Ukrainische Forscherinnen in der Antarktis  „Mich zieht es einfach dorthin, wo es kalt ist“

Gesamtansicht der Forschungsstation Akademik Wernadskyj
Gesamtansicht der Forschungsstation Akademik Wernadskyj Foto: © Nationales Antarktisforschungszentrum (NASC)

Jedes Jahr brechen mehrere ukrainische Wissenschaftler*innen zur Überwinterung zur Antarktisstation Akademik Wernadskyj auf. 15.000 Kilometer entfernt von der Heimat haben sie eine besondere Mission in einer besonderen Welt. Für JÁDU berichten die Frauen des Teams auch von besonderen Ritualen.

„Mich zieht es einfach dorthin, wo es kalt ist“, erklärt die Meteorologin des ukrainischen Nationalen Antarktischen Forschungszentrums (NASC), Anastasiia Chyhareva, auf die Frage, warum sie sich für ein Leben als Antarktisforscherin entschieden hat.

Schon während des Studiums interessierte sie sich für die Station Akademik Wernadskyj, die seit 1996 zur Ukraine gehört. Diese Station liegt 15.000 Kilometer von der Ukraine entfernt. Jedes Jahr reisen zwei wissenschaftliche Forschungsexpeditionen dorthin: eine ganzjährige und eine saisonale. Bei den ersten Überwinterungen arbeiteten dort erfolgreich Frauen, doch nach 1998 wurde die inoffizielle Entscheidung getroffen, nur noch Männer mitzunehmen. Anastasiia nahm dieses Verbot nicht ernst, im Gegenteil: Sie begann davon zu träumen, eines Tages dort zu arbeiten.

„Nach meinem Studium stand ich vor der Wahl, was ich beruflich machen wollte. Für mich war die Erforschung der Polarregionen das Allerspannendste. So begann mein Weg in die Antarktis“, erinnert sie sich.
 
Anastasiia Chyhareva

Anastasiia Chyhareva | Foto: © Nationales Antarktisforschungszentrum (NASC)

Im Jahr 2021 reiste die Wissenschaftlerin erstmals im Rahmen einer saisonalen Expedition in die Antarktis. Sie sollte sich auf das internationale Projekt Year of Polar Prediction (YOPP) vorbereiten, dessen Ziel es war, die Wettervorhersage in der Region zu verfeinern. Dafür war ein besseres Verständnis der Wolken- und Niederschlagsbildung im Polarwinter entscheidend. Danach kehrte sie noch drei weitere Male als Teil von saisonalen Expeditionen zur Station zurück.

Garderobe

Vor ihrer ersten langen Reise zur Antarktisstation Akademik Wernadskyj brauchte Anastasija Tschyharewa am längsten zum Packen. Obwohl die gesamte Kleidung von der Station gestellt wurde, wollte sie auf Nummer sicher gehen und kaufte sich teure Trekkingstiefel, die sie vorsichtshalber zwei Nummern größer wählte, um darunter dicke Wollsocken tragen zu können, und nicht zu frieren. Es stellte sich heraus, dass die Schuhe auf der Station tatsächlich bequem und ideal an die dortigen Bedingungen angepasst sind. Also brachte Anastasiia die Stiefel wieder mit in die Ukraine und trägt sie nun bei Wanderungen in den Karpaten.

Ein Abend in der Faraday-Bar

Jeden Samstag versammelt sich das gesamte Team in eleganter Kleidung zum Abendessen in der Faraday-Bar, der südlichsten Bar der Welt. Jeder darf auch mal selbst hinter die Theke. Die Bar wurde zu der Zeit gebaut, als die Station noch dem Vereinigten Königreich gehörte und den Namen Faraday trug. Die Legende besagt, dass die Zimmerleute nach Fertigstellung der Station noch Holz übrighatten und daraufhin beschlossen, einen kleinen Pub im englischen Stil zu bauen.
 
Die Faraday-Bar

Die Faraday-Bar | Foto: © Nationales Antarktisforschungszentrum (NASC)

„Diese Tradition wird von allen mit großem Ernst gepflegt: Während die Männer in dreiteiligen Anzügen erscheinen, bringen die Frauen mitunter sogar Stöckelschuhe und Abendkleider mit. Neuerdings sieht man auch oft eine festliche Wyschywanka [eine traditionelle ukrainische Stickerei, Anm. d. Red.]. Ich selbst trage zu diesem Anlass weiße Sneakers, die wunderbar zu meinen Kleidern passen“, berichtet Anastasiia Chyhareva.

Süßigkeiten

Die Versorgung mit Lebensmitteln ist für ein ganzes Jahr im Voraus geplant. Es ist der ukrainische Eisbrecher Noosfera (Ноосфера), der etwa 16 Tonnen Proviant zur Station bringt, den die Forscherinnen und Forscher dann eigenhändig entladen. Natürlich kommen zuerst die verderblichen Waren wie Gemüse, Obst und Eier auf den Tisch. Wenn im Laufe der Zeit die Vorräte schwinden, sorgt die nächste saisonale Expedition für Nachschub, der meist aus frischem Obst und Gemüse, Milch und sonstigen Produkten, die ausgegangen sind, besteht. „Eingekauft wird in Chile, weshalb die Produkte sich von unseren gewohnten aus der Ukraine unterscheiden. Besonders vermisst habe ich den Geschmack der ukrainischen Süßigkeiten. Deshalb nehme seither bei jeder Reise zur Station ein paar große Snickers-Riegel mit“, berichtet die Meteorologin Anastasiia.

Die Rituale von Anna Soina

Die Geophysikerin Anna Soina träumte schon in der Schule von einer Reise in die Antarktis. Damals verschlang sie regelrecht Bücher über die Polarregionen.

„Als Ökologie-Studentin hatte ich 2003 das Glück, ein Praktikum am Radioastronomischen Institut (RI der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine) zu absolvieren. In der Abteilung für Radiophysik des Geokosmos arbeiteten damals echte ukrainische Polarforscher, die in meinen Augen wie Götter waren. Später widmete ich meine Diplomarbeit dem Einfluss von Antarktisstationen auf die Umwelt…“, berichtet Anna.
 
Anna Soina

Anna Soina | Foto: © Anna Soina

Nach dem Studium nahm die Wissenschaftlerin ihre Tätigkeit am RI der NASU auf. Ihre wiederholten Anträge auf eine Überwinterung in der Antarktis blieben erfolglos, da Frauen zu dieser Zeit von den Expeditionen ausgeschlossen waren. Die Wende kam 2018 mit einem Führungswechsel im Nationalen Antarktischen Forschungszentrum. Der neue Leiter Evhen Dykyi schaffte alle bisherigen Beschränkungen bei der Auswahl ab und erklärte die Gleichbehandlung von Geschlecht und Alter zum neuen Grundsatz.

„Und tatsächlich: Mit der Biologin Oksana Savenko und der Ärztin Natalia Babiy brachen schon zu der 24. Ukrainischen Antarktisexpedition zwei Frauen auf. Als die nächste Auswahl anstand, reichte ich also meine Bewerbung ein. Mein Antrag wurde genehmigt, und so fand ich mich im Team der 25. Ukrainischen Antarktisexpedition wieder“, schildert Anna Soina.

Es war März 2020. Die Abreise zur Station stand in etwa zwei Wochen bevor. Doch dann überrollte die COVID-19-Pandemie die Welt, und mit ihr änderte sich die Lage stündlich. Eines Nachts, um Mitternacht, klingelte das Telefon: Ihr Leiter war am Apparat und überbrachte die schockierende Nachricht. Wegen der Pandemie blieben ihr statt zwei Wochen nur noch zwei Tage, um alles vorzubereiten.

„Einen Monat lang waren wir zur Station unterwegs, und es gab Momente, da glaubte ich nicht mehr an meine Überwinterung. Dass wir es am Ende dennoch zur Station Akademik Wernadskyj schafften, verdanken wir allein den fast übermenschlichen Anstrengungen des NASC. Allerdings mussten wir das Gepäck auf ein Minimum beschränken“, erzählt die Geophysikerin.

Seit dem Beginn des großen Krieges muss das Team einen weiten Umweg zur Station in Kauf nehmen. Die Forscher reisen zunächst mit dem Bus nach Polen, fliegen von dort nach Chile und legen die letzte Strecke in die Antarktis mit dem Forschungseisbrecher Noosfera zurück.

Geburtstag im Süden

Ein Geburtstag, so Anna, ist hier immer ein Ereignis, und die Feierlichkeiten beginnen bereits mitten in der Nacht.

