Konsumrausch  Gönn’ dir!

Konsumrausch Foto: Jon Tyson via unsplash | CC0 1.0

Wir umgeben uns mit immer mehr Dingen, die wir irgendwann mal für nützlich oder hübsch hielten. Irgendwann hilft nur noch, radikal auszumisten oder wir besorgen einen neuen Schrank, damit wir noch mehr Zeug kaufen können. Warum glauben wir, dass der Konsum uns glücklich macht?

Petri ist 26, als sich seine Freundin von ihm trennt. Sinnsuchend schaut er sich in seiner Wohnung um und beschließt: Jetzt muss sich etwas ändern. Der junge Finne stopft seinen gesamten Besitz in einen Lagerraum. Zu Beginn seines Experiments sitzt er nackt in seiner leeren Wohnung – kein Bett, keine Klamotten, keine Gabel, kein Klopapier. Sein radikaler Deal mit sich selbst: Ein Jahr lang darf er jeden Tag nur einen einzigen Gegenstand zurückholen. Der Regisseur Petri Luukkainen hat mit dem Dokumentarfilm My Stuff 2015 einen Film über seinen überbordenden Konsum gedreht und sich die Frage gestellt: Was brauche ich wirklich?
 


So wie Luukkainen geht es vielen Menschen im globalen Norden. Unabhängig davon, wie viel sie tatsächlich verdienen, wird immer mehr konsumiert – und vieles, was im echten oder virtuellen Einkaufswagen landet, hat sich längst von unseren Bedürfnissen gelöst. Shopping ist ein Hobby und in den sozialen Medien ein eigenständiges Genre. Wir können Menschen dabei zugucken, wie sie auf exzessiven Einkaufstouren massig Geld auf den Kopf hauen. Für manche bedeuten diese Dinge nur kurzes Glück, einige verlieren regelrecht den Überblick über das, was sie besitzen und wirklich brauchen und manche kippen ab irgendeinem Punkt auch ins Zwanghafte und werden von ihrem Besitz erdrückt.
 
Wer an diesem Punkt ist, sollte mit Rita Schilke sprechen: „Stellen Sie sich mal vor, das brennt jetzt hier alles ab“, sagt die Berlinerin. Seit zehn Jahren ist sie als Aufräum- und Ordnungscoach tätig und hilft Menschen beim Sortieren ihres Besitzes und beim Ausmisten. „Was ist denn dann?“ Schilke zieht scharf die Luft ein und sagt: „Eigentlich gar nichts . Das sind nur Dinge. Einfach Dinge.“ Die Ordnungsberaterin hat viele Jahre in der psychiatrischen Pflege gearbeitet. Freundlich, aber bestimmt dirigiert sie heute Aufräumwillige: „Ich bin ein resoluter Mensch“, so der Coach. „Es gibt Leute, die reden und reden. Wenn ich komme, fange ich sofort mit der Arbeit an und bin immer viel zu schnell.“ Manchmal bliebe da nicht einmal Zeit für ein Vorher-Nachher-Foto.
 
Anfangs dachte Schilke, sie könne vor allem Menschen helfen, die nach dem Tod von Partner*in oder Verwandten mit deren übriggebliebenem Besitz überfordert seien. Bald zeigte sich: Wenn jemand stirbt, dann wird meist komplett entrümpelt. Eine Putzkraft oder Haushälterin ist Schilke aber auch nicht. Ihr Berufsfeld war in Deutschland noch ziemlich neu. „Durch Marie Kondo ist das Thema dann explodiert“, so die 57-Jährige. 2013 erschienen die Bücher der japanischen Aufräumberaterin Kondo erstmals auf Deutsch, 2019 zeigte Netflix die Serie Aufräumen mit Marie Kondo, die einen regelrechten Hype um Kondos Methoden und das Ausmisten auslöste.
 

Das Besondere an Kondo ist nicht nur der systematische Zugang und die Aufwertung von Hausarbeit. Vielmehr brachte die Japanerin westlichen Kund*innen auch Aspekte des Shintoismus und Animismus näher: Sie sollten sich bei abgelegten Dingen bedanken und von ihnen verabschieden. Kondos Arbeit ist mittlerweile zu einem Business-Imperium mit Workshops und Weiterbildungen geworden – eine Entwicklung, die Schilke auch am wachsenden Wettbewerb in ihrer Branche spürt.

