Erst die Theorie, dann die Praxis – eine solche Lebensstrategie führt zweifellos zu vielen Irrtümern, ermöglicht jedoch auch Erfahrungen, die man in entgegengesetzter Reihenfolge nur selten macht, wenn überhaupt. Diese Reportage erzählt von einer unerwarteten Begegnung mit einem rituellen Ereignis im politisch schwer gebeutelten Myanmar.
Es war erst kurz vor zehn Uhr morgens, doch die Hitze war bereits nahezu unerträglich. Mit kam es vor, als sei es bewölkt und wahrscheinlich war es das auch, aber die unbarmherzigen Strahlen der tropischen Sonne brannten auch durch die weiße Wolkenschicht hindurch, die den Himmel über der Stadt Hpa-an bedeckte. Ich schwitzte, so wie jeden Tag an diesem Ort, vom frühen Morgen bis zum Abend. Das wertete ich als physischen Beweis dafür, dass meine mitteleuropäische körperliche Konstitution mit dem örtlichen Klima nicht wirklich kompatibel war. George Orwell musste sich ähnlich gefühlt haben und wahrscheinlich war das auch einer der Gründe, warum die Briten ihre koloniale Herrschaft in Myanmar schließlich aufgegeben und das Land lokalen Tyrannen überlassen haben, deren Haut mit der feuchten Hitze besser zurechtkommt. Dieser Text verfolgt jedoch nicht das Ziel, wild oder eingehend über die vergangene oder gegenwärtige Unfreiheit, über Kriege und die Unterdrückung der Menschen in Myanmar zu spekulieren. Er berichtet von einer unerwarteten Begegnung Mitte März 2017, während der kurzen Zeit, in der das Land weder von Großbritannien noch von Japan oder einer Militärjunta beherrscht wurde.Tage in Burma
Der Titel des Textes bezieht sich auf George Orwells ersten Roman mit dem Titel Tage in Burma (Burmese Days). Darin beschreibt Orwell nicht nur anschaulich das Klima und die natürlichen Lebensbedingungen in Burma, sondern auch die britische Kolonialherrschaft in den 1920er Jahren, den unverhohlenen Rassismus und die Arroganz der britischen Beamten und Funktionäre gegenüber der lokalen Bevölkerung.
Mitten auf einem Feld
Auf dem Rückweg nach Hpa-an, von wo aus ich am Morgen zu einer Fahrradtour aufgebrochen war, verlor ich mich in Gedanken darüber, wie viele buddhistische Felsentempel ein Mensch wohl innerhalb von drei Monaten ohne Bedenken besuchen konnte. Plötzlich vernahm ich eine mir unbekannte Musik, die sich von irgendwoher zu nähern schien. Ich überlegte, ob die Melodie möglicherweise aus einem Dorfradio kam, wie ich sie es aus tschechischen Dörfern kannte, doch an den wenigen entlang des Weges verstreuten Masten der Straßenbeleuchtung konnte ich keine öffentlichen Lautsprecher entdecken. Ich sah mich um. Die Musik wurde immer lauter und schien fast zum Greifen nah. Da kamen mir zwei Lastwagen entgegen. Beide Fahrzeuge hatten offene Ladeflächen, auf denen laut schallende Musikanlagen installiert waren. Ich konnte meine Augen nicht trauen. Mir wurde flau im Magen und Unruhe machte sich in mir breit – Abenteuer lag in der Luft. Das war der Pawlowsche Reflex einer Anhängerin der Freetekno-Kultur. Ich blickte mich noch einige Male ungläubig um. Neben den Lautsprecherboxen auf dem blauen LKW wippten einige ganz dem Tanz ergebene Männer mit indischen Gesichtszügen im Rhythmus. In der Karawane folgte eine Reihe von Motorrädern, auf denen weitere Männer saßen, die im Takt der modalen Klänge ihre Arme gen Himmel streckten, dem plötzlich azurblauen Himmel entgegen. Instinktiv wendete ich mein Fahrrad und folgte, jegliche Gefühle etwaiger Unangemessenheit beiseite wischend, der motorisierten Prozession.
