Magie in der postmodernen Welt  Volkstümliche Zauberei im Anthropozän

Mondfinsternis Foto: Mark Tegethoff via unsplash | CC0 1.0

Als ich einmal eine Nacht unter freiem Sternenhimmel in einem Wald bei Prag verbrachte, flog eine Hornisse in mein Teelicht. Ihr nervöses Summen erfüllte den Ort. Plötzlich flackerte das Licht auf, ein Zischen war zu hören und das Leben der Hornisse wurde von der kleinen Flamme ausgelöscht, während gleichzeitig die Hornisse die Flamme auslöschte. Das Kerzenwachs mumifizierte den verkrümmten Körper des Tieres für die Ewigkