Neuverfilmung des Kultbuchs  Heroinchic vom Bahnhof Zoo

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo Foto: © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates

Amazon Prime auf der Suche nach Stoff: Der Streamingdienst hat Christiane F.s Drogenbericht „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ aus dem Jahre 1978 als achtteilige Serie neu verfilmt. Eine Verfilmung, die vor allem eine Frage aufwirft: Wozu das Ganze?

In der ersten Szene ist der Innenraum eines Privatflugzeugs zu sehen, das auf die Wolkentürme eines Sturms zusteuert. Während an Bord eine kleine Party stattfindet, wird der Flieger durchgerüttelt. Grund zur Panik gibt es aber nicht: „Keine Angst, wir stürzen nicht ab“, sagt eine junge Frau zu ihrem Mitpassagier, während sie entspannt an ihrer Zigarette zieht. „Ich bin unsterblich.“

Disco und Drogen

Die junge Frau, die diesen markigen Spruch raushaut, ist Christiane F. (Jana McKinnon) im Alter von Mitte zwanzig, der andere Passagier David Bowie (mit nur sehr geringer Ähnlichkeit: Alexander Scheer). Bevor wir erfahren, wie Christiane in den Privatjet von Bowie gekommen ist und was sie da macht, werden die Zuschauer*innen zehn Jahre in ihre Vergangenheit versetzt – zurück in die siebziger Jahre.
 
1978 erscheint das Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, das die Geschichte der damals sechzehnjährigen Christiane erzählt. Die Biografie schlug ein wie eine Bombe, stand jahrelang auf der Bestsellerliste des Spiegel, wurde in mehr als 15 Sprachen übersetzt und 1981 von Ulrich Edel und Bernd Eichinger verfilmt. Jetzt, vierzig Jahre später, gibt es bei Amazon Prime eine Neuadaption von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Anders als der zweistündige Spielfilm nimmt sich die Serie mit acht Folgen Zeit, um die Geschichte von Christiane und ihrer Clique ausführlich zu erzählen.
 
Die Eckdaten von Christiane F.s Leben sind bekannt: Im Alter von 13 probiert sie das erste Mal Heroin, mit 14 ist sie abhängig und prostituiert sich auf dem Kinderstrich vom Bahnhof Zoo in Westberlin. Das ist schon der erste Knackpunkt der Amazon-Prime-Serie: Darstellerin Jana McKinnon erinnert vom Look her Zooey Deschanel in Netzstrümpfen und Stiefeln und spielt ihre Figur zwar sehr überzeugend, ist aber Jahrgang 1999 und sieht auch so aus – die präpubertäre Christiane nimmt man ihr bei aller Schauspielleistung nicht ab, sie wirkt erwachsen, wodurch der drastischen Geschichte ein Teil ihrer Brisanz abhandenkommt.
 
Christianes Freund*innen in der Serie sind der verträumte Axel (Jeremias Meyer), der gerade eine Ausbildung macht und sich von der Stasi verfolgt fühlt, die draufgängerische wie charismatische Stella (Lena Urzendowsky), die sich um ihre kleinen Geschwister kümmern muss, weil ihre Mutter, eine Alkoholikerin, unzuverlässig ist, und Babsi (Lea Drinda) mit den Rehaugen, die aus der Westberliner Schickeria stammt. Komplettiert wird die Clique durch Michi (Bruno Alexander), einem Sid-Vicious-Verschnitt, der mit seiner Homosexualität hadert, und Benno (Michelangelo Fortuzzi), Christianes erster Liebe. Sie treffen sich regelmäßig in der in den Siebzigern so legendären Disco Sound im Bezirk Tiergarten. Dort kommt Christiane erstmals mit Drogen in Berührung, was darin gipfelt, dass sie und ihre Freund*innen am Ende der ersten Folge zum Song Everybody’s Free über den Körpern der anderen Tanzenden schweben.
 
