So viel bliebe uns verborgen, wenn es keine Übersetzer*innen gäbe, die uns ein Verständnis von Ideen und Gefühlen vermitteln. Wer dabei oft verborgen bleibt, sind die Übersetzenden selbst. Oder sie werden zu einer entmenschlichten Funktion im kommerziellen Kontext, deren Broterwerb heute auch noch von Maschinen bedroht wird. JÁDU-Autorin und -Übersetzerin Daryna Melashenko schreibt (auch aus eigener Erfahrung) über die Paradoxe ihres Berufs.
„Entschuldigung, ich kann bei der Veranstaltung nicht helfen, wie vereinbart. Ich fahre in eine andere Stadt, weil ein Verwandter erkrankt ist.“ Absenden. Kurz darauf erscheint eine E-Mail. „Sind Sie bei Sinnen? Wir sind das Unternehmen XYZ. Wir arbeiten nicht mit irgendwem zusammen.“ Und fünf Minuten später die nächste, ohne Gruß und Unterschrift: „Wir haben Ersatz für Sie gefunden.“Bin ich kein Mensch und nur eine Funktion für sie? Doch plötzlich poppt eine WhatsApp-Nachricht: „Hallo. Ich danke Ihnen für die Übersetzung des Gedichts. Der von Ihnen vorgeschlagene Preis von tausend Hrywen passt mir nicht. Ich möchte Ihnen dreitausend zahlen.“ Ich freue mich, und nicht wegen des Geldes. Als Übersetzerin fühle ich mich selten so wertgeschätzt.
Allerdings ist Übersetzen ein riesiges Feld. Es auch nur teilweise zu erfassen, ist selbst in einem dicken wissenschaftlichen Buch schwierig, ganz zu schweigen von einem Essay. Trotzdem werde ich es anhand meiner eigenen Erfahrungen versuchen. Seit zehn Jahren bin ich als Dolmetscherin und Übersetzerin tätig. Mein Name findet man auf den Vorsatzblättern philosophischer Bücher, in Zoom-Räumen psychologischer Seminare und unter künstlerischen Essays über den Krieg. Die Erfahrung dieser Jahre würde ich mit einem Wort beschreiben: paradox. Von diesen erstaunlichen Paradoxen werde ich erzählen.
Übersetzung ist ein weiteres Gericht im Menü des Konsumismus: Schnell, billig, anonym. Und den fertiggestellten Text kann man mit dem märchenhaften Tischlein-deck-dich vergleichen. Wenn der Tisch bereits gedeckt ist, fragt man nicht, wie und von wem.
Das Tischlein-deck-dich: Preis und Wert der Übersetzung
Ich kam in die Übersetzungsbranche, weil ich Sprachen liebte und mich für geisteswissenschaftliche Themen interessierte (Kultur, Literatur, Philosophie). Literarisches Übersetzen hat mich schon immer gereizt, doch meine ersten Texte übersetzte ich in einem ganz anderen Bereich. Als Studentin jobbte ich in einer Lüftungsfabrik, wo ich mich mit Produktpässen und technischen Begriffen abmühte. Nicht zu schwierig, nicht zu spannend. Die Bezahlung war nicht üppig, was meinem Status als Neuling entsprach.Ein Jahr verging, und ich kündigte, überließ die technischen Texte geduldigeren Kolleg*innen. Nicht nur den trockenen Inhalt, sondern auch die Poesie eines Textes zu vermitteln – das erschien mir als Gipfel der Meisterschaft. Ich wollte mich unbedingt im literarischen Übersetzen versuchen. Bald ergab sich eine Gelegenheit, und als Antwort auf meine Probearbeit kam das lang ersehnte: „Wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“ Daneben stand der Honorarsatz – wie ein Eimer kaltes Wasser auf meine Begeisterung. Er war dreimal niedriger als für technische Übersetzungen.
Später erfuhr ich, dass dies ein trauriger Trend ist, der wenig mit meiner Arbeitserfahrung zu tun hat. Unter vielen meiner Kolleg*innen herrscht die Meinung, dass man von literarischer Übersetzung allein nicht leben kann. Das ist eine Wahrheit, die ich lange nicht wahrhaben wollte. Sie ergibt sich aus den Realitäten der ukrainischen Übersetzungsbranche: Wenn man die mangelnde staatliche Unterstützung und die Nischenposition des Marktes noch irgendwie verkraften kann, lässt sich mit der geringen Kaufkraft nicht streiten. Übersetzung ist ein weiteres Gericht im Menü des Konsumismus: Schnell, billig, anonym. Und den fertiggestellten Text kann man mit dem märchenhaften Tischlein-deck-dich vergleichen. Wenn der Tisch bereits gedeckt ist, fragt man nicht, wie und von wem.
