Als Introvertierte durch die Krise  Quiet is the new loud

Quiet is the new loud Foto: Alexander Puffer via unsplash | CC0 1.0

Keine Freunde mehr treffen, keine Reisen, Home Office – die Corona-Krise traf viele Menschen hart bis existenziell. Mittlerweile haben sich die meisten in ihrem Alltag eingerichtet, doch eines bleibt: Das Gefühl, dass Alleinsein eine Zumutung ist.

Nicht so für mich. Denn für Menschen wie mich begann mit dem Corona-Lockdown eine fast gute Zeit. Ich bezeichne mich als introvertiert, als „Intro“ und „Drinni“. Durch die Krise wurden plötzlich Eigenschaften wichtig, die andere nicht immer an mir schätzen: Ruhe, Nachdenklichkeit und sich alleine beschäftigen zu können. Es sind Eigenschaften, die auch viele der HeldInnen der Stunde aufweisen – Wissenschaftlerinnen oder medizinisches Personal. Aktuell braucht es Menschen, die sorgfältig und besonnen vorgehen. Fun fact: Auch Naturwissenschaftlerin und Bundeskanzlerin Angela Merkel soll zu den „Intros“ gehören.

Um mich herum aber erlebte ich in den vergangen Wochen FreundInnen, die den Gedanken nicht ertrugen, mehrere Stunden oder gar Tage alleine in ihrer Wohnung zu arbeiten, zu kochen, zu essen und alleine einzuschlafen. Viele fühlen sich überfordert und so einsam wie noch nie zuvor. Für mich bedeutete die Isolation jedoch: konzentriert arbeiten an einem ruhigen Ort, genug Pausen ohne Small-Talk, mehr Freizeit und Schlaf durch weniger Pendeln in der Großstadt. Freilich ist das eine privilegierte Sicht, da ich bislang keine existenziellen Nachteile erlebe. Da sich durch den Lockdown aber so wenig für mich veränderte, fragte ich mich bald: Kommen Introvertierte besser durch die Corona-Krise?

Die Welt als Kindergeburtstag

Introversion und Extraversion beschreiben, grob skizziert, zwei Pole von Persönlichkeitsmerkmalen und wie Menschen mit ihrer sozialen Umwelt interagieren sowie Reize im Gehirn verarbeiten. Anfang der 1920er Jahre schrieb der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung erstmals über die „Introversion“– derart gepolte Menschen zögen sich psychisch nach innen zurück, seien zurückhaltend, ermüdeten schnell in großen Gruppen. Extrovertierte brauchen hingegen Trubel, Lautstärke, viele Menschen, um Energie aufzuladen. Schätzungen gehen von einem Drittel bis zu 50 Prozent der Weltbevölkerung aus, die introvertiert sind, Mischformen sind viel wahrscheinlicher. Eines aber war bislang klar – in westlichen Kulturen ist Extraversion so etwas wie der soziale Goldstandard. Bis jetzt.

„Ich bin ja selbst introvertiert und es gab irgendwann einen Moment, da habe ich plötzlich kapiert, warum ich immer mit mir gehadert habe“, sagt Jessica Kretschmar. Sie coacht in Süddeutschland introvertierte Menschen, die – wie sie einst – an ihrer Persönlichkeit zweifeln und mit ihrer leisen Art immer wieder anecken. Kretschmar hat erst durch viel Literatur und ihre Coach-Ausbildung verstanden: „Das hat einen Grund, warum ich so bin und das ist auch gut so.“ Introvertiert sein – das weiß die Coach und das weiß ich – hat vor allem ein schlechtes Image in einer Welt, die manchmal eher einem übersteuerten Kindergeburtstag ähnelt. Woher das kommt, ist nicht ganz klar – Kretschmar tippt auf den Selbstdarstellungsdrang in der westlichen Arbeits- und Konsumwelt. Auch die Psychologin und Beraterin Johanna Feilhauer aus Heinsberg sieht darin mögliche Ursachen: „Wer den Mund aufmachen kann, und wer sich zeigt, der wird gesehen.“ Das gelte für Jobs genauso wie für persönliche Beziehungen.
 

Introvertierte sind nicht die unfreiwilligen GewinnerInnen der Krise, sondern jene, deren Alltag nicht völlig zusammengebrochen ist.

Stille als kurzlebige Detox im Alltagswusel

Dennoch ist die Sache komplexer, so Feilhauer. Intro- oder Extraversion seien zwar angeborene Merkmale – aber keine, denen man einfach ausgeliefert sei. Zum einen belegen Studien, dass beispielsweise das Umfeld, in dem man aufwächst, aber auch das Zusammenwirken mit anderen Persönlichkeitsaspekten eine Rolle spielen. Zum anderen können Menschen ihre individuelle „Werkseinstellung“ auch anpassen: „Bestimmte Krisen- oder Ausnahmesituationen können uns zwingen, anders zu handeln.“ Gerade in Corona-Zeiten sei nicht alles schwarz und weiß, jeder Mensch erlebe die Krise ganz unterschiedlich und dies hänge nicht nur mit Intro- oder Extraversion zusammen, so die Psychologin. Wer extrovertiert veranlagt sei, der könne jetzt dank moderner Technik immer noch viel netzwerken und kommunizieren, entdecke vielleicht ein neues Hobby. Introvertierte fänden hingegen die Muße, sich in Dinge richtig zu vertiefen.