„Ich versuchte, nicht zu versäumen, mir den Weg zu merken, auch wenn die gesamte Erscheinung nahezu meine gesamte Aufmerksamkeit verschlang.“ | Foto: © Bára Bažantová
Der Tross bog schließlich von der Hauptstraße ab und in eine kleinere Straße ein und dann in eine noch kleinere. Ich versuchte, nicht zu versäumen, mir den Weg zu merken, auch wenn die gesamte Erscheinung nahezu meine gesamte Aufmerksamkeit verschlang. Einige Augenblicke später bogen wir erneut ab und der Tross wurde langsamer. Wir holperten über einen Feldweg, bis es fast nicht mehr weiterging. Dann teilte sich die Prozession auf. Einer der LKW fuhr in die Mitte des Feldes, der andere hielt an. Die Motorräder blieben stehen und so auch ich. Die Inder, jetzt war ich mir nahezu sicher, dass es keine Burmesen waren, sprangen von ihren Fahrzeugen herunter und begannen die Verlagerung aufs Feld zu organisieren. Ich stieg von meinem Fahrrad ab und beobachtete das Geschehen. Ich wollte herausfinden, ob ich bleiben konnte oder still und leise verschwinden sollte. Einer der umstehenden Männer bemerkte meinen unsicheren Blick, lächelte mir zu, beugte leicht den Kopf nach vorn und bedeutete mir mit einer Geste seiner Hand, den anderen entlang eines Baches zu folgen. Ich verbeugte mich ebenfalls und betrat sodann den magischen Raum eines unbekannten Landes hinter den Spiegeln, wie ein sich dem Staunen und den damit einhergehenden endlosen Fragen hingebendes Kind.
Glaube, Magie, Ritual
Ich gelangte an einen Ort, an dem sich viele weitere Menschen versammelt hatten. Ein feierlich herausgeputztes Kind in Mädchenkleidern überreichte mir einen Plastikbecher mit Limettenlimonade. Kleine Jungen liefen um den LKW mit der Musikanlage herum. Mir gegenüber stand eine Gruppe Burmesen mit Fotoapparaten. In dem Moment schien es, dass auch sie sich in dieser Situation, obwohl das hier ihre Heimat war, in der Rolle von Touristen wiederfanden und die gesamte Versammlung ihnen kaum weniger fremd war als mir. Es gab sonst keine anderen Hellhäutigen an diesem Ort, was für mich bis dato eine völlig unbekannte Erfahrung gewesen war. Die Unmöglichkeit in der Menge unterzutauchen und sich nicht so himmelschreiend fehl am Platz zu fühlen, all das erlebte ich zum ersten Mal. Ich muss betonen, dass mir niemand sichtbar zu verstehen gab, ich sei fehl am Platz. Für all die anderen war ich bloß ein unbedeutender Teil der Szenerie, lediglich ich selbst nahm den physischen Kontrast meiner Erscheinung so stark wahr. Ich musste automatisch daran denken, wie die vielen Migranten, die aus dem Nahen Osten, Afrika oder Lateinamerika nach Europa kamen, wohl mit solchen Gefühlen leben mussten und dass sie sich statt der stillen Aufnahme, die ich hier erfuhr, (mindestens verbaler) Aggression von Seiten der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sahen. Zum Glück wurden sämtliche daran anknüpfende Gedanken, ebenso wie die Unsicherheit darüber, ob meine Anwesenheit hier angebracht sei, bald vom Geschehen um mich herum verdrängt.Inmitten der Masse von Menschen standen einige nasse junge Männer, die wohl vor Kurzem in dem nicht weit entfernten Bach gewaschen worden waren. Sie trugen keine Kleidung, doch ihre Geschlechtsteile waren bedeckt. Es mochten so um die fünfzehn gewesen sein, nicht mehr. Mehrere andere Männer traten an einen der Nassen heran. Jemand redete leidenschaftlich auf ihn ein und gestikulierte ausladend. Der nasse Körper fing an zu zittern. Der Mann verfiel in Trance und obwohl ihm die Beine noch nicht versagten, begaben sich zwei weitere Männer an seine Seite, die darauf Acht gaben, dass er nicht hinfiel und ihm unter die Arme greifen würden, falls er zu taumeln anfing. Derjenige, der die ganze Zeremonie leitete, der Zeremonienmeister, Schamane oder Beschwörer, wie auch immer er in dieser Gegend der Welt genannt werden mochte, trat jeweils an einen der zitternden Körper heran, zog ihm die Zunge heraus und bohrte anschließend einen spitzen Gegenstand hindurch. Das Werkzeug, das auf beiden Seiten des Fleisches herausschaute, beließ er an Ort und Stelle. Dann wiederholte er das Prozedere auf beiden Wangen und ließ die Werkzeuge ebenfalls in den Wunden stecken.