Natürlich finden sich hier und da Stipendien, Mäzene, Finanzierungen von internationalen Fonds. Trotzdem hat der Preis einer literarischen Übersetzung keine Chance, mit ihrem Wert Schritt zu halten. Die Preisbildung in der Übersetzungsbranche berücksichtigt oft nicht den tatsächlichen Arbeitsinhalt. Der Satz basiert meistens nicht auf dem ukrainischen Branchenstandard (circa 6 Euro pro Seite inklusive Leerzeichen), sondern geht von dem kommerziellen Interesse aus. Dabei wird der oder die Übersetzende selbst, seine Ausbildung, sein Wissen, sein kreatives Potenzial aus der Gleichung gestrichen. Denn „das Leben ist kein Wünsch-dir-was“. Und dennoch werden unsere Wünsche als Leserinnen und Leser von Übersetzungsgenies erfüllt, die sich still ihrer Kunst widmen. Der Kunst, die in der Ukraine immer noch nach Brot gehen muss.
Die Tarnkappe: Sich hinterm Text verstecken
Von der Unsichtbarkeit des Übersetzers hörte ich zum ersten Mal noch an der Universität. Ende der 90er Jahre schrieb der amerikanische Übersetzungstheoretiker Lawrence Venuti: „Je leichter sich eine Übersetzung liest, desto weniger denkt man an den Übersetzer“. Sein Buch The Translator’s Invisibility erschien 1995. Und wenn ich sein Zitat gut aus dem Englischen übertragen habe, habt ihr nicht einmal darüber nachgedacht, und ich wurde wieder einmal unsichtbar.In den Begriff der „Unsichtbarkeit“ legte Venuti unter anderem die Entpersönlichung des Übersetzers als Vermittler zwischen Autor und Leser. Oft sucht man vergeblich nach unseren Namen auf den Buchcovern, obwohl wir es sind, die mit unserer sorgfältigen Wortwahl die Seiten zum Leben erwecken. Ebenso fehlen sie oft in Programmen und Ankündigungen von Veranstaltungen, deren Durchführung ohne Übersetzung unmöglich wäre. Den Leser*innen ist oft egal, wer genau das Buch übersetzt hat, selbst wenn es sich um ihr Lieblingswerk handelt. Ähneln wir Übersetzer*innen nicht Geistern? Ein ganzes Pantheon unsichtbarer Wesen.
Diese erzwungene Unsichtbarkeit führt zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Übersetzer*innen, entwertet ihre berufliche Identität, beschränkt Urheberrechte, verarmt den kulturellen Austausch und bremst die professionelle Entwicklung der Branche. Wir sind überall und nirgends: Worte auf den Lippen von Millionen, aber Namen im Schatten.
Allerdings konnten selbst die ukrainischen Meister der literarischen Übersetzung Maxym Rylskyj, Mykola Lukasch und Hryhorij Kotschur der eisernen Faust des Regimes nicht entrinnen. Kotschur wurde 1930 nationalistischer Aktivitäten angeklagt, in Lager geschickt und erst nach Stalins Tod entlassen. Rylskyj war einer von vielen politischen Gefangenen im Lukjaniwka-Gefängnis in Kyjiw. Auf dem Höhepunkt der stalinistischen Repressionen 1936 musste er im Auftrag des sogenannten „Kunstkomitees“ Lobeshymnen auf den „weisen Führer“ schreiben. Mykola Lukasch stand viele Jahre unter Hausarrest, der ihm die Möglichkeit zu arbeiten nahm und ihn in drückende Armut trieb. Doch trotz aller Prüfungen half die „Tarnkappe“ der Übersetzung diesem Trio, ein Stück Würde, ihr kreatives Erbe und das Leben selbst zu bewahren.
