„Seuchenliteratur“  Lehren aus der Vergangenheit

Illustration aus der Serie „Nine images of the plague in London“, 17. Jahrhundert
Illustration aus der Serie „Nine images of the plague in London“, 17. Jahrhundert CC BY 4.0 via Wellcome Images

Seit Jahrhunderten werden in der Literatur immer wieder Seuchen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen thematisiert. Die Parallelen zur Gegenwart sind erstaunlich.

„Und in vielen Häusern hatte man das Nahen der Seuche vorausgesehen und Vorräte von Lebensmitteln angelegt, die für die ganze Familie ausreichten, und dann sperrten sie sich ab, und manche so vollständig, daß von ihnen weder etwas zu sehen noch zu hören war, bis die Seuche ganz aufgehört hatte […]“: Ob die Bevölkerung Londons, die 1665 von der Pest überrascht wurde, wohl auch Klopapier gehamstert hätte, wäre es damals schon erfunden gewesen?

Liest man in der gegenwärtigen Situation, in der das öffentliche Leben auf der ganzen Welt aufgrund des Covid 19-Virus auf ein Minimum heruntergefahren ist, den Roman Die Pest zu London, wirkt dieser erschreckend aktuell. Daniel Defoe veröffentlichte den Text 1722; er beruht wahrscheinlich auf den Aufzeichnungen seines Onkels, denn er selbst war erst fünf Jahre alt, als die Epidemie ungefähr ein Fünftel der Bewohner Londons dahinraffte.

Zunächst schätzt auch die Hauptstadt an der Themse die Gefahr der Seuche als gering ein, es gibt nur vereinzelt Todesopfer und auch nur in bestimmten Gebieten der Stadt. Doch mangels Wissen über die Wege der Ansteckung kommt es zu einem raschen Anstieg der Infektionen – und zu wachsendem Misstrauen unter den Menschen: „Jeder, der seine Krankheit verbergen konnte, tat es, damit nicht seine Nachbarn sich von ihm abwandten und sich weigerten mit ihm zu verkehren, auch damit nicht die Behörden ihn in seinem Hause einschlössen, was, obwohl noch nicht durchgeführt, so doch bereits angedroht war“.

Während die einen auf soziale Isolation und Vorratshaltung setzen, geben sich andere wiederum unbekümmert, pflegen ganz normalen Umgang mit Freunden, selbst wenn sie sich bereits mit der Pest angesteckt haben und dies sogar wissen. Der Erzähler hingegen kauft sich zwei Säcke Mehl, um fortan sein Brot im hauseigenen Ofen zu backen. Und sogar die finanziellen Einbußen der lokalen Unternehmen sowie apokalyptische Prophezeiungen ausgemachter Scharlatane sind in Defoes akribischen Bericht enthalten.

Körperliche Distanzierung ist der richtige Weg

Die gesellschaftlichen Dynamiken, die wir in der gegenwärtigen Corona-Krise erleben – von Panik und Hamsterkäufen über Sorglosigkeit bis hin zu einem erzwungenen Gemeinschaftsgefühl – finden sich ebenfalls in einem weiteren Klassiker der Seuchenliteratur, der schon Mitte des 14. Jahrhunderts entstand: Das Dekameron von Giovanni Boccaccio beschreibt den Ausbruch einer Seuche – auch hier ist es die Pest – im Florenz von 1346.

Bevor sich zehn junge Männer und Frauen auf ein Landgut vor den Toren der Stadt zurückziehen, um sich dort mit dem Erzählen von Geschichten das Warten auf das Ende der Epidemie zu vertreiben, schildert eine Einleitung den damaligen Umgang mit der Krankheit. Sie zeigt, dass in diesen Zeiten wohl jeder sich selbst der Nächste war: „Fast alle strebten zu ein und demselben grausamen Ziele hin, die Kranken nämlich und was zu ihnen gehörte, zu vermeiden und zu fliehen, in der Hoffnung, sich auf solche Weise selbst zu retten.“ Während die einen sich mit edlen Weinen und guten Speisen in ihren eigenen vier Wänden oder außerhalb der Stadttore absondern, ziehen andere mit sarkastischen Scherzen auf den Lippen durch die Kneipen.