„Das ist Ballast in der Seele“

Ihre Klient*innen sind ganz unterschiedlich – manche sind Stammkund*innen, die sie alle paar Monate besucht, meist für ein größeres Projekt wie ein Haus oder überbordende Papierberge aus Rechnungen und Aktenordnern. Einige Kund*innen entpuppten sich auch als Messies und wiederum andere buchen sie nur ein einziges Mal. Manche bräuchten grundlegende Unterstützung: „Ich habe Kunden, die sind Mitte Dreißig und die sagen mir ganz klar: Ich habe Aufräumen nie gelernt“, so Schilke. In einigen Fällen sei das eine Frage der Erziehung, denn wer als Kind in einem Haushalt mit Personal und Nanny aufwächst, ist als Erwachsener möglicherweise weniger selbstständig. Hinzu kämen auch Stress im Job und Familie – zu Hause läge dann einfach das Chaos rum: „Das ist Ballast in der Seele“, sagt die Beraterin. „Den nehmen wir jeden Tag mit ins Bett und stehen damit auch wieder auf.“ Man käme erschöpft nach Hause und da läge immer noch die unerledigte Hausarbeit, jener Haufen, „den man noch machen müsste“, meint Schilke. Es sei ein frustrierender Kreislauf, den man durchbrechen müsse.

Aufräumcoach Rita Schilke Rita Schilke ist seit zehn Jahren als Aufräum- und Ordnungscoach tätig. | Foto: © Angelika Jürgens Warum aber haben wir überhaupt so viel Zeug, das sich bei uns anhäuft? „Wenn nur jeder wirklich das kaufen würde, was er unbedingt benötigt, dann hätten der Handel oder Unternehmen Schwierigkeiten“, sagt Gerhard Raab. Er ist Professor für Marketing und Wirtschaftspsychologie an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema Konsum. „Der Konsum hat in den letzten Jahrzehnten eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren und für viele Konsumenten ist damit zunehmend die Maxime verbunden: Ich kaufe, also bin ich", so Raab. Prinzipiell sei es aber erst einmal gut, dass die Menschen hierzulande materiellen Wohlstand genießen können. Aber: Es werde immer mehr konsumiert, auch auf Kosten der Umwelt und jener, die die Konsumgüter produzieren. Für viele bedeute vor allem Markenware immer noch eine Selbstaufwertung und Selbstdarstellung, so der Marketingexperte – und dieses Bedürfnis existiere unabhängig vom Einkommen: „Konsum und das Besitzen von bestimmten Markenprodukten ist gesellschaftsübergreifend ein Thema.“

Der Konsum inszeniert sich selbst

Doch geht es beim Konsum heutzutage längst nicht mehr nur um kostspielige Prestigeobjekte wie Autos oder Handtaschen. Konsum hat sich vielmehr von dem entkoppelt, was wir denken, was wir brauchen: „Konsum ist Abbild und Voraussetzung sozialer Teilhabe und ist stark symbolisch überhöht. Kaufen symbolisiert Belohnung, Größe, Selbstständigkeit, Fülle und Sicherheit“, schrieb Gerhard Raab 2004. Der Konsum früherer Generationen wirkt da schon fast antiquiert: Wer eine neue Hose brauchte, ging in die nächste Boutique, beim Waschmittel ließ man sich ab und zu von der Werbung verführen und beim Autokauf setzte man auf eine Prestigemarke. Es gab weniger, das oft kostspieliger oder nur zeitweise verfügbar war. Der Aufstieg des Onlinehandels Ende der 90er Jahre aber machte es dann möglich, zu jeder Uhrzeit jedes Produkt auf der Welt zu kaufen. Eine solche Dynamik befeuert auch die Warenproduktion, immer mehr wird immer billiger produziert, vor allem in Asien. Das Label „Made in China“ – einst Symbol für geringe Qualität – wandelte sich sogar mit den Jahren zur massentauglichen Konsummarke. Vieles, was einst eher teuer war – Kleidung oder Elektronik – wurde dadurch so billig, dass es nach dem Kauf in Schränken einstaubte oder schließlich unbenutzt weggeschmissen wurde.

