Die Geschichte der Videogames füllt bereits ganze Bibliotheken, und es wurden unzählige Dokumentarfilme zu diesem Thema gedreht. Dennoch ist Osteuropa auf der historischen digitalen Landkarte nach wie vor ein weißer Fleck. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass es aufgrund der Isolation durch den Eisernen Vorhang in dieser Region kaum oder gar keine Spieleentwicklung gab. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall.
Die relative Abgeschiedenheit führte in den damaligen sozialistischen Ländern zu einer blühenden und einzigartigen Gamingkultur. Nur wenige der heutigen jüngeren Gamer*innen wissen, dass in Ungarn in der sozialistischen und frühen postsozialistischen Ära der 1980er und 1990er Jahre eine eigene Videospielindustrie entstanden ist. Obwohl oft mit provisorischen Werkzeugen und „Garagenmethoden” improvisiert wurde, gelang es, Software von Weltklassequalität zu produzieren, die erfolgreich in den Westen exportiert wurde.Magische Pixel
Der Rubik`s Cube begann 1979 die Welt zu erobern und wurde bald selbst zu einem Symbol: Spiele kennen keine Grenzen, und Kreativität lässt sich nicht durch politische Isolation einschränken. Es war tatsächlich möglich, den Eisernen Vorhang zu durchbrechen – und sogar bedeutende kommerzielle Erfolge zu erzielen. Ernő Rubiks Würfel war nicht nur ein wirtschaftlicher Triumph, sondern auch ein Botschafter der Freiheit. Dieses optimistische Gefühl der Möglichkeiten spielte eine große Rolle, als Gábor Rényi, der Leiter des neu gegründeten Unternehmens Novotrade – einer der ersten Aktiengesellschaften Ungarns – Ende 1982 einen Computerspielwettbewerb ausschrieb. Ideen strömten aus allen Ecken des Landes herein.Die frühen bis mittleren 1980er Jahre waren wahrhaftig eine goldenes Ära der Computer in Europa, geprägt von zwei Maschinen: dem schwarzen ZX Spectrum mit Gummiknöpfen aus Großbritannien, der heute eher wie ein Spielzeug als wie ein ernstzunehmender Computer wirkt, und dem Commodore 64 aus den USA, der sich durch seine reichhaltige Farbpalette, sein flüssiges Scrollen und einen fortschrittlichen Soundchip auszeichnete, der synthesizerähnliche Musik wiedergeben konnte. Als der Wettbewerb von Novotrade im staatlichen Fernsehen angekündigt wurde, waren diese Computer aufgrund westlicher Embargos gegen den Ostblock in Ungarn offiziell nicht erhältlich – zumindest nicht für ungarische Forint. Dennoch gingen mehr als tausend Beiträge ein, einige in einfacher Textform, andere als aufwendige Storyboards. Die Gewinnerideen wurden sowohl im Inland als auch im Ausland ausgewählt, und die ausgewählten Entwickler erhielten von Novotrade importierte Leihcomputer, um mit der Entwicklung zu beginnen.
Eine einzigartige Vereinbarung wurde geschlossen zwischen Novotrade und Andromeda, einem Unternehmen unter der Leitung von Robert Stein, einem in London lebenden ungarischen Emigranten, der sich bis dahin hauptsächlich mit Schachmaschinen und Computerteilen beschäftigt hatte. Die Vereinbarung sah vor, dass die von ungarischen Programmierern entwickelten Spiele von Stein im Westen vertrieben und die Entwickler in Hartwährung bezahlt werden.
Daraus entstanden kleine projektbasierte Teams aus Freiberuflern, Studierenden, Ingenieuren und sogar ernstzunehmenden Wissenschaftlern, die mitten in der Nacht im Nebenjob Spiele programmierten und dabei oft ihre Familien vernachlässigten. Die von ihnen entwickelten Spiele waren in der Regel sehr einfach – heute scheinen sie vielleicht naiv, oder sogar lächerlich –, aber sie waren fantasievoll und manchmal brillant. Die ersten ungarischen Videospiele erschienen 1983 und 1984 in den Regalen westlicher Geschäfte. Zu den Titeln gehörten Caesar the Cat, Chinese Juggler, Arctic Shipwreck und Buffalo Roundup. Einer der größten frühen Erfolge war Eureka!, ein textbasiertes Zeitreise-Abenteuer, geschrieben von Ian Livingstone, der für seine Fantasy-Spielbücher bekannt ist. Das Spiel wurde von der britischen Firma Domark veröffentlicht und war Vorreiter eines neuen Geschäftsmodells: Der erste Spieler, der das Spiel beendete und eine geheime, verschlüsselte Telefonnummer anrief, gewann einen Preis von 25.000 Britischen Pfund.