Nach und nach war jeder der Gewaschenen an der Reihe, einige zitterten heftiger, andere weniger, aber kein einziger gab auch nur den geringsten Laut von sich oder ließ sich anderweitig irgendein Schmerzempfinden anmerken. Dann ließ die Anspannung nach, die Atmosphäre veränderte sich und die Ernsthaftigkeit verflog. Die Prüfungssituation verwandelte sich in eine ausgelassene Feier. Die Umstehenden streckten den nackten Männern mit den durchbohrten Gesichtern ihre Hände entgegen und bestrichten deren Körper mit gelber Farbe, auf die sie dann rote Flecken malten. Der eng geschlossene Kreis um die Nackten öffnete sich langsam und ich setzte mich ein Stück entfernt hin. Ich beobachtete, wie sie die Köpfe der Männer mit Blumenkränzen und glänzenden Kronen schmückten und Haken in die Haut auf den Rücken der Männer bohrten, so ähnlich wie Angelhaken, an denen sie lange rote Bänder befestigten.
„Dann teilte sich die Prozession auf. Einer der LKW fuhr in die Mitte des Feldes, der andere hielt an.“ | Foto: © Bára Bažantová
Sag mir, woher du kommst
Ich saß im Gras, von der magisch anmutenden Handlung in den Bann gezogen, ebenso unfähig wie unwillig das Geschehen rational zu verankern. Ganz dem gemeinschaftlichen Erleben hingegeben, fühlte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Mir fiel eine ältere Inderin auf, die mir gegenüber mit einem Mann zu ihrer rechten sprach. Ich konnte weder sie noch sonst jemanden um mich herum verstehen, aber ich war mir sicher, dass sie über mich sprachen. Sie spürte wohl meine Aufmerksamkeit und sah direkt zu mir herüber. Ihre Gesichtszüge waren ernst, stolz und faltig, sie stand sehr aufrecht mit geradem Rücken und trug einen bunten Rock. Die Inderin war etwa zwanzig Meter von mir entfernt und blickte mir direkt in die Augen. Sie hob ihre Hand zur Nase und zeigte dann auf mich. Ich verstand, dass sie den goldenen Ring meinte, wegen dem mir mein Großvater immer vorhielt, ich würde aussehen wie eine Kuh. Die Frau nickte mir zu, machte mit der Hand eine Geste des Gefallens, wahrscheinlich um anzudeuten, dass sie freundlich über mich gesprochen hatten. Dann führte sie ihre Hand zum Ohr und klopfte darauf. Ich nickte, ja, die Musik hatte mich hierhergezogen. Sie fuhr fort, gestikulierte das Gas geben auf dem Pedal eines Motorrades. Ich schüttelte den Kopf und gab ihr mit Zeichen zu verstehen, dass ich mit dem Fahrrad gekommen war. Die Frau nickte verstehend, dann blickte sie zum Himmel hinauf. Ja, von dort bin ich angeflogen gekommen. Bist du allein hier? Ja, allein. Trink eine Limonade. Danke, ich habe schon eine. Dann brach unser Gespräch ab. In mir meldete sich plötzlich die Angst vor der nahenden Dunkelheit und dem weiten Rückweg durch die spärlich mit Straßenlaternen gespickten Straßen, was unsere Unterhaltung jäh beendete. Oder hatte sich das Gespräch einfach erschöpft, weil alles für den Moment Wichtige gesagt worden war? Das werde ich wohl nie erfahren.Ich verabschiedete mich und schob mit zitternden Händen mein Fahrrad zurück zur Straße. Doch das Glück war mir hold, nach ein paar Metern hielt ein kleiner Transporter neben mir. Der Fahrer lud selbstsicher und wie selbstverständlich erst mein Fahrrad und dann mich auf die Transportfläche und ich war ihm sehr dankbar, denn ohne ihn wäre ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückgewesen.