  • Christiane F. (Jana McKinnon) © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates
  • Szene aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates
  • Szene aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates
  • Szene aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates
  • Szene aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates
  • Szene aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates
  • Szene aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ © 2021 Amazon.com, Inc. or its affiliates

Effekthascherei durch Kitsch

Überhaupt, die Bilder: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo schreckt vor Kitsch nicht zurück, im Gegenteil. Da wird nicht nur in der Disco geflogen, sondern auch mit der Clique in einem Kettenkarussell ein Jung-und-frei-Gefühl evoziert, oder sich ein auf die Wand gemalter Tannenbaum in der Jungs-WG als echten Weihnachtsbaum mit Kerzen und Geschenken vorgestellt. Der Gipfel des surrealen Kitschs aber ist die einsame Träne, die einem papierenem David Bowie auf einem Konzertplakat über das Gesicht läuft. Und nicht nur die Szenerie ist übertrieben, auch bei Kontrast und Farbsättigung der Bilder wurde der Regler kräftig hochgedreht. Das soll kunstvoll sein, wirkt aber nur künstlich und kreiert dadurch eine Distanz zwischen den Figuren und Zuschauer*innen.
 
Die Drogenszenen kennen ebenfalls keine Zurückhaltung. Der erste Konsum von Heroin, der in der Serie gezeigt wird, erinnert stark an die legendäre Einstellung aus Trainspotting, in der Renton in den roten Teppich einsinkt, während hier Axel auf seinem roten Teppich liegenbleibt und die Kamera rauszoomt. Babsi wiederum taucht in ihrem Heroinrausch in dunkles Wasser ab, eine Szene irgendwo zwischen Rentons Toilettentauchgang und den Unterwasserszenen in Shape of Water. Die Krönung aber ist Christianes erster Heroinkonsum: Sie hat es irgendwie in den Backstagebereich von David Bowie geschafft (?), wo sie ganz alleine ist (??) und ihr, zumindest in ihrer Vision, eine Figur mit Tiergesicht und schwarzer Kutte den ersten Schuss setzt (???). Diese Bilder sind wie die ganze Serie: too much.

Berlin-Mitte-Style

Die gesamte Ästhetik ist übertrieben, nicht nur die Szenenbilder, sondern auch die Kleidung der sechs Freund*innen und die hippe Musik, die sehr präsent in der Serie ist. Man merkt dieser Neuverfilmung an, dass sie sich um den Spagat bemüht zwischen Christiane F.s Leben in den siebziger Jahren (was zum Beispiel den technologischen Stand betrifft) und einer modernen Version, die junge Millennials anspricht. Der Soundtrack bekommt das gut hin: Statt nur auf Nostalgie der siebziger und achtziger Jahre zu setzen, laufen neben wenigen David-Bowie-Songs und einigen Covern seiner Lieder viele neue Songs (vor allem von Robot Koch) sowie Cover von etwa Sia oder Bloc Party.
 
Vom Soundtrack abgesehen gelingt die Fusion der siebziger und 2020er eher schlecht. Die Schauspieler*innen sind allesamt normschön sind und laufen in so coolen Klamotten rum, als seien sie aus einem Start-up in Berlin-Mitte entsprungen, was nicht gerade zur Authentizität beiträgt und in all seiner Stylishness nur sehr knapp an der Glorifizierung des Drogenkonsums vorbeischrappt – obwohl wiederum der langsame, aber unaufhaltsame Abrutsch der Clique in die Abhängigkeit realistisch erzählt wird.
 
Schade, dass man bei Wir Kinder vom Bahnhof Zoo den Spruch „Weniger ist manchmal mehr“ offensichtlich nicht kennt. Dabei ist die Serie dann am stärksten, wenn sie am wenigsten will. So zum Beispiel die Zeit, die Christiane bei ihren Großeltern auf dem Land verbringt, und die ohne großes Drama auskommt, dafür umso authentischer und naher wirkt. Und gerade zwischen Christiane und Benno gibt es einige erstaunlich zarte Szenen, die ohne große Effekthascherei auskommen und darauf verzichten, auf Teufel komm raus Emotionen aus den Zuschauer*innen pressen zu wollen. Dass diese Momente so stark sind, liegt nicht zuletzt an Jana McKinnon und Michelangelo Fortuzzi, die ihre Figuren mit Rauheit und Verletzlichkeit zugleich darstellen.

