Zwischen den Bäumen des Vingis-Parks in Litauens Hauptstadt Vilnius steht Eglė Plytnikaitė – Illustratorin, Aktivistin, Waldkind. Die 34-Jährige engagiert sich ehrenamtlich bei der Ancient Woods Foundation (Sengirės fondas) und ist bis heute eine der künstlerischen Stimmen dieser Initiative, die sich dem Schutz der letzten ursprünglichen Wälder Litauens verschrieben hat. Im Interview spricht sie über Naturschutz, die aktuelle Politik ihres Landes und darüber, wie sich Künstler*innen in ganz Litauen zu einem landesweiten Protest zusammenschließen.
Warum hast du diesen Park als Treffpunkt vorgeschlagen?
Weil er etwas zeigt, das viele übersehen. Der Vingis-Park ist nicht einfach ein Stadtpark. Er ist der Rest eines der ältesten Wälder der Hauptstadt. Hier stehen die Bäume nicht in Reihe, sie sind unterschiedlich alt, unterschiedlich stark, zwischen ihnen wachsen Pilze auf Totholz.Der Park ist ein Stück lebendige Geschichte, eine Art Übergang zwischen Natur und Stadt. Er erinnert mich an den Wald meiner Kindheit und daran, warum ich überhaupt angefangen habe, mich für Wälder einzusetzen.
Wann hast du gemerkt, dass der Wald mehr für dich ist als nur ein Ort?
Als ich begriffen habe, dass der Wald, in dem ich als Kind so gern spielte, gar kein echter Wald war. Als Kind dachte ich, er sei wild – bis ich verstand, dass es eine von Menschen angelegte Forstplantage war: Alle Bäume waren gleich alt, gleich hoch. Eine Monokultur, fast ohne Vielfalt und seltene Arten.Ich erinnere mich noch gut an das Unbehagen, als mir klar wurde, dass das, was ich liebte, irgendwie falsch war. Damals begann ich zu fragen, was ein „echter“ Wald ist – und was wir verloren haben.
Eglė Plytnikaitė – Illustratorin, Aktivistin, Waldkind | Foto: © Denis Vėjas
Kam so die Idee zur Ancient Woods Foundation?
Mein Freund, der Biologe und Filmemacher Mindaugas Survila, arbeitete zur gleichen Zeit an seinem Dokumentarfilm Ancient Woods. Er wollte zeigen, dass es in Litauen noch winzige Reste fast unberührter Wälder gibt – wie winzige Inseln verstreut über das ganze Land.Als der Dokumentarfilm ein großer Erfolg wurde, wollte Mindaugas etwas schaffen, das über den Film hinaus Bestand hat. Er spendete die Hälfte seiner Einnahmen, um ein Stück unberührten Wald zu kaufen. Bald fanden sich Unterstützer*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammen. So entstand die Ancient Woods Foundation.
Die Ancient Woods Foundation war die erste Organisation in Litauen, die Land kaufte, um es einfach sich selbst zu überlassen. Wie war das rechtlich überhaupt möglich?
Das war anfangs das Schwierigste. Wir wollten Land kaufen, es schützen und in Ruhe lassen, aber im litauischen Recht gab es dafür kein klares Modell.Unter den Menschen, die sich von Anfang an in der Stiftung engagiert haben, war auch eine Anwältin, die ehrenamtlich den rechtlichen Rahmen entwickelt hat. Im Statut der Stiftung wurde festgelegt, dass diese Wälder niemals abgeholzt oder wirtschaftlich genutzt werden dürfen.
Das war ein Präzedenzfall, denn das litauische Forstrecht war im Grunde für die Holzindustrie geschrieben. Die Juristin fand einen Weg innerhalb des bestehenden Systems. Heute gilt die Stiftung als Beispiel dafür, wie man den Schutz des Waldes selbst in einem wirtschaftlich geprägten Rechtsrahmen verankern kann.
Dank dieser Struktur können auch Privatpersonen ihre Wälder oder Grundstücke an die Stiftung überschreiben. Viele ältere Menschen spenden ihr Land, mit der Gewissheit, dass es weit über ihr eigenes Leben hinaus geschützt bleibt.
Wie genau arbeitet die Ancient Woods Foundation?
Die Stiftung kauft Wald, um ihn einfach in Ruhe zu lassen: Keine Pflege, keine Jagd, keine Eingriffe – nur Natur, wie sie ist.Ein Team aus Wissenschaftler*innen und Freiwilligen sucht im ganzen Land nach Resten ursprünglicher Wälder. Oft sind sie nur wenige Hektar groß, manchmal versteckt zwischen Forstplantagen oder Feldern. Aus verschiedenen Gründen wurden sie nie abgeholzt.
Leider sind Wälder, die noch nie gerodet wurden, extrem selten. Deshalb kauft die Stiftung auch Flächen, die nur wenig vom Menschen beeinflusst sind, aber großes ökologisches Potenzial haben: Orte mit seltenen Lebensräumen oder hoher Artenvielfalt.
Es geht nicht nur um die letzten Urwälder, sondern auch um jene, die die Chance haben, wieder zu gesunden Wäldern zu werden – wenn man sie schützt. Die Natur bekommt die Möglichkeit, sich selbst zu regenerieren.
Eglė Plytnikaitė | Foto: © Denis Vėjas
Du und dein Mann habt mit einer Gruppe lokaler Fachleute eine neue Organisation gegründet – die Dainava Nature Foundation. Worin unterscheidet sie sich von der Ancient Woods Foundation?