„Ich stieg von meinem Fahrrad ab und beobachtete das Geschehen. Ich wollte herausfinden, ob ich bleiben konnte oder still und leise verschwinden sollte.“ | Foto: © Bára Bažantová
Kein Gott, Überfluss an Göttinnen
Als ich nach Europa zurückgekehrt war, spürte ich einen inneren Drang, meine empirischen Erkenntnisse benennen zu können und recherchierte. Ich fand heraus, dass es sich wahrscheinlich um einen Feiertag tamilischer Hinduist*innen gehandelt haben musste, den sie Thaipusam nannten und an dem der Sieg des Kriegsgottes Murugan über den Dämonen Soorapadman gefeiert wird. Das Datum stimmte zwar nicht genau überein, aber die Beschreibung der Feierlichkeiten passte zu dem, was ich erlebt hatte. Das Gefühl, fehl am Platz zu sein, verflüchtigte sich in meinen Erinnerungen, so wie sich darin mit der Zeit auch alle Gefühle auflösten, nur die Bilder sind geblieben und ihre nachträgliche rationale Katalogisierung.Beim Blick auf das aktuelle Europa, wo die abhandengekommenen Götter durch Göttinnen ersetzt wurden, die in den seichten Gewässern des Internets für eine Stange Geld spirituelle Cocktails für jene feilbieten, die nach schneller geistiger Entspannung lechzen, denke ich an diese zufällige Begegnung zurück. Ich erinnere mich an diese zufällige Begegnung mit dem, was ich für mich selbst als Liebe bezeichne. Ich erinnere mich an das Verknüpfen von Ernsthaftigkeit mit der darauffolgenden Feier, an Schmerz und Erleichterung, an die ganzheitliche Zeremonie, an ihre Körperlichkeit, an die Kinder und die Musik und hauptsächlich an diese aufrechte Frau und unser stilles Gespräch. Nie zuvor und auch nicht danach habe ich jemals etwas so Magisches erlebt, vielleicht deshalb, weil das, was sich zwischen uns abgespielt hat, so über alle Maßen menschlich war.
Sich auf seine eigene Fähigkeit zu verlassen, unerforschtes Terrain überlegt und mit Respekt zu betreten, ist eine schwierige Herausforderung. Wahrscheinlich ist es wesentlich leichter, sich eine feste Struktur zu schaffen und daran festzuhalten, keine unvorhergesehenen Schritte zu unternehmen. Selbst wenn das so ist und wir die Magie vergessen und gemeinsam diesen Normalisierungsprozess durchlaufen müssen, um uns aus unseren eigenen Fallen zu befreien, führt uns unser Wunsch nach Freiheit am Ende hoffentlich doch hinaus – aufs offene Feld, auf eine Wiese unter freiem Himmel, wo es Platz für Vielfalt gibt, ebenso wie für Zufälle, die unerwartete Allianzen mit sich bringen können.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
September 2025