Internationale Kulturvertretungen in der Ukraine  Die neue (Ab-)Normalität

Die neue (Ab-)Normalität | Internationale Kulturvertretungen in der Ukraine Illustration: © Tetiana Kostyk

Trotz des Krieges versuchen internationale Institutionen wie das Goethe-Institut in Kyjiw, das Tschechische Zentrum, und andere, ein Ort der Begegnung verschiedener Kulturen und Erfahrungen zu sein. Sie zeigen, dass Kultur auch in Krisenzeiten überleben hilft.

Ich schreibe diesen Text in den Tagen, in denen Russland weitere verheerende und rücksichtslose Luftangriffe auf die Ukraine verübt. Dazu gehört der berüchtigte Angriff auf die Stadt Dnipro mit ballistischen Interkontinentalraketen und ballistischen Mittelstreckenraketen. Täglich werden Zivilist*innen getötet. Die zivile Infrastruktur wird zerstört. Es kommt wieder zu regelmäßigen Stromausfällen. Das Tschechische Zentrum in Kyjiw, in dem ich arbeite, ist natürlich auch von all diesen Gefahren betroffen. In der Schule meiner Tochter werden fast jeden Tag mindestens ein oder zwei von vier oder fünf Unterrichtsstunden durch Luftangriffe gestört. Und heute hat ein Drohnenangriff dazu geführt, dass überhaupt kein Unterricht stattfinden konnte.

Man könnte meinen, dass in einem solchen Moment und an einem solchen Ort alles andere als internationaler Kulturaustausch, Zusammenarbeit und Kulturdiplomatie wichtig sind. Mit anderen Worten, alles andere und nicht die Kultur. Hätte ich in einem anderen Land gelebt und nicht alles mit eigenen Augen gesehen, wäre ich sehr überrascht gewesen, aber es ist eine Tatsache: Heute findet in Kyjiw das Abschlusskonzert des neuntägigen Barockmusikfestivals Kyiv Baroque Fest 2024 live statt, eine wirklich große Veranstaltung (besonders für ein Land im Krieg). Im Mittelpunkt des Festivalprogramms standen der französische Komponist Jean-Philippe Rameau und der ukrainische Komponist Dmytro Bortnjanski. Die meisten Veranstaltungen des Kyjiwer Barockfestivals waren bereits im Vorfeld ausverkauft. Das bedeutet, dass das Festival nicht nur ein konzeptionelles und symbolisches Ereignis war, sondern auch ein Ereignis, das Interesse und Aufmerksamkeit erregte und in der ukrainischen Hauptstadt ein Erfolg war.

So wie die barocke Kunst eine Kreuzung und Durchdringung der Kulturen verschiedener Länder ist, so ist auch das Barockmusikfestival das Ergebnis der organisatorischen Bemühungen unter außergewöhnlichen Bedingungen. Eingebunden waren dabei verschiedene ukrainische und ausländische Strukturen, unter anderem auch kulturelle Einrichtungen europäischer Länder: das Französische Institut in der Ukraine, das Tschechische Zentrum in Kyjiw, das Polnische Institut in Kyjiw, das Italienische Kulturinstitut in der Ukraine, das Goethe-Institut in der Ukraine sowie die Botschaften dieser beteiligten Länder. Auch einige Künstler kamen aus dem Ausland nach Kyjiw, um Live-Konzerte zu geben, wie der deutsche Countertenor Andreas Scholl und der französische Pianist Jean Rondeau.

Ich möchte ein wenig mehr darüber erzählen, wie einige der kulturellen Vertretungen europäischer Länder, mit denen ich beruflich zu tun habe, in diesen Kriegsrealitäten funktionieren.

Die Tschechische Republik

Seit Beginn der russischen Invasion hat die Tschechische Republik die Ukraine aktiv bei verschiedenen humanitären, politischen und militärischen Initiativen unterstützt. Und auch im kulturellen Bereich. Das Tschechische Zentrum in Kyjiw hat seine Arbeit fast nie unterbrochen und war eine der ersten Kulturvertretungen europäischer Länder, die ihre Offline-Aktivitäten in der ukrainischen Hauptstadt wieder aufgenommen hat. Ein deutlicher Schwerpunkt der Aktivitäten liegt im Bereich der Musik. Das Jahr 2024 wurde in der Tschechischen Republik zum Jahr der tschechischen Musik (Rok české hudby) erklärt. Anfang September gab der tschechische Organist Josef Kratochvíl Konzerte in mehreren relativ sicheren ukrainischen Städten — Czernowitz, Riwne und Luzk — und spielte dabei vor allem Musik tschechischer Komponisten. Es gibt aber auch Projekte im Bereich der bildenden Kunst. So fand im August im Unbreakable Hub Orbita in Saporischschja im Rahmen des Kunstforums Tarasov Park eine Ausstellung tschechischer Comics statt. Ist es nicht unglaublich, dass ein Kunstforum in einer Stadt an der Frontlinie unter Lenkbomben und Raketen stattfinden kann?
Das Tschechische Zentrum in Kyjiw hat seine Arbeit fast nie unterbrochen und war eine der ersten Kulturvertretungen europäischer Länder, die ihre Offline-Aktivitäten in der ukrainischen Hauptstadt wieder aufgenommen hat.
Eine bemerkenswerte Filmveranstaltung war das Internationale Karpatenfilmfestival in Uschhorod, an dem das Tschechische Zentrum als Partner teilnahm. Die Tschechische Republik war auf dem Festival mit dem Film Lichens Are The Way (Lišejníky) von Ondřej Vavrečka vertreten, der die Geschichte einer der typischen Lebensformen der Berglandschaft — der Flechten — erzählt. Der Film erhielt einen Sonderpreis des Ukrainischen Filmkritikerverbandes.

