk in Gefahr war, und bereit zu sein, Opfer zu bringen, um es zu erhalten.
Mikuláš Minář | Foto: © privat
Da ist ein sehr starkes Motiv. Hat es Sie bis heute begleitet?
Ja, dieses innere Erleben ist bis heute für mich ein starker Antrieb – und vielleicht sogar noch stärker, weil wir in einer Zeit leben, in der es überhaupt nicht sicher ist, wie die Welt in ein paar Jahren aussehen wird. Es ist nicht sicher, ob Amerika weiterhin demokratisch sein wird. Er ist nicht sicher, ob Putin in der Ukraine aufhören wird. Es ist nicht sicher, ob die Demokratie den stärker werdenden Einfluss von Desinformationen, den Manipulationen in den sozialen Netzwerken oder dem Druck autoritärer Regime standhalten wird. Es steht so unheimlich viel auf dem Spiel. Und das ist für mich der Grund, warum ich mich dafür einsetzte, Freiheit und Demokratie zu erhalten, aber auch weiterzuentwickeln.Welche anderen Werte sind für Sie ausschlaggebend?
Bei Milion chvilek haben sich nach und nach drei Werte herauskristallisiert: Freundlichkeit, Besonnenheit und Mut. Drei Säulen, die gemeinsam ein Ganzes bilden. Freundlichkeit – da heißt der gute Wille, die Liebe zu den Menschen und die ehrliche Absicht, sich für das Gute zu engagieren. Aber das alleine für sich reicht nicht aus. Auch Besonnenheit ist notwendig – also Wahrhaftigkeit, Weisheit und kritisches Denken. Die Fähigkeit, Antworten zu suchen auf die Frage: Was ist eigentlich das Gute? Und schließlich Mut, weil es nicht genügt zu wissen, was richtig ist, es muss auch getan werden. Die Komfortzone verlassen und handeln.Diese drei Werte helfen mir in der Praxis bei der Entscheidungsfindung. Ich stelle mir dann immer die Frage: Ist das freundlich? Ist das besonnen? Ist das mutig? Wenn eines davon fehlt, weiß ich, dass ein Vorhaben hinkt. Aber das Ziel aller Aktivitäten ist immer Freiheit und Demokratie– die waren und sind für mich das Wichtigste.
Und dem würde ich noch einen ganz persönlichen Wert hinzufügen, der mir immer wichtiger erscheint: Leichtigkeit. Ich mag es nicht, wenn alles zu ernst, verbissen oder verkrampft gesehen wird und wenn Humor und Abstand fehlen.
Petr Ludwig schlägt in seinem Buch „Schluss mit Prokrastination“ eine Übung zu Heldenhaftigkeit vor, bei der man sich nach dem Vorbild von Philip Zimbard einen Punkt auf die Stirn malen soll und dann unter Leute gehen. Damit würde man sich daran gewöhnen, aus der Masse hervorzustechen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Können Sie Methoden empfehlen, die die Aktionsfähigkeit zum Beispiel bei der Verteidigung der Demokratie stärken können?
Diese konkrete Übung mag ich und habe sie sogar selbst ausprobiert. Petr Ludwig war nebenbei bemerkt eine der Inspirationsquellen für die Werte von Milion chvilek, auch wenn er sie Freundlichkeit, kritisches Denken und Mut genannt hat. Er hat es auf den Punkt gebracht.Was die Stärkung von Aktionsfähigkeit betrifft, würde ich ein einfaches Experiment empfehlen: Versuche so zu handeln, als wenn du die Dinge ändern könntest. Ich denke, dass jeder überrascht sein wird, was für einen großen Unterschied allein die Änderung einer Einstellung machen kann. Der Glaube daran, dass wir etwas beeinflussen können, erzeugt eine starke selbsterfüllende Prophezeiung. Egal ob man glaubt, dass es auf einen ankommt oder man selbst unwichtig ist, in beiden Fällen wird man recht behalten. Woran wir glauben, beeinflusst grundsätzlich, wie wir handeln.
Und noch eine Sache ist meiner Meinung nach ausschlaggebend: sich mit Fehlern abzufinden, und zu akzeotieren, dass Fehler ganz normal sind, egal welchen Weg man geht. Denn wenn man einen Weg nicht geht, nur weil man Angst hat, Fehler zu machen, kommt man nicht weiter.
Ihre öffentliche ‚Reise‘ begann als Reaktion auf die Bedrohung der Demokratie. Andrej Babiš ist auch nach all den Affären, Protesten und der verlorenen Präsidentschaftswahl nun wieder Favorit für die Parlamentswahlen im Herbst 2025. Wie erklären Sie sich, dass es ihm immer noch gelingt, eine solche Unterstützung zu erhalten?
Ein entscheidender Punkt ist, dass Andrej Babiš für sich genommen nicht das Hauptproblem ist. Er ist eher ein Symptom des Problems – tiefliegende Unzufriedenheit und das Versagen des Systems. Die Menschen sind seit langem frustriert darüber, was alles in unserem Land nicht funktioniert und weil sich das nicht grundlegend geändert hat, hält die Unterstützung für ihn an.Seine Stärke liegt aber auch an der Schwäche der Konkurrenz. Wenn die anderen Parteien es schaffen würden, eine verständliche und überzeugende Vision und starke Persönlichkeiten anzubieten, die wissen, wie man kommuniziert, dann wäre die Unterstützung für Babiš nicht so groß. Doch leider gelingt das schon lange niemandem. Außerdem bringt Babiš eine riesige Menge Energie, Geld und persönlichen Einsatz mit. Sein Leben lässt sich im Moment eindampfen auf ein einziges Ziel – gewinnen. Und die Menschen folgen der Energie, der starken Hand, besonders in Zeiten der Unsicherheit. Ein weiterer Faktor ist, dass ein Teil der Wählerschaft ihn als „Nichtpolitiker“ betrachtet – eine Alternative zum System, dem sie nicht mehr glaubt.