„Zuerst beginnt die Feier traditionell um Mitternacht, wenn sich das Team im Speisesaal versammelt, um dem Geburtstagskind zu gratulieren. Die eigentliche Party wird jedoch nach Absprache mit dem Koch auf das Abendessen verlegt. Dafür deckt der Koch dann mit Unterstützung des Teams einen festlichen Tisch. Um 19 Uhr kommen dann alle schick gekleidet und mit Geschenken zusammen. Gratuliert wird der Reihe nach, wobei sich jeder bemüht, ein möglichst einzigartiges und interessantes Geschenk zu machen“, erzählt die Wissenschaftlerin.

Sobald der letzte Glückwunsch ausgesprochen ist, wird gemeinsam aufgeräumt und das Geschirr gespült, bevor die Gruppe in die Faraday-Bar weiterzieht. Dort wird bei Tanz, Gesang und Spielen weitergefeiert, bis als Höhepunkt der Koch dem Geburtstagskind die Torte überreicht.
 
Eine von Koch Nasar für Anna Soina während der 29. Expedition persönlich gebackene Torte, die ihren Namen trägt

Eine von Koch Nasar für Anna Soina während der 29. Expedition persönlich gebackene Torte, die ihren Namen trägt | Foto: © Anna Soina

„Ich persönlich werde nie vergessen, wie unser Koch, Nazar Tsyupka, eine Torte nach eigenem Rezept kreierte und sie sogar nach mir benannte. Das war unglaublich nett und einfach himmlisch lecker. Ganz zu schweigen davon, wie wunderschön die Torte war! Sie wurde feierlich mit Kerzen in den zuvor verdunkelten Speisesaal hereingetragen“, erinnert sich Anna Soina.

Freizeitgestaltung

Wie man die Freizeit auf der Station gestaltet, bleibt allen selbst überlassen. Vom Training im Fitnessraum über Billard, Computerspiele und Darts bis hin zum Lesen von Büchern oder dem Schauen von Filmen ist alles möglich.
 
Ein Spielzeug, das Anna Soina während ihrer Überwinterung auf der Station von Hand gefertigt hat.

Ein Spielzeug, das Anna Soina während ihrer Überwinterung auf der Station von Hand gefertigt hat. | Foto: ©Anna Soina

„Man kann sich Handarbeiten widmen oder mit der Kamera über die Insel spazieren. Es gibt auch eine riesige Sammlung an Brettspielen. Ein paar Mal haben wir uns für Warcraft zusammengetan. Die Männer haben sich meistens beim Billard oder Darts die Zeit vertrieben. Generell sind Spiele eher zu Beginn der Überwinterung und während des antarktischen Winters beliebt; im Frühling hat man dann kaum noch Zeit dafür. Außerdem organisierte unsere Ärztin Yogastunden und einen Buchklub“, erzählt Anna.

Die Geschichte von Tatyana Baglay

Schon als kleines Mädchen wusste Tatyana Baglay, dass sie Wissenschaftlerin werden wollte. Bereits im Alter von fünf Jahren erzählte sie ihren Brüdern, dass sie einmal in einem Labor arbeiten würde.
 
Tatyana Baglay während der 29. Expedition.

Tatyana Baglay während der 29. Expedition. | Foto: © Tatyana Baglay

„Ich erinnere mich, wie ich, schon als Erwachsene, in Charkiw wissenschaftliche Picknicks unter freiem Himmel organisierte. Dabei war es eine besondere Freude zu erleben, wie Kinder und junge Leute, die einst als Zuschauer zu uns kamen, später als Teilnehmer im Namen ihrer Institute und Universitäten zurückkehrten, wo sie ihr Studium fortsetzten“, erzählt Tatyana.

Im Jahr 2024 brach die Biologin als Teil der 29. Ukrainischen Antarktisexpedition zur Station Akademik Wernadskyj auf.

Midwinter

Zu den herausragenden Tagen für die Polarforscher*innen zählt der Midwinter (englisch: Mitte des Winters), der am 21. oder 22. Juni gefeiert wird. Das symbolträchtige Fest markiert den kürzesten Tag und die längste Nacht des Jahres. Unmittelbar nach diesem Datum beginnt das Tageslicht wieder zuzunehmen und kündigt so den nahenden Frühling an.
 
Tauziehen während der Midwinter-Feierlichkeiten im Jahr 2024.