Solidarität unter den Menschen gibt es kaum: „Wir wollen davon schweigen, daß ein Mitbürger den andern mied, daß der Nachbar fast nie den Nachbarn pflegte und die Verwandten einander selten oder nie besuchten; [...] ja, was das Schrecklichste ist und kaum glaublich scheint: Vater und Mutter weigerten sich, ihre Kinder zu besuchen und zu pflegen, als wären es nicht die ihrigen.“ Während damals Egoismus die soziale Ächtung und Abgrenzung der Kranken auslöste, sind wir in diesen Tagen hingegen dazu aufgerufen, Menschen aus den so genannten Risikogruppen bewusst nicht zu besuchen. Wer mit dieser Forderung hadert, kann in der Literatur zahlreiche Beispiele finden warum körperliche Distanzierung der richtige Weg ist, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Wie viele Menschen sterben „normalerweise“ in einer Woche?

Wie die Selbstisolation in Zeiten einer Epidemie das bisherige gesellschaftliche Gefüge auf den Kopf stellt und die Menschen zu radikalen Handlungen bringt, schildert Albert Camus treffend in seinem Roman Die Pest, der 1947 erschien. Vom anfänglichen Massensterben der Ratten greift die Seuche schnell auf den Menschen über, die Sterberate wächst – auch das brandaktuell – exponentiell in immer kürzerer Zeit. Doch wie soll die Bevölkerung die Todeszahlen überhaupt einordnen, wenn sie nicht weiß, wie viele Menschen „normalerweise“ in einer Woche sterben?

Von Verharmlosung über die Erkenntnis der Ernsthaftigkeit der Lage bis hin zu dionysischen Ausschweifungen durchlaufen die Bewohner des später komplett abgeriegelten nordafrikanischen Städtchens verschiedene Stadien – und auch hier ist letztendlich jeder auf sich gestellt: „In dieser äußersten Einsamkeit konnte niemand auf die Hilfe des Nachbarn zählen, und jeder blieb mit seinen Gedanken allein.“ Während einige der Charaktere – die Geschichte wird von dem Arzt Bernard Rieux erzählt, der als erstes gegen einigen Widerstand den Verdacht äußerte, man habe es mit der Pest zu tun – an vorderster Front die Pestbeulen aufschneiden, werden sie sich ihrer Sterblichkeit bewusst und lassen ihr Leben Revue passieren. Warum wurden sie so, wie sie heute sind und was zählt wirklich im Leben?

Die Pest ist nicht nur eine dichte Beschreibung eines Seuchenverlaufs (mit gutem Ende), sondern wird oft als Parabel auf die Okkupation von Paris durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gelesen – und, in der schicksalsgebundenen Freundschaft der Hauptfiguren, als Sinnbild für Solidarität in Zeiten der Krise.

Schlechtes Krisenmanagement

Von Solidarität ist in der Novelle Tod in Venedig von Thomas Mann aus dem Jahr 1911 hingegen wenig zu spüren. Dass in der Lagunenstadt die Cholera ausgebrochen ist, erfährt der Protagonist Gustav Aschenbach nur, weil er den Mitarbeiter eines englischen Reisebüros bittet, ihn nicht erneut mit der von der Regierung vorgegebenen Erklärung abzuspeisen, die umfangreichen Desinfizierungen seien nur „Vorsichtsmaßnahmen gegen den Scirocco“. Während in den Gassen der Stadt die Menschen dahinsiechen, versucht man mit allen Mitteln, die Wahrheit zu vertuschen. In den Tageszeitungen wird die Seuche mit keinem Wort erwähnt – aus Angst vor wirtschaftlichen Einbußen durch Ausbleiben des Tourismus und aus „Rücksicht auf die kürzlich eröffnete Gemäldeausstellung in den öffentlichen Gärten.“

Gustav Aschenbach bleibt trotzdem in Venedig, aus homoerotischer Verzückung für einen blondgelockten Jungen sowie aus latenter Todessehnsucht; und fühlt sich lediglich leicht angeschlagen, bevor er in einem Liegestuhl am Strand mutterseelenallein seinen letzten Atemzug aushaucht. Tod in Venedig kann als Negativbeispiel für das Krisenmanagement einer Regierung gesehen werden und ist zum Glück weit entfernt vom heutigen politischen Umgang mit dem Corona-Virus und der minütlich aktualisierten Berichterstattung der Medien.

Das Dekameron, Die Pest zu London, Die Pest und Tod in Venedig: Sie alle können ein beklemmendes Gefühl bei der Lektüre auslösen oder uns zeigen, wie wir mit der aktuellen Situation umgehen können – und wie besser nicht.

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