Vorgeschichte des Menschen  Ein Tier der Gattung Homo

Neanderthal-Museum, Mettmann Foto: Clemens Vasters | CC BY 2.0

Dass Homo sapiens sapiens als einziger Vertreter der Gattung Mensch (bisher) nicht ausgestorben ist, könnte nur „eine glückliche Verkettung von Umständen gewesen sein“, sagt der Anthropologe Radoslav Beňuš. Hätte auch alles ganz anders ausgehen können? Und (wann) haben wir aufgehört Tiere zu sein?

Erinnert ihr euch daran, was wir in der Schule über die Evolution der menschlichen Spezies gelernt haben? Wir übernahmen die Vorstellung einer aufeinanderfolgenden Ahnenreihe, die in einer einzigen Linie bis zu uns reicht. Auf das Tier Australopithecus folgte der Homo habilis, der dem Homo erectus vorausging und aus dem sich allmählich der Homo sapiens entwickelte. Nach ihm kamen wir, der Homo sapiens sapiens, der vernunftbegabte Mensch, der das Tierreich verließ und sich auf den Weg in die Zivilisation machte. Weitere Entdeckungen vervollständigten dann die Linie nur noch als fehlende Bindeglieder: Missing Links.

Und wie in jedem Bereich menschlichen Wissens haben wir einen großen Sprung im Verständnis von unserer Evolution gemacht: Die grundlegende Veränderung ist die Erkenntnis, dass neben dem vernunftbegabtem Menschen, also unserem direkten Vorfahren, auch andere Arten oder Unterarten der menschlichen Spezies koexistierten. Und ihr irrt euch nicht, wenn ihr davon ausgeht, dass dies irgendwelche Folgen gehabt haben muss.

Missing Links

Der Wandel in der Wahrnehmung der menschlichen Evolution wurde von Radoslav Beňuš, Dozent für Anthropologie an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava, kurz erläutert. Beňuš argumentiert, dass in der Fachliteratur der Zwischenkriegszeit die menschliche Evolution sehr einfach, geradlinig dargestellt wird – und auch mit so genannten Missing Links. Selbst diese waren manchmal problemlos herzustellen, wie zum Beispiel der berühmte Wissenschaftsskandal um Charles Dawsons Piltdown-Mensch zeigt. Tatsächlich wurden die berühmten Funde aus dem frühen 20. Jahrhundert absichtlich mechanisch und chemisch verändert und stammten in Wirklichkeit von Orang-Utans und modernen Menschen.

Alles ist anders

Radoslav Beňuš zufolge verzweigte sich der einfache Stammbaum und wurde mit der steigenden Zahl von Fossilienfunde in den 1970er und 1980er Jahren komplizierter, vor allem dank des anthropologischen Leakey-Clans. Dessen Gründerin Mary Leakey (1913 – 1996) setzte ihre Forschungen auch nach dem Tod ihres Mannes Louis Leakey fort und entdeckte in den späten 1970er Jahren in Tansania die Fußabdrücke von drei Homininen, die bereits auf zwei Beinen gingen. Die Fußabdrücke in der versteinerten Vulkanasche waren atemberaubende 3,6 Millionen Jahre alt. Bis zu ihrem Lebensende vertrat Mary eine nüchterne und sehr offene Sicht auf die menschliche Evolution. „Es gibt so viel, was wir noch nicht wissen, und je mehr wir herausfinden, desto mehr stellen wir fest, dass die bisherigen Interpretationen völlig falsch waren“, sagte sie am Ende ihres Lebens. Die Worte Mary Leakeys gelten auch noch nach ihrem Tod.

Als wäre alles nicht schon kompliziert genug gewesen, so Beňuš, wurden 2010 die ersten Überreste von bis dahin unbekannten Hominiden gefunden, die man Denisova-Menschen nannte. Das Bemerkenswerte an den Denisova-Menschen ist, dass sie zunächst auf der Grundlage von DNA-Analysen erforscht und klassifiziert wurden. Erst dann wurden allmählich ihre morphologischen Merkmale „enthüllt“. Und Populationen der Neandertaler und der bereits erwähnten Denisova-Menschen teilten sich zur gleichen Zeit den Lebensraum mit dem anatomisch modernen Menschen zusammen.