Vergewaltigung als narratives Element

Doch auch die sechs starken Schauspieler*innen können die zumeist schablonenartig gezeichneten Charaktere nicht retten. Die Amazon-Prime-Serie hat den Anspruch, nicht nur Christianes Biografie, sondern auch die ihrer Freund*innen zu beleuchten, aber das gelingt nur bis zu einem gewissen Grad. Während Stella und Axel noch halbwegs Backgroundstory haben, ist Babsis Rolle hochgradig unterkomplex – sie ist die ungeliebte Tochter aus reichem Elternhaus, mehr nicht –, Benno der mit Nazi-Vater, von Michi erfahren wir so gut wie gar nichts.
 
Und dann gibt es einige Szenen und narrative Elemente, die in einer so aufwändig produzierten Serie im Jahr 2021 vielleicht nicht mehr vorkommen sollten. Zum Beispiel wird eine der weiblichen Figuren vergewaltigt. Doch anstatt ihr Trauma und ihre Bewältigung dieses schrecklichen Ereignisses darzustellen, dient dies nur der Vertiefung ihres Konflikts mit der Mutter. Die Vergewaltigung selbst wird fern des Streits fast gar nicht mehr thematisiert, scheint egal zu sein. Es sollte endlich passé sein, fiktiven Frauen qua erlittenem sexuellen Trauma mehr charakterliche Tiefe verleihen zu wollen.

Die Serie liefert keine neuen Erkenntnisse

Bei der ganzen Serie drängt sich die Frage auf: Wozu diese Neuverfilmung? 25 Millionen Euro soll sie gekostet haben (immerhin baute man in Prag, dem zweiten Drehort neben Berlin, Bahnhof Zoo als Kulisse nach) – aber war es das wert? Neuerkenntnis gibt es keine. Schaut man sich im Vergleich dazu die vierzig Jahre alte Verfilmung an mit Natja Brunckhorst als Christiane, drängt sich die Frage umso mehr auf. Natja Brunckhorst, während den Dreharbeiten 13 beziehungsweise 14 Jahre alt, wirkt sehr viel näher an der echten Christiane F. als die sechs Schauspieler*innen, sie alle zwischen 1999 und 2001 geboren wurden. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo aus dem Jahre 1981 ist nicht hochpoliert und stylisch, sondern schmuddelig und dadurch authentischer; der Hintergrund ist karg und nicht voller verspielter Details samt Afri-Cola-Plakaten und wirkt dadurch nicht wie eine Kulisse. Die Low-Budget-Produktion mit Handkamera vermittelt den Anschein einer Dokumentation und berührt ihre Zuschauer*innen dadurch weitaus mehr, als es die teure Neuverfilmung je könnte.
 
Was also will uns die Amazon-Prime-Serie sagen? 25 Jahre nach Trainspotting, dem bekanntesten und radikalsten Heroinfilm aller Zeiten, traut sich diese Verfilmung rein gar nichts. Zu allem Überfluss gibt es noch eine Storyline um einen DJ, in den Babsi verliebt ist, der in einem Fetischclub arbeitet und hin und wieder als eine Art Sensenmann fungiert. Dieses Suspense-Element hat herzlich wenige Überschneidungen mit der restlichen Handlung und wirkt wie ein Fremdkörper in der Serie. Genauso wenig, wie die Eingangsszene, in der Christiane mit David Bowie in seinem Privatflieger ist, nochmal aufgegriffen wird. Was soll da vermittelt werden: Christiane hat’s geschafft, Heroinabhängigkeit muss also nicht zwangsläufig schrecklich sein? Oder – oh Graus! – bereitet man mit der Thrillerstoryline um den DJ-Sensenmann und der Bekanntschaft von Christiane und Bowie gar eine zweite Staffel vor?

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