All das zeigt, dass wir ein Problem haben: Wir sind nicht in der Lage, langfristig fähige und gleichzeitig anständige Menschen in die Politik zu holen. Ohne eine Veränderung der politischen Parteien – oder der Gründung neuer – wird sich nichts ändern. Es gibt auch keine schnellen Lösungen. Selbst eine große Demonstration bewirkt keine Wende. Es geht nur durch geduldige, tägliche Arbeit und den Mut fähiger Menschen, Verantwortung zu übernehmen.
Demonstration für eine freie Justiz auf dem Wenzelsplatz im Mai 2019 | Foto: Kenyh Cevarom via via wikimedia | CC BY-SA 4.0
Im Herbst 2025 finden in Tschechien Parlamentswahlen statt. Aktuellen Umfragen sehen gerade die Partei, der Andrej Babiš vorsitzt, vorn. Was erwartet uns, wenn ANO 2011 die Wahlen gewinnt?
Der erste und vielleicht wichtigste Punkt ist, dass der Premierminister eines Landes ein Vorbild dafür ist, was als normal gilt. Aber ich halte es nicht für normal, dass ein Land von jemandem geführt wird, der falsche Schwüre auf das Wohlergehen seiner Kinder ablegt, wiederholt lügt, seine Meinung nach Bedarf ändert und dabei seine eigene Vergangenheit als Agent der Staatssicherheit leugnet. Das vermittelt den Leuten den Eindruck, es wäre in Ordnung so, das Leben wäre ein Dschungel, wo derjenige gewinnt, der die anderen überlisten kann. Das verzerrt den Charakter der Gesamtgesellschaft und die Seele der Nation.Der zweite Punkt betrifft das System. Ich fürchte, dass Babiš wieder darum bemüht sein wird, die öffentlich-rechtlichen Medien zu kontrollieren und seinen Einfluss auf die öffentlichen Gelder zu erweitern. Es kann auch passieren, dass er erneut versuchen wird, Macht zu kumulieren und die demokratischen Institutionen zu schwächen – wie er es früher schon getan hat. Ich habe jedoch die Hoffnung, dass die tschechische Zivilgesellschaft ihm das nicht erlauben wird.
Und was können die Wahlen auf europäischer Ebene bewirken?
Für Europa steht im Moment auf dem Spiel, ob es stark und einheitlich bleibt oder nicht. Sowohl Putin als auch Trump sind offensichtlich darum bemüht, Europa zu schwächen, indem es wieder in viele kleine Staaten zerfällt, wo nationalistische und populistische Vereinigungen das gemeinsame Vorwärtskommen sabotieren. Und die Bewegung ANO 2011 von Babiš nährt dieses Narrativ im Europäischen Parlament durch die Mitgliedschaft in der Fraktion Patrioten für Europa, deren Programm im Grunde ein Europa nationalistischer Staaten ist. Das steht meiner Meinung nach den tschechischen Interessen entgegen und führt uns in eine Richtung, die bereits Ministerpräsident Robert Fico in der Slowakei oder Ministerpräsident Viktor Orbán in Ungarn eingeschlagen haben.Haben Sie die Hoffnung, die Situation kann sich noch ins Gegenteil verkehren?
Hundertprozentig kann sie wieder umgedreht werden. Wer glaubt, es sei schon entschieden, versteht nicht, wie Politik funktioniert. Selbst eine Woche vor den Wahlen kann sich noch alles ändern. Die Launen der Menschen sind wechselhaft.Was kann jeder von uns tun, um die Demokratie zu stärken?
Ganz grundlegend ist die Wahlbeteiligung. Und die kann nun wirklich jeder von uns beeinflussen. Machen Sie sich zwei Wochen vor der Wahl eine Liste mit Namen von Personen, die Sie kennen, aber mit denen Sie nicht täglich in Kontakt sind. Und fragen Sie sie dann, ob sie wählen gehen. Viele Menschen haben sich das noch nicht überlegt, sie vergessen es, sind sich nicht sicher oder haben keine Lust. Und das sind gerade die, bei denen es sich lohnt, sich eine Weile mit ihnen zu unterhalten und ihnen zu erklären, warum das Wählen wichtig ist. Jeder kann so dazu beitragen, dass statt eines Menschen drei oder vier zur Wahl gehen. Wenn das einhunderttausend Menschen tun würden, könnten wir dadurch hunderttausende Stimmen beeinflussen. Und das kann darüber entscheiden, ob extremistische Parteien ins Parlament einziehen, die aus der NATO austreten wollen oder ob Babiš in der Lage sein wird, eine Regierung zusammenzustellen. Im äußersten Fall auch, ob er eine Mehrheit erlangt, die ihm ermöglicht, die Verfassung zu ändern. Und das würde ich mir wirklich nicht wünschen. Jede Stimme, jeder Moment zählt.Aber selbst, wenn es nicht gut ausgeht, ist das nicht das Ende der Welt. Es ist wichtig, zu verstehen, dass man die richtigen Dinge nicht nur deshalb macht, um zu gewinnen oder weil sie gerade populär sind, sondern deshalb, weil sie richtig sind. Letztendlich tun wir sie für uns selbst. Damit wir im Einklang mit uns selbst und unserer eigenen Wahrheit sind. Damit wir uns selbst achten können.
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September 2025