Replik eines 2008 in der Denisova-Höhle entdecktes Fingergliedes im Museum für Naturwissenschaften in Brüssel, Belgien. Replik eines 2008 in der Denisova-Höhle entdecktes Fingergliedes im Museum für Naturwissenschaften in Brüssel, Belgien. | Foto: Thilo Parg via wikimedia commons | CC BY-SA 3.0

Weitere Komplikationen

Die Entwicklung der Genetik hat unser Verständnis der Vergangenheit auf ein bis dato nicht vorstellbares Niveau gehoben. Genetische Analysen haben nämlich gezeigt, dass sich drei menschliche „Unterarten“ mit großer Sicherheit untereinander gekreuzt haben. Etwa vier Prozent der Neandertaler-DNA ist im Erbgut der heutigen Bevölkerung zu finden, und südostasiatische Völker tragen etwa fünf Prozent der Denisova-DNA in sich. Denisova-Menschen und Neandertaler waren nicht nur Zeitgenossen unserer Cro-Magnon-Vorfahren. Durch Kreuzung mit ihnen wurden sie auch zu unseren Vorfahren, aber das sei noch lange nicht alles, meint der slowakische Anthropologe Radoslav Beňuš.

In den letzten Jahren wurden weitere Funde gemacht, wie etwa der Homo naledi, der Homo floresiensis oder der Homo luzonensis, die wahrscheinlich blinde Linien oder regionale Varianten darstellen, das heißt nicht zu unserem Genpool beigetragen haben. Besonders interessant sind die chinesischen Funde der letzten Jahre, vor allem der jüngste Fund von Homo longi, dem sogenannten Drachenmensch, der in diesem Jahr bekannt gegeben wurde. Einige Paläoanthropologen sprechen von einer neuen Spezies, während andere der Meinung sind, dass es sich um einen Denisova-Menschen handeln könnte. Sollten die Befürworter der letztgenannten Hypothese Recht haben, würde dies bedeuten, dass zusätzlich zu den fragmentarischen Denisova-Funden endlich ein Schädel gefunden wurde.

Das Erbe der vermischten Vorfahren

Die Kreuzung mehrerer menschlicher Spezies hat dazu geführt, dass wir bestimmte Merkmale erworben haben, die wir auf verschiedene Vorfahren zurückführen können. Die Gene der Neandertaler sind mit der Produktion von Keratin in Haut, Haaren und Nägeln verbunden. Rote Haare und eine blasse Hautfarbe mit Sommersprossen werden gerade auf Neandertaler-Allele zurückgeführt. Und nicht nur das. Sie sind an bestimmten Stoffwechselfunktionen beteiligt und beeinflussen die Anfälligkeit für Krankheiten wie Morbus Crohn, Typ-2-Diabetes, Lupus (Schmetterlingsflechte), Hautkrankheiten, Depressionen, bestimmte Süchte, Narkolepsie sowie die Anfälligkeit für oder die Resistenz gegen Viruserkrankungen.

Nachkommen der Neandertaler und Covid-19

Im vergangenen Jahr wurde eine Gruppe von Genen entdeckt, die einen Risikofaktor für Covid-19 darstellen. Etwa 16 Prozent der Europäer und bis zur Hälfte der Südasiaten haben diese Gene vom Neandertaler geerbt. In diesem Jahr wurde eine Studie über ein weiteres Neandertaler-Gen veröffentlicht, das wiederum vor einem schweren Verlauf von Covid-19 schützt. Etwa 50 Prozent der Menschen in Europa und Asien haben dieses Gen, während es in afrikanischen Populationen, in denen es keine Neandertaler-Gene gibt, fehlt. Die Tibeter beispielsweise haben von den Denisova-Menschen ein Gen „geerbt“, das die Sauerstoffversorgung des Blutes und des Gewebes auch bei einem niedrigeren Sauerstoffpartialdruck im Hochgebirge regelt. Radoslav Beňuš weist darauf hin, dass Studien nur einen geringen Einfluss dieser „vererbten“ Gene auf die oben genannten Krankheiten zeigen.