Die Ancient Woods Foundation ist groß und landesweit aktiv. Die Orte, die sie schützt, liegen oft weit entfernt, und manchmal fehlt die persönliche Bindung. Wir wollten etwas schaffen, das näher an unserem eigenen Leben ist – in der Region Dainava, aus der ich komme und in der wir beide bis heute viel Zeit verbringen. Dort, im Süden Litauens, standen einst die größten Wälder des Landes. Viele unserer alten Mythen sind dort entstanden.So entstand 2024 die Dainava Nature Foundation. Mit dieser Stiftung wollen wir nicht nur Wälder schützen, sondern auch andere Ökosysteme – Moore, Wiesen, Feuchtgebiete. Je mehr ich über Natur gelernt habe, desto klarer wurde mir: Wenn du den Wald retten willst, musst du auch den Boden, das Wasser und die offenen Flächen schützen. Alles hängt zusammen.
Unsere Stiftung ist klein, lokal und privat finanziert. Es geht nicht um Größe, sondern um Nähe. Wir wollen zeigen, dass Naturschutz nichts Abstraktes ist – er beginnt dort, wo man lebt.
Du bist Illustratorin. Welche Rolle spielt Kunst in deinem Engagement für die Natur?
Ich habe das nie getrennt. Für mich ist Kunst eine Sprache, mit der man Dinge sagen kann, die Wissenschaft allein nicht auszudrücken vermag. Die Biolog*innen, Mykolog*innen, Ornitholog*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, sprechen in Zahlen. Aber Menschen fühlen Zahlen nicht. Kunst kann diese Lücke füllen. Ich mache Wissen spürbar.Wie setzt du das praktisch um?
Zum Beispiel habe ich gemeinsam mit Agnė Stirnė und Oskaras Stirna eine Installation aus getrockneten Pflanzen des Sosnowskyi-Bärenklau gemacht – einer invasiven Art, die in der Sowjetzeit nach Litauen gebracht wurde. Diese Pflanze ist riesig, giftig und in ihrer Verbreitung kaum aufzuhalten. Wir haben sie über die Köpfe der Besucher*innen gehängt, als Symbol für das, was von der sowjetischen Zeit geblieben ist – etwas, das weiterwächst, auch wenn man glaubt, es sei längst vorbei: Das Imperium ist gefallen – aber seine Schatten hängen noch über uns.Gleichzeitig wollen wir damit auf die verheerenden Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Natur in der Ukraine aufmerksam machen und auf die langfristigen Folgen der Umweltzerstörung in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten.
Solche Arbeiten sind meine Art, über Verantwortung zu sprechen. Ich will, dass Menschen spüren, wie alles zusammenhängt – Natur, Geschichte, Gesellschaft.
Eglė Plytnikaitė zeigt ihre Illustration zum Lebenszyklus von Bäumen. | Foto: © Ulrike Butmaloiu
Du engagierst dich auch politisch. Warum?
Weil ich das Privileg habe, in einem freien, demokratischen Land geboren zu sein. Dieses Privileg bedeutet Verantwortung – dafür zu sorgen, dass Litauen gedeiht und nie wieder zerstört wird, wie so oft in seiner Geschichte.Gerade jetzt stehen Kultur und Umwelt in Litauen unter Druck: Die populistische Partei Nemuno Aušra [etwa: Morgenröte von Nemunas – Nẽmunas ist der litauische Name des Flusses Memel, Anm. d. Red.] hat sowohl das Umwelt- als auch das Kultusministerium übernommen. Diese beiden Bereiche prägen unsere Identität, sie halten unsere Gesellschaft zusammen. Wenn wir sie den Falschen überlassen, verlieren wir etwas, das sich nicht so leicht zurückholen lässt.
Was hast du auf diese Nachricht reagiert?
Ich war schockiert. Die beiden Themen, die mir am meisten bedeuten – Kultur und Umwelt – lagen plötzlich in den Händen einer Partei, die mit diesen Werten nichts zu tun hat. Aber mich hat beeindruckt, wie schnell sich der Kultursektor zusammengeschlossen hat.Überall im Land begannen Künstler*innen, eine große Protestaktion vorzubereiten. Jede*r konnte mitmachen – mit Performances, Gesang, Tanz oder visueller Kunst. Gemeinsam mit anderen Illustrator*innen gestaltete ich Plakate. Der litauische Illustrator*innenverband EEE stellte eine offene Online-Plattform bereit, auf der man die Plakate herunterladen, ausdrucken und überall aufhängen konnte – in Städten, Dörfern, Fenstern, Bushaltestellen.
Es war ein leiser, aber kraftvoller Protest. Wir wollten zeigen, dass Kultur nicht nur in Theatern oder Museen lebt, sondern überall dort, wo Menschen Haltung zeigen.
Wenn du auf all das blickst – die Stiftungen, deine Kunst, dein Engagement – was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Menschen aufhören, sich als Eigentümer*innen dieses Planeten zu sehen und dass sie begreifen, dass wir ihn mit unzähligen anderen Lebensformen teilen.Ich wünsche mir, dass wir aufhören, Wälder als Holzreserven zu betrachten, und verstehen, dass nicht alles in wirtschaftlichen Werten messbar ist. Wenn wir Lebensräume zerstören, zerstören wir die Artenvielfalt – und damit uns selbst.
Ich hoffe, wir halten inne, bevor es zu spät ist. Aber dafür brauchen wir mehr Menschen, die sich für den Naturschutz einsetzen, Veränderungen von der Politik fordern und selbst kleine Schritte tun, um das zu bewahren, was ihnen wichtig ist.
Ich denke daran, dass die Wälder, die wir heute schützen, in 200 Jahren voller Leben sein werden. Ich werde längst nicht mehr da sein – aber diese kleinen Stücke Erde werden gedeihen. Und es gibt nichts Schöneres als diesen Gedanken.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
November 2025