Der Konsumdruck nimmt also auch durch die schiere Masse verfügbarer Güter zu. Handel und Online-Plattformen locken zusätzlich mit immer häufigeren Rabatten, kostenlosem Versand und Aktionstagen wie dem Black Friday oder saisonalen Angeboten. Das Marketing setzt auf persönliche Beziehungen zu Stars oder Influencer*innen sowie einfachste Impulse: Kauf’ das! Nimm’ das! Gönn’ dir! Die erwünschte Kaufstimmung ist euphorisch, getrieben, ja geradezu kindhaft. Bisweilen reicht es, die „korrekten“ Marken einfach nur noch pompös abzubilden: Das Designer-Outfit ist geliehen, die Limousine gemietet und die Rolex ein gut nachgemachter Fake. Der Konsum inszeniert sich selbst zunehmend als Erlebnis, als Aktivität, sogar als Identität, die nur noch sehr wenig mit der Frage zu tun hat: Was brauche ich eigentlich?
 
 

Kaufen oder nicht Kaufen, das ist die Frage

Einige verlieren den Halt im Shopping-Rausch und kippen in eine regelrechte „Kaufsucht“, wie pathologisches Kaufverhalten umgangssprachlich genannt wird. Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass rund 600.000 bis 800.000 Menschen in Deutschland kaufsüchtig sind – und die gleiche Anzahl gefährdet ist, in eine Kaufsucht abzurutschen. Raab vergleicht Kaufsucht gar mit Glücksspiel: „[Manche Leute] erfahren unmittelbare Befriedigung oder Zufriedenheit im Moment des Spielens oder des Kaufens. Sie können sich da was aussuchen, sie sind da in so einer Traumwelt, in so einer Fantasiewelt“, so der Professor. „Die ist spannend, und Sie können Entscheidungen treffen und Sie können sich was gönnen.“ Dabei sei es nicht mehr wichtig, ob man sich die Anschaffung nach einer stundenlangen Scroll-Orgie überhaupt leisten könne – Kreditkarten oder geliehenes Geld ermöglichten den schnellen Kauf. Raab wünscht sich deshalb auch eine „verstärkte Förderung der Konsumkompetenz“, damit Menschen selbstbestimmter ihre Entscheidungen treffen können.
 
Bei der Vermittlung einer solchen Kompetenz seien auch die Schulen gefordert und eine grundsätzliche Verantwortung des oder der Einzelnen: „Wenn wir als Verbraucherinnen und Verbraucher uns bewusst entscheiden, dann werden sich auch die Unternehmen anpassen“, so der Wissenschaftler. Aber auch Politik und Unternehmen müssten ihren Teil beitragen – zum Beispiel mit mehr Transparenz, wie und von wem unsere Konsumgüter hergestellt werden.
 
Aufräumberaterin Schilke wiederum ist nicht nur großer Tiny House-Fan, sondern vermeidet vor allem Impulskäufe durch Disziplin: Statt etwas sofort zu kaufen, lässt sie Waren zurücklegen und will sie am nächsten Tag meist auch gar nicht mehr haben. Das Geld investiert sie lieber in einen Kurzurlaub.
 
Der Blick auf die politische und moralische Rolle der Käufer*innen ist beim Thema Konsum richtig. Dies darf aber Politiker*innen nicht von ihrer Verantwortung entbinden. Ebensowenig dürfen wir eine Lösung nicht auf die vage Hoffnung abwälzen, der technologische Fortschritt könnte uns eine Zukunft ohne Verzicht ermöglichen. Durchsetzen müssten sich neben Konsumkompetenz mehr Wertschätzung für die Waren und deren Langlebigkeit sowie Routinen, wie wir uns der Dinge entledigen, die wir nicht mehr wollen, brauchen oder die kaputt sind. Man muss dabei nicht gleich so radikal ansetzen wie Luukkainen, der sich jeden Tag überlegen musste, was er aus seinem Haufen an Zeug wirklich mitnimmt, um ein zivilisiertes Leben zu führen. Doch klar ist: Unser Konsumverhalten braucht Alternativen, damit wir nicht auf Kosten anderer und der Umwelt in unserem Kram schlichtweg ersticken

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