Der Anthropologe Radoslav Beňuš Der Anthropologe Radoslav Beňuš | Foto: © privat

Warum nur eine Unterart des Menschen überlebt hat

Der Homo sapiens sapiens war wahrscheinlich am besten angepasst, da er alle „guten Gene“ von den in Eurasien lebenden Neandertalern und Denisova-Menschen abbekommen hat, und wahrscheinlich waren auch die Kultur und das ausgeprägte Sozialleben sehr hilfreich. Experten gehen oft davon aus, dass der anatomisch moderne Mensch in der Lage war, mehr Nahrungsressourcen zu nutzen, als die Zahl der großen Säugetiere, die der Neandertaler jagte, zu schwinden begann. Andere Hypothesen besagen, dass die Neandertaler die Nadel nicht kannten und daher keine Pelzkleidung für kältere Klimabedingungen herstellen konnten.

„Ich persönlich halte das für Unsinn, denn auch die Neandertaler waren sehr sozial und gut an das Klima angepasst“, kontert Beňuš. Außerdem könnten die Teilpopulationen der Neandertaler so klein gewesen sein, dass es nur Inzest gab, was die Geburtenrate drastisch reduzierte. „Es gibt viele Theorien, und die ganze Sache könnte auch nur eine glückliche Verkettung von Umständen gewesen sein“, fügt er geheimnisvoll hinzu.

Wann hat der Mensch aufgehört, ein Tier zu sein?

Mehrere Anthropologen vermuten, dass unsere Vorfahren das Tierreich etwa zu dem Zeitpunkt verließen, als sie begannen, aufrecht auf zwei Beinen zu gehen. Dem kann man widersprechen, denn auch anthropoide Primaten können mehr oder weniger erfolgreich auf zwei Beinen gehen. Das zweibeinige Gehen ist bei Australopithecus, also bereits bei Hominiden, nachgewiesen worden. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von Werkzeugen, der Kommunikation, der Zusammenarbeit und so weiter. Bei einigen Tieren wurde sogar ein Selbstbewusstsein beobachtet.

„Was uns zu Menschen macht“, fügt Beňuš hinzu, „ist erst die Kultur und das symbolische oder abstrakte Denken.“ Doch die Anthropologin Margaret Mead geht in ihrer Argumentation noch weiter. Ihr zufolge war das erste Zeichen von Zivilisiertheit in der prähistorischen Kultur unserer Vorfahren ein verheilter Oberschenkelbruch. Sie erklärt, dass man im Tierreich stirbt, wenn man sich ein Bein bricht. Man kann nicht mehr vor Gefahren fliehen, nicht zum Fluss trinken gehen oder Nahrung fangen. Man wird selbst zur Nahrung für Raubtiere. Kein Tier überlebt einen Beinbruch lange genug, bis der Knochen verheilen kann. „Ein gebrochener Oberschenkelknochen, der verheilt ist, ist der Beweis dafür, dass sich jemand die Zeit genommen hat, bei dem Gestürzten zu bleiben. Er verband seine Wunde, brachte ihn in Sicherheit und kümmerte sich um ihn, während er sich erholte. Zu dem Zeitpunkt, an dem einem anderen Menschen in Not geholfen wurde, da begann die Zivilisation“, sagt Mead.

Aber wie das bei wissenschaftlichen Erkenntnissen eben so ist, sind ihre Argumente nicht kugelsicher. Tatsächlich, so Beňuš, legte der Anthropologe Adolph Hans Schultz in den 1920er Jahren eine Reihe von gut verheilten Brüchen bei Gibbons vor, sogar Brüche in den unteren Gliedmaßen: „Auch Gibbons kümmern sich also scheinbar irgendwie um ihre Artgenossen. Schienen haben sie ihnen wahrscheinlich keine angelegt, aber sie haben sie zumindest mit Nahrung unterstützt“, so Beňuš. Ein verheilter Bruch ist also nicht unbedingt ein Beweis für Zivilisiertheit beim Menschen. Aber vielleicht ist es ein Hinweis darauf, dass wir auch Tieren einige der Eigenschaften zugestehen sollten, die das kennzeichnen, was wir Menschlichkeit nennen.

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