Ein weiteres interessantes Projekt in einem anderen Bereich ist Tschechisches Erbe im Transkarpatengebiet. Es stellt Objekte vor, die in der Region während ihrer Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit unter Mitwirkung tschechischer Spezialisten errichtet wurden. Ihre Beschreibungen und Audioguides sind in Form einer speziellen Online-Karte und einer mobilen App verfügbar. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören eine Kirche in Solotwyno, die Masaryk-Kolonie in Chust (eine Reminiszenz an die Idee der „Gartenstadt“) oder touristische Unterkünfte in den Bergen. Die meisten Bauwerke befinden sich jedoch in Uschhorod, von der Masaryk-Brücke über den Fluss Usch über das Stadtviertel Malyi Halahov bis hin zu den markanten roten Hydranten mit der Aufschrift „Praha“.

„Das Tschechische Zentrum versucht, Veranstaltungen nicht nur in der Hauptstadt oder in größeren Städten, sondern auch in Dörfern und Kleinstädten zu organisieren und zu unterstützen“, sagt Tereza Soušková, Direktorin des Tschechischen Zentrums in Kyjiw, „zum Beispiel schicken wir im Rahmen des Programms Tschechisches Regal (Česká polička) Bücher an öffentliche Bibliotheken. Ich interessiere mich für das Kino und freue mich besonders, die Teilnahme tschechischer Filme an verschiedenen Festivals zu fördern. Aber natürlich ist es schwierig, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Ständig gibt es Luftangriffe, Alarme, Stromausfälle. Und vor allem: Menschen sterben. Wie sich die Ukrainer an diese Situation anpassen, nicht aufgeben und weiterarbeiten, nötigt mir aufrichtigen Respekt ab.“

Polen

Das Polnische Institut in Kyjiw ist eine der stärksten ausländischen Kulturvertretungen in der Ukraine. Es war nicht nur eine der ersten Vertretungen, die nach der Belagerung Kyjiws ihre Arbeit wieder aufnahm, sondern es erweiterte auch seine Räumlichkeiten. Das Institut ist nun in einem eigenen Gebäude in Podil (einem pittoresken historischen Stadtviertel in der Nähe des Flusses Dnipro am Fuße der Kyjiwer Hügel) untergebracht. Dort gibt es genügend Platz für verschiedene Veranstaltungen wie Konzerte, Diskussionen oder Lesungen, aber auch für Ausstellungen. Übrigens war eine der ersten Ausstellungen im Jahr 2022 eine Ausstellung von Ikonen auf Munitionskisten der ukrainischen Künstler Oleksandr Klymenko und Sonya Atlantova.

Wie man sieht, konzentriert sich das Polnische Institut nicht nur auf die Präsentation der polnischen Kultur in der Ukraine, sondern unterstützt auch die ukrainische Kultur beziehungsweise eine Synthese der Kulturen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Joseph Konrad-Korzeniowski-Literaturpreis, der alle zwei Jahre an ukrainische Schriftsteller verliehen wird. Es ist symbolisch, dass Joseph Conrad selbst ein britischer Schriftsteller polnischer Abstammung war, der in der Ukraine geboren wurde. In die engere Auswahl für den Preis kamen 2024 die ukrainischen Schriftsteller*innen Andriy Lyubka, Oleksandr Mykhed und Yaryna Chornohuz. Eine ähnliche Auszeichnung im Bereich der bildenden Kunst ist der Kasimir-Malewitsch-Preis. Auch hier: Malewitsch war ein polnischer Künstler, der in der Ukraine geboren wurde und mit der Ukraine und ukrainischen künstlerischen Prozessen verbunden war. „“