Und wie sieht es jetzt aus? Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1990 hat sich der Bereich der Übersetzungen erheblich erweitert und sogar ein wenig an modernen europäischen Trends teilgenommen. In der Praxis sind die Änderungen aber sehr langsam. Ukrainische Verlage, die den Namen der Übersetzer*innen auf den Sockel des Covers erheben, kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Leider gibt es auch solche, die die Urheberschaft gar nicht angeben. Diese erzwungene Unsichtbarkeit führt zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Übersetzer*innen, entwertet ihre berufliche Identität, beschränkt Urheberrechte, verarmt den kulturellen Austausch und bremst die professionelle Entwicklung der Branche. Wir sind überall und nirgends: Worte auf den Lippen von Millionen, aber Namen im Schatten.
Wäre es nicht der absolute Triumph in der Geschichte der Übersetzung, wenn jede*r jede*n verstehen könnte? Wenn es eine selbstschreibende Feder gäbe, die immer die richtigen Worte findet? Aber würden wir dadurch nicht unsere Lernfähigkeit, unser Interesse am Leben und schließlich unsere Menschlichkeit verlieren, wie in der Geschichte vom Turm zu Babel?
Die selbstschreibende Feder: Die „unkünstlerische“ Arbeit der künstlichen Intelligenz
Vor nicht allzu langer Zeit tauchte eine weitere Bedrohung auf, die künstliche Intelligenz, die uns Übersetzer*innen jeden Moment Brot, Arbeit und Lebenssinn wegnehmen soll. Neuronale Netze und Sprachmodelle produzieren Übersetzungen mit unglaublicher Geschwindigkeit. Und wieder beginnen Gespräche darüber, dass Übersetzer bald überflüssig werden, wie Schreibmaschinen im Computerzeitalter. „Sie benutzen halt alle maschinelle Übersetzung. Wofür bezahle ich?“ – überlegt der Auftraggeber, während er kritisch den Kostenvoranschlag betrachtet. Doch viele Kund*innen kehren nach der ersten Begeisterung für künstliche Intelligenz enttäuscht zu „lebenden“ Übersetzer*innen zurück.Und doch beschleunigt sich die digitale Welt, und KI lernt viel schneller als der Mensch: Die Dichte der Informationsatmosphäre ist zum Ersticken! Bald werden Übersetzer*innen mit neuen Technologien wie großen multimodalen Sprachmodellen und Zero-Shot-Translation konkurrieren müssen. Selbst in einem frühen Entwicklungsstadium zeigen diese bereits überzeugende Ergebnisse. Aber solange Roboter nicht mit der Übersetzung von Witzen zurechtkommen, keine politischen Verhandlungen führen oder zweisprachige psychotherapeutische Sitzungen begleiten können, habe ich eine gewisse Ruhe bezüglich meines Fachs.
Man sollte nicht vergessen, dass künstliche Intelligenz nicht aus dem Nichts entstanden ist. Sie stützt sich auf die tausendjährige Arbeit unserer Vorgänger*innen, Tausende übersetzter Manuskripte, Millionen von Büchern und Radiosendungen, Milliarden von Videos, die der Menschheit geholfen haben, ein gewisses Verständnis zu erreichen. Dieses Verständnis ist das Substrat, auf dem heute zahlreiche Sprachmodelle wachsen. Doch in ihren Texten spüre ich immer eine Fälschung, wie auf retuschierten Fotos, bei denen etwas nicht ganz stimmt. Bei der Übersetzung ging es immer um die Stimme eines Menschen, die durch Raum und Zeit zu einem anderen dringt. Und in Texten, die von künstlicher Intelligenz übersetzt wurden, herrscht eine unheimliche Stille. Stille zwischen den Zeilen, Kulturen, zwischen Seelen. Diese Stille können auch jetzt nur Übersetzer*innen füllen.
Denkt nur: Wäre es nicht der absolute Triumph in der Geschichte der Übersetzung, wenn jede*r jede*n verstehen könnte? Wenn es eine selbstschreibende Feder gäbe, die immer die richtigen Worte findet? Aber würden wir dadurch nicht unsere Lernfähigkeit, unser Interesse am Leben und schließlich unsere Menschlichkeit verlieren, wie in der Geschichte vom Turm zu Babel? Nur die Zeit kann diese Fragen beantworten. Und heute fühle ich mich in meinem Beruf immer noch gebraucht. In erster Linie als Mensch und erst in zweiter Linie als Übersetzerin, so paradox das auch sein mag.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
März 2025