Auch politische und historische Faktoren prägen unser Verhältnis zum Essen. Wie hängt ein globales Phänomen wie der Heroin Chic mit dem Erbe des Holodomor und der sowjetischen Kontrolle zusammen? Wie beeinflussen historische Traumata das Verhältnis junger Frauen zum Essen und zu ihrem Gewicht bis heute? Ein Essay der ukrainisch-slowakischen Dichterin Anna Siedykh.
In letzter Zeit kommen bei mir wieder alte Erinnerungen hoch, die ich tief in meinem Gedächtnis vergraben hatte. Sie tauchen bei den alltäglichsten Dingen auf: wenn ich meinen Kleiderschrank durchsuche und die Hose der vergangenen Saison anziehe, wenn ich im Laden ein Kleid anprobiere, das mir wirklich gefällt, wenn ich Sport mache oder Essen bestelle. Diese Erinnerungen tauchen in letzter Zeit immer häufiger auf, verunsichern mich und zwingen mich dazu, mich intensiver mit meinem ungesunden Verhältnis zum Essen auseinanderzusetzen, aber auch über die damit zusammenhängenden politischen Einflüsse nachzudenken.Heroin Chic wieder in Mode
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment, als meine Klassenkameradin zum ersten Mal ein damals sehr populäres, verschreibungspflichtiges Antidepressivum mit in die Schule brachte. Die kleinen gelben Pillen versprachen, unseren Appetit zu zügeln. Sie trug sie in einer kleinen runden Bonbondose bei sich, damit ihre Mutter sie nicht finden konnte. Wir waren damals 14 Jahre alt. Der Heroin Chic war zu dieser Zeit wieder populär. Eine müde, aber schöne Kate Moss schaute uns von den Bildschirmen unserer Handys und Computer an; Mädchen mit Augenringen, dünn bis auf die Knochen, mit eingefallenen Wangen und Zigaretten kamen uns göttlich vor. Wir luden ihre Fotos herunter und schickten sie uns gegenseitig. Wir tauschten Artikel aus über verschiedene Diäten und Kräuter, die den Hunger zügeln und Erbrechen auslösen sollten. Wir führten Tagebücher, in denen wir aufschrieben, wie viel Zeit wir ohne Essen verbrachten. Wir versuchten es mit Zigaretten, weil sie den Hunger vertrieben. Wir, das waren hunderte: in der Schule, in unseren Nachbarstädten, im Internet. Ich wog mich jeden Tag. Mit 15 geriet ich jedes Mal in Panik, wenn ich mehr als 40 Kilogramm wog. Und ich zwang mich dazu, den ganzen Tag nichts zu essen, bis ich nach der Vier nicht endlich die glatte Null auf der Waage sah.In meiner Familie fand das keine sonderliche Beachtung. Ich ging schon als Kind zum Tanzen und Turnen und war immer schlank. Alle um mich herum hatten sich daran gewöhnt, dass ich dünner war als andere. Und ich hatte das Gefühl, sie zu enttäuschen, wenn ich zunahm. Vor allem meine Turnlehrerin, die uns Mädchen immer auf den Bauch klatschte, wenn dieser auch nur ein bisschen hervorragte. Schlank zu sein bedeutete schön zu sein. Markante Wangenknochen und Schlüsselbeine waren das Symbol für Erfolg. Und der allergrößte Erfolg für eine Vierzehnjährige war, wenn man seinen Oberschenkel mit Mittelfinger und Daumen umfassen konnte.
Wir versteckten uns hinter unserem Gewicht wie hinter einem Schutzschild – vor Einsamkeit und davor, nicht verstanden zu werden, manche von uns vor Gewalt zu Hause, manche vor Problemen in der Schule oder vor der ersten Liebe. Als wir merkten, wie schwer es war, das Leben unter Kontrolle zu bekommen, begannen wir, wenigstens unser eigenes Gewicht unter Kontrolle zu kriegen, indem wir radikal auf Nahrung verzichteten. Wenn wir aber gar nicht wussten, wo wir uns vor Ungerechtigkeit und Grausamkeit verstecken sollten, flüchteten wir auch ins andere Extrem: Wir aßen übermäßig Süßigkeiten, die wir unter unseren Kopfkissen versteckten, damit niemand sie finden konnte.
Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie ich das ohne ernsthafte Folgen überstanden habe. Ich sah, wie liebe Menschen um mich herum sich selbst verletzten, wie sie vor Hunger zusammenbrachen, wie ihre Haare ausfielen und wie sich ihre Nägel ablösten. Viele von uns haben sich nie von dieser Zeit erholt. Unter all meinen engen Freundinnen gibt es keine einzige, die nicht irgendwann einmal ein toxisches Verhältnis zum Essen hatte.
Selbst nach Therapien kommt mir manchmal der Gedanke: Vielleicht solltest du heute das Mittagessen ausfallen lassen? Ich habe immer noch ab und zu einen Anflug von Schuldgefühl, wenn ich kalorienreiche, ungesunde Speisen oder Süßigkeiten esse, obwohl ich weiß, dass es nicht das Ende der Welt ist.
Ich suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das so ist – warum so viele Mädchen ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sie immer noch machen. Es ist zweifellos ein globales Phänomen, verstärkt durch soziale Medien, die das wundersame und zugleich gefährliche Ozempic als einfache Lösung zum Abnehmen anbieten und zu Dysmorphophobie, also zu einer ungesunden Wahrnehmung des eigenen Aussehens, beitragen. In meiner Region gibt es jedoch auch eine mögliche politische Erklärung für dieses Phänomen. Ich gehöre wohl zur ersten Generation, die in der unabhängigen Ukraine geboren wurde und in relativem Wohlstand aufgewachsen ist. Doch wir mussten mit dem noch nicht verarbeiteten Erbe unserer Vorfahren so gut umgehen lernen, wie es für uns zu dieser Zeit möglich war.
Melancholische Gerichte
Das Gebiet meines Landes ist geprägt vom Trauma des Holodomor – einer vom stalinistischen Regime verursachten und somit gewissermaßen künstlich bedingten Hungersnot, die Millionen von Menschen in der Ukraine das Leben kostete und heute von Dutzenden Ländern, darunter der Slowakei, als Völkermord angesehen wird. Meine Uroma zwang mich immer, alles auf meinem Teller aufzuessen. Sie sagte, ich dürfe nichts auf später verschieben – was, wenn es schlecht würde? Essen wegzuwerfen, galt als die größte Sünde der Welt, selbst wenn es verbrannt, vergoren oder leicht angeschimmelt war. Wenn das Stück mit Schimmel und Fäulnis sich abschneiden ließ, konnte der Rest noch gegessen werden. Meine Großmutter aus der Zentralukraine wiederum hatte ein separates Fach im Kühlschrank, wo sie spezielle Lebensmittel aufbewahrte, die sie aus der Sowjetzeit kannte: Brühwurst, Bockwürstchen und fettige Mayonnaise. Zum Frühstück aß sie immer Suppe, die ich aus ganzem Herzen hasste: viel Wasser, Kartoffeln, Buchweizen, gebratene Karotten. Alles, was sie kochte, war sehr fetthaltig. Für sie ging es beim Essen nur darum, möglichst schnell und für möglichst lange satt zu werden. Und alle Mahlzeiten schmeckten sehr ähnlich.Meine Generation erlebte nicht mehr die Lebensmittelknappheit in Supermärkten wie frühere Generationen. Unsere Eltern hingegen schon. Deshalb wuchsen wir mit Geschichten auf, wie Menschen während der Inflation nach der Unabhängigkeit der Ukraine untereinander Rinder- und Schweineknochen getauscht haben, weil man daraus eine einfache Brühe kochen konnte, wie Arbeiter einander auf der Arbeit Lebensmittel stahlen und wie sie sich in endlosen Schlangen stehend sowie durch Bestechung und Tauschhandel Essen besorgten. Es gab kein Geld, es gab kein Essen. Erst später lernte die Generation unserer Eltern allmählich, den Geschmack von Essen zu genießen. Denn Genuss kommt erst, wenn man die Angst vor Hunger und Lebensmittelknappheit überwunden hat. Olena Stjaschkina, eine ukrainische Kulturkritikerin und Forscherin zur Ernährung in der Sowjetunion, schreibt, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die in den 1970er und 1980er Jahren geboren wurden, oft kein Lieblingsessen haben, sondern nur gewisse melancholische Gerichte, die sie in ihre Kindheit zurückversetzen, wie sowjetisches Eis oder Brot mit Butter und Zucker. Meine Eltern und ihre Generation mussten erst aus dem Teufelskreis des repressiven sowjetischen Gastronomiesystems ausbrechen, in dem Geschmack Freiheit bedeutete und Freiheit verboten war. Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, musste diese Generation erst den Geschmack für sich entdecken, musste neue und überraschende Lebensmittel erkunden, musste lernen, sie zu kochen und zu kombinieren.
Meine Generation wuchs mit Urgroßmüttern auf, die uns mit vom Holodomor geprägten Gewohnheiten beeinflussten, mit Großeltern, die das Trauma des Überessens an Feiertagen, des geschmacklosen Essens und des ständigen Mangels an Essen weitergaben, mit Eltern, die oft nicht wussten, welche gesunden Essgewohnheiten sie uns beibringen sollten. Ein Löffelchen für Mama, eins für Papa. Wir versteckten Schokolade vor unseren Eltern, weil sie verboten war und weil ihr Verzehr streng kontrolliert wurde. Wenn niemand hinsah, schütteten wir fade Suppe weg, die wir nicht aufessen wollten. In Zeiten von Stress und Unsicherheit griffen wir zum Essen, fühlten uns schuldig, ersetzten das Gefühl der Sicherheit durch ein Sättigungsgefühl und belohnten uns mit Überessen oder Unterernährung.
Wenn ihr euch ähnlich fühlt oder schon einmal so gefühlt habt, seid ihr nicht allein. Das Verständnis, dass Essstörungen oft gar nichts mit dem Essen als solchem zu tun haben, kommt erst langsam. Es ist nicht leicht, aus diesem Teufelskreis auszubrechen und sich selbst zu lieben. Selbst nach Therapie und Behandlung können toxische Muster in unser Leben zurückkehren und sich wieder bemerkbar machen. Vielleicht ist das Verständnis, dass Essen eine Form von Unterdrückung und Machtausübung ist, der erste Schritt, um voranzukommen und eine Welt zu schaffen, in der toxische Beziehungen zum Essen aufhören ein destruktives Phänomen zu sein.
Dieser Artikel erschien zuerst im slowakischen Magazin Kapitál, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Mai 2025