Darüber hinaus werden traditionelle Programme wie die Tage des polnischen Films in der Ukraine fortgesetzt. Wiktor Sobjanski, einer der langjährigen Koordinatoren, beschreibt den Jahrgang 2024 dieser Veranstaltung wie folgt: „Die größte Herausforderung war es, die ‚Geographie‘ unserer Tage des polnischen Films beizubehalten. Wir wollten unbedingt in Charkiw und Odesa präsent sein und sind sehr froh, dass uns das gelungen ist. Wir wollten expandieren. Leider ist es uns nicht möglich gewesen, wie geplant Vorführungen in Sumy zu organisieren, aber zum ersten Mal in den letzten Jahren haben wir polnische Filmtage in Schytomyr durchgeführt. Was die Themen betrifft, so gab es keinen bestimmten thematischen Ansatz. Unsere Auswahl war sehr vielfältig. Besonderes Augenmerk haben wir auf Komödien gelegt: Wenn sie gezeigt wurden, waren es intelligente Komödien. Es war ziemlich schwierig, Online-Vorführungen vorzubereiten, aber sie waren sehr beliebt. Das größte Interesse zeigte das Publikum in Lwiw.“

Im Februar 2024 organisierte das Institut gemeinsam mit dem Nationalmuseum für die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg die Ausstellung Phönix-Städte. Wiederaufbau nach Kriegszerstörung. Sie bestand aus Ständen, die die Erfahrungen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg in Warschau und Breslau in Polen sowie in anderen Städten der Welt wie Rotterdam, Tokio, Coventry und Dubrovnik zeigten. Ein weiterer wichtiger Teil der Ausstellung waren Wiederaufbauprojekte in ukrainischen Städten, die bereits unter dem aktuellen Krieg gelitten haben — Irpin, Tschernihiw, Trostjanets, Charkiw, Mariupol und Lwiw. Natürlich sind diese Projekte noch im Entstehen begriffen, da die Gesellschaft noch nicht weiß, wann und in welcher Form der Krieg enden wird und die Unsicherheit wächst. Sie zeigen jedoch einen Prozess des kreativen Nachdenkens und Experimentierens über den städtischen Raum nach dem Krieg. Dieses Thema wird in Zukunft von großer Bedeutung sein.
Wir wollen nicht nur interessante polnische Projekte vorstellen, sondern auch die Ukraine und die Ukrainer in dieser schrecklichen Situation unterstützen, in der sie so viel Widerstandskraft, Mut, aber auch Kreativität zeigen.“
Jarosław Godun, Direktor des Polnischen Instituts in Kyjiw
„Die Verbindungen zwischen Polen und der Ukraine, zwischen unseren Kulturen, sind sehr intensiv. Deshalb ist es für uns etwas Besonderes, hier zu arbeiten“, sagt Jarosław Godun, Direktor des Polnischen Instituts in Kyjiw: „Wir wollen nicht nur interessante polnische Projekte vorstellen, sondern auch die Ukraine und die Ukrainer in dieser schrecklichen Situation unterstützen, in der sie so viel Widerstandskraft, Mut, aber auch Kreativität zeigen. Ich war vor kurzem in Charkiw und war erstaunt, wie das künstlerische Leben dort trotz des täglichen blutigen und barbarischen Beschusses funktioniert. Deshalb ist zum Beispiel der Joseph-Conrad-Preis so wichtig — er ist ein gemeinsamer Kontext der Vergangenheit, eine Unterstützung für die zeitgenössische ukrainische Literatur von heute und eine kreative Interaktion im Interesse der Zukunft. Natürlich vergessen wir dabei nicht unsere Aufgabe, die Ukrainer mit neuen oder klassischen Beispielen polnischer Kultur bekannt zu machen — denken wir nur an die Tage des polnischen Films oder an neue Übersetzungen. Und ich bin sicher, dass polnische Filme, visuelle Projekte, literarische Texte oder Musik die Menschen in der Ukraine heute in gleicher Weise unterstützen.“

Deutschland

Diesen Ansatz verfolgt auch das deutsche Goethe-Institut. Es organisierte eine große Vorführung neuer deutscher Filme – von Wim Wendersʼ Klassiker Der Himmel über Berlin aus dem Jahr 1987 bis zum Film Zwei zu eins (2024) von Natja Brunckhorst – Mitte November im Kultkino Zhowten in Kyjiw sowie in Lwiw, Czernowitz und sogar in Charkiw, Odesa und Dnipro. Außerdem war das Goethe-Institut Mitorganisator des umfangreichen ukrainischen Programms auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober.

Die Präsenz von Kulturvertretungen in der heutigen Ukraine und die damit verbundene kulturelle Zusammenarbeit gehören zu den ermutigenden Dingen in Zeiten des Krieges. Sie unterstützen die Ukrainer in ihrer „neuen (Ab-)Normalität“ im Kriegszustand. Dabei geht es nicht um die sogenannte berüchtigte „Kulturfront“ oder um naiven tollkühnen Trotz gegen die Invasoren (schließlich finden die Veranstaltungen in Schutzräumen statt und werden notfalls abgesagt oder verschoben). Es geht um den Fortbestand der Zivilisation, um die Unterstützung der Menschen und ihres Geistes durch kreative und lebensbejahende Praktiken.

P.S.:
Während der Arbeit an diesem Artikel stand Kyjiw unter massivem Beschuss, bei dem die Russen das Tschechische Zentrum beschädigten.

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