Der Wunsch nach Stille oder dem inneren Zwiegespräch erschien bis zum Corona-Shutdown vor allem als gesonderte Ausnahme, als ausgekoppelter „Retreat“ oder „Detox“ von der Welt. Introversion galt als seltsame Abweichung, die immer wieder auch mit Schüchternheit, Trägheit, Angst oder Depression verwechselt wird. Diese Faktoren können zwar zur Introversion dazukommen, hauptsächlich aber geht es um Rückzug. Manche Menschen gehen dafür sogar noch einen Schritt weiter.

Rund 80 anerkannte EremitInnen gibt es derzeit in Deutschland. Sie leben traditionsgemäß am Rande von Siedlungen, entschleunigt und spirituell vertieft in direkter Nähe zur Natur. Das asketische Dasein ist für sie ein Gewinn. So sprechen EremitInnen wie Maria Anna Leenen in Niedersachsen oder Jürgen Knobel in Brandenburg in Interviews davon, dass das Alleinsein Menschen auch darauf zurückwerfe, sich stärker mit sich selbst auseinanderzusetzen. Hierfür fehlt vielen Menschen vielleicht auch in der Krise einfach die Übung – und wenn das Getöse der Welt stillsteht, kann es in einem selbst sehr laut werden.

Introvertierte, so Jessica Kretschmar, könnten naturgemäß in dieser Zeit mit Ruhe, mit reizarmen Umgebungen und fehlender Ablenkung gut umgehen. Und ein weiterer Aspekt ist laut Johanna Feilhauer ganz zentral: Struktur im Alltag. „Gerade bei solchen Krisen spielt es – unabhängig von intro- oder extrovertiert – eine Rolle, wie gut ich mich strukturieren kann, wie gut ich in schwierigen Zeiten durchkomme? Wie verwurzelt bin ich, wie gut ist mein Netzwerk?“, so die Psychologin. Damit wird auch klar – Introvertierte sind nicht die unfreiwilligen GewinnerInnen der Krise, sondern jene, deren Alltag nicht völlig zusammengebrochen ist.

Können Extrovertierte – oder jene, die vorgeben, es zu sein – nun aber etwas aus dem Shutdown lernen? Werden sich beispielsweise Büroräume umgestalten und der soziale Druck auf Introvertierte nachlassen? Feilhauer sagt, dass der „laute“ Teil der Gesellschaft derzeit lernen könne, was dem „leisen“ Teil gut gefalle: „Ich finde, dass es momentan mehr Offenheit für andere Lebensrealitäten gibt – wie geht es dem anderen eigentlich gerade?“ Sie hofft, dass das Gefühl ,,sich in andere hineinzuversetzen“ bleibt – allerdings sei derzeit nicht sicher, wie gut die Chancen dafür stehen. Auch Jessica Kretschmar ist skeptisch, ob die Welt nach der Krise besser auf Introvertierte eingeht. „Diese negative Schublade, in der Introvertierte stecken, ist ja schon weit verbreitet. Sobald das Leben irgendwann wieder normal ist, dann wird es auch wieder belächelt, wenn jemand einfach nur zu Hause sein möchte.“ Und ich, ich hoffe mal das Beste.
 

Introversion

Ist Introversion genetisch oder kulturell geprägt? Forschungsergebnisse legen nahe, dass Introversion eine angeborene Eigenschaft des Menschen ist. Tests zeigten, dass bereits Kleinkinder auf starke Reize oder Geräusche eher zurückweisend oder angeregt reagieren. Dieses Muster werde im Erwachsenenalter häufig beibehalten. Dabei zeigen sich auch manchmal Übergänge von Introversion zur Hochsensibilität, in pathologischen Fällen auch zur Depression. Extrovertierte können wiederum im schlimmsten Fall zur Manie neigen.

Introvertierte Menschen sind nicht intelligenter oder psychisch widerstandsfähiger als andere – sie verarbeiten hingegen Reize aus der Umwelt in ihrem Inneren, weniger durch Verbalisierung oder Interaktion. Introvertiertes Verhalten wird zudem kulturell unterschiedlich wahrgenommen. Beispielsweise wird in Japan Zurückhaltung in der Öffentlichkeit sehr geschätzt, wie Autorin und Introvertierten-Coach Sylvia Löhken herausfand.

Wer mit seiner Introversion gerade im Berufsleben aneckt, kann sich in zahlreichen Trainings coachen lassen – ein Angebot, dass es so übrigens nicht explizit für Extrovertierte gibt. Unter anderem Löhken bietet auf ihrer Webseite einen Schnelltest an, zu welcher Seite man selbst neigt.

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