Tauziehen während der Midwinter-Feierlichkeiten im Jahr 2024. | Foto: © Nationales Antarktisforschungszentrum (NASC)

Der Tradition nach bereitet am Midwinter-Tag die Expeditionsleitung das Frühstück zu. Dabei dürfen sich alle wünschen, was sie möchten. Nach dem exklusiven Frühstück organisiert das Team sportliche Wettkämpfe: Leiterklettern, Tauziehen und sogar Schießen mit einem deutschen Luftgewehr. Als das traditionelle Hauptereignis des Midwinters bezeichnen die Forscherinnen und Forscher jedoch das Baden im Südpolarmeer. Einige fertigen dafür sogar spezielle Badekostüme an.
 
Tatyana Baglay beim Midwinter-Baden im Jahr 2024.

Tatyana Baglay beim Midwinter-Baden im Jahr 2024. | Foto: © Nationales Antarktisforschungszentrum (NASC)

„Erst das Bad am Midwinter macht einen zum echten Polarforscher, so heißt es bei uns. Und ich kann ehrlich sagen: Das Eintauchen ins eiskalte Wasser war eine wunderbare Erfahrung. Ich war sogar eine der Organisatorinnen dieses Rituals“, berichtet Tatyana stolz. Sie fügt hinzu, dass sie in der Ukraine nie eine Kaltwasserschwimmerin gewesen sei, die Expedition dies aber zu ihrer Leidenschaft gemacht habe.

Die Kojen

Die Schlafräume der Teammitglieder auf der Station heißen Kojen. Diese Kojen von bescheidener Größe erinnern an Zugabteile und sind sehr hellhörig, weshalb man für Telefongespräche besser woanders hingeht, um die Zimmernachbar*innen nicht zu stören.
Die Kojen

Die Kojen | Foto: © Nationales Antarktisforschungszentrum (NASC)

„Einmal, als ich nachts im Labor direkt neben meiner Koje arbeitete, habe ich Kissen als Schalldämmung gegen die Wand gestapelt, um meine Zimmernachbarin Valentyna nicht zu stören“, erzählt Tatyana. Aus demselben Grund sind auch Wecker auf der Station tabu. Ein lautes Klingeln würde garantiert das gesamte Team wecken, was angesichts der unterschiedlichen Arbeitspläne für einige sehr unangenehm wäre. Die Rolle des Weckers übernimmt die jeweils diensthabende Person, deren individueller Weckplan zuvor auf einer Tafel vermerkt wird.

Pflege

„Das Nationale Antarktische Forschungszentrum versorgt uns für das ganze Jahr mit den grundlegenden Hygieneartikeln: Shampoo, Haarspülungen, Zahnbürsten und -pasten, Tampons, Binden und sogar Sonnencreme. Was jedoch die persönliche Pflegeroutine oder spezielle Medikamente betrifft, muss man seinen Jahresvorrat selbst mitbringen“, erklärt Tatyana.

So verbrauchte sie im Laufe des Jahres fünf 700-Milliliter-Flaschen Shampoo. Zudem reagierte sie auf die zur Verfügung gestellten Reinigungsmittel allergisch und bat daher um eine Sonderlieferung, die gegen Ende der Überwinterung tatsächlich auf der Station eintraf.

Die Station stellt eine Haarschneidemaschine und eine Schere zur Verfügung. Einen Friseur gibt es hier natürlich nicht, also schneiden sich die Expeditionsteilnehmer*innen gegenseitig die Haare. „So haben wir alle eine neue Fähigkeit erlernt. Für mich war das eine ganz besondere Zeit, die ich gerne wiederholen würde“, resümiert Tatyana Baglay.
 

Die ukrainische Antarktisstation Akademik Wernadskyj befindet sich auf der Galíndez-Insel. Gegründet wurde die Forschungseinrichtung 1947 vom Vereinigten Königreich, damals noch unter dem Namen Faraday. 1996 wurde sie offiziell an die Ukraine übergeben.

Die Station widmet sich primär der wissenschaftlichen Forschung. Daten, Proben und Materialien, die während der Expeditionen gesammelt werden, bilden die Grundlage für Analysen in den Laboren von Universitäten und akademischen Einrichtungen in der Ukraine und weltweit. Die Ergebnisse erscheinen regelmäßig in internationalen Fachzeitschriften. Die Klimatologinnen Svitlana Krakovska und Anastasiia Chyhareva schafften es 2023 in die renommierte Zeitschrift Nature. Ihr Artikel analysierte die Ursachen für einen Temperaturrekord in der Antarktis.

Während des Expeditionswechsels kann die Belegschaft auf bis zu 24 Personen anwachsen, das reguläre Überwinterungsteam besteht jedoch üblicherweise aus 12 Mitgliedern. 2025 überwintert die 30. Expedition auf der Station.

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