Die Blütezeit von Novotrade und die Mitte der 1980er Jahre
Mitte bis Ende der 1980er Jahre hatte die Partnerschaft zwischen Novotrade und Andromeda eine solche Dynamik entwickelt, dass ständige interne Entwicklungsteams eingerichtet wurden. Die Spielentwicklungsabteilung wurde von Donát Kiss geleitet, während Tamás Révbíró, ehemals beim Plattenlabel Hungaroton angestellt und bekannt für seine Übersetzungen von Werken von Gerald Durrell, P.G. Wodehouse und sogar John Lennons Songtexten, für die künstlerische Leitung verantwortlich war. Neben außergewöhnlichen Mathematikern wie László Mérő waren oft auch Grafiker, Rockmusiker und Texter an den Projekten beteiligt. Unter ihnen waren Tamás Waliczky, der später zu einem weltbekannten Digitalkünstler wurde, Attila Horváth, bekannt für seine Texte für die ungarischen Rockbands Charlie, Korál und Piramis, sowie László Kiss, Mitbegründer von Európa Kiadó und URH.In dieser Zeit produzierte Ungarn Commodore-basierte Hits wie Scarabaeus, inspiriert von den Indiana-Jones-Filmen, Impossible Mission 2, ein logikbasiertes Jump ’n’ Run Spiel, und The Last Ninja, entwickelt von einem unabhängigen ungarischen Team, das zu einem der visuell beeindruckendsten Commodore-64-Spiele aller Zeiten wurde.
Sowohl in dem Buch Pixel Heroes als auch in der Dokumentation Moleman 4: Walkthrough wird erwähnt, dass das Studio von Novotrade in Budapests Stadtteil Lipótváros nicht nur ein Zentrum der Entwicklung war, sondern auch eine echte Kreativwerkstatt. Interessanterweise wurde die Entwicklung von Videospielen – die von den schwächelnden sozialistischen Behörden weitgehend ignoriert wurde – zu einer der am wenigsten kontrollierten Branchen und öffnete damit effektiv Fenster und Türen zur westlichen Welt. Die internationale Presse verwies oft noch auf den Rubik`s Cube als Symbol für die digitale Kreativität Ungarns, während andere den Erfolg des Landes mit seinen weltberühmten Animationsfilmen und den einzigartigen Perspektiven verbanden, die durch die Isolation der Programmierer geprägt waren. Ende der 1980er Jahre lobten Artikel im Ausland die freigeistige Kultur von Novotrade und bezeichneten sie als Hochburg des „hybriden Kapitalismus“ Ungarns.
Bis zum Ende des Jahrzehnts entwickelte Novotrade International – später bekannt als Appaloosa – weltweit gefeierte Titel, darunter Ecco the Dolphin, das auf der Sega Genesis Konsole ein Riesenerfolg wurde. Neben diesen offiziellen Entwicklungen förderte Ungarn auch eine florierende Amateur- oder, wie wir es heute nennen würden, „Indie“-Spieleszene. Mitte der 1990er Jahre entstanden zunehmend professionelle unabhängige Teams, die sich auf Amiga- und PC-Plattformen spezialisierten. Am Ende des Jahrzehnts brachten sie große Erfolge wie Imperium Galactica von Digital Reality, eine Weltraum-Strategiespielserie, auf den Markt.
Wenn ich das jemals im Club erzähle...
Im Schatten der professionellen Spieleentwicklung entstand in Ungarn eine eigentümliche Subkultur, die sich in erster Linie auf den „illegalen“ Austausch von Software konzentrierte. Das Wort „illegal“ steht in Anführungszeichen, weil es in Ungarn zu dieser Zeit kein echtes Software-Urheberrecht gab. Da westliche Spiele nicht über offizielle kommerzielle Kanäle erhältlich waren, gelangten sie in der Regel über Schmuggelrouten und Raubkopien, meist über Deutschland, Österreich und Jugoslawien, ins Land. Diese Spiele wechselten dann in lokalen Clubs die Besitzer.Fast jede größere Stadt hatte einen solchen Computerclub, in dem sich die Geeks der damaligen Zeit wöchentlich trafen. Sie kehrten dann mit Disketten und Kassetten voller kopierter Spiele nach Hause zurück – von denen viele unterwegs beschädigt oder entmagnetisiert wurden. Der berühmteste ungarische Club wurde im Csokonai-Kulturzentrum in Budapest betrieben, das den Spitznamen „Csoki“ trug und von Lajos Tóth geleitet wurde. Freitags versammelten sich die Spieler in einem exklusiven „Elite“-Club, während samstags Software-Messen für die Öffentlichkeit zugänglich waren.
Die wichtigsten Veranstaltungen, die von Csoki organisiert wurden, waren die jährlichen Computer-Weihnachtsfeiern an der Technischen Universität, die Tausende von Menschen aus dem ganzen Land anzogen. Zwei Tage lang fanden massive öffentliche Kopiersessions in einem heute unvorstellbaren Ausmaß statt. Vor dem Internet waren diese Veranstaltungen – neben dem Briefwechsel – oft die einzige Möglichkeit für Enthusiasten, Gleichgesinnte zu treffen, Ideen auszutauschen und Spiele zu tauschen.
Die Bedeutung dieser Clubs ging jedoch noch weit darüber hinaus: Sie wurden zur Geburtsstätte der ersten ungarischen Demoszene-Gruppen, die als Pioniere der Multimedia-Kunst gelten. Diese Teams erstellten spektakuläre technische Demos, die oft vor Spielen gezeigt wurden, und tauschten sie international aus, um sich mit anderen Gruppen im Ausland zu messen. Viele der frühen Videospielmagazine Ungarns entstanden ebenfalls unmittelbar aus diesen Club-Communities.
Es gibt Leben hinter dem Eisernen Vorhang!
Obwohl Ungarn die fortschrittlichste Videospielindustrie Osteuropas entwickelte, produzierten auch die anderen sozialistischen Länder Spiele. In der Tschechoslowakei, wo der ZX Spectrum dominierte, waren amateurhafte textbasierte Abenteuerspiele die frühesten Kreationen. Eine ähnliche Situation entwickelte sich in Jugoslawien. Wie in Ungarn experimentierten auch dort Rundfunkanstalten mit der Übertragung von Programmen über Radio und Fernsehen: Da Kassetten Software als Audiosignale speicherten, konnten einige Minuten der ausgestrahlten Töne zu Hause aufgenommen werden und sofort in ein spielbares Programm umgewandelt werden.In Polen begann die Szene ebenfalls mit Amateurproduktionen, meist Science-Fiction-Abenteuern. Ende der 1980er Jahre entstanden jedoch professionelle Unternehmen, die sich auf den Export von Software spezialisierten, wie beispielsweise California Dreams, das das weltweit erfolgreiche Autospiel Street Rod entwickelte.
In Ostdeutschland wurden Computerclubs von der Stasi streng überwacht. Nicht besser waren die Bedingungen in der Sowjetunion, wo dennoch eines der brillantesten Spiele aller Zeiten entstand: Tetris, 1985 vom Computeringenieur Alexei Paschitnow entwickelt. Das Spiel gelangte über Ungarn in den Westen, nachdem Robert Stein es am SZTAKI-Computerforschungsinstitut in Budapest entdeckt hatte.
Indiana Jones in Wenceslas Square, January 16, 1989 | Screenshot
Und wie sah es in der Tschechoslowakei aus?
Die folgenden Absätze wurden verfasst von Jaroslav Švelch, Autor von Gaming the Iron Curtain How Teenagers and Amateurs in Communist Czechoslovakia Claimed the Medium of Computer Games (MIT Press, 2018).
Einige dieser Amateurentwickler schufen Spiele mit politischen Themen, die Protest zum Ausdruck brachten. Gelegentlich unterstützten solche Spiele sogar die antikommunistischen Demonstrationen der späten 1980er Jahre. Beispiele hierfür sind Reconstruction (1988), ein Textadventure, und Indiana Jones in Wenceslas Square, January 16, 1989, in dem Indiana Jones gegen die kommunistische Polizei kämpft.
In den 1990er Jahren begannen Privatpersonen und kleine Studios mit der Entwicklung kommerzieller Spiele, angefangen mit Point-and-Click-Adventures für den lokalen Markt. Schließlich produzierte die Region international erfolgreiche Actionspiele wie Hidden & Dangerous (1999), Operation Flashpoint (2001) und Mafia (2002).
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite des ungarischen Radiosenders EPER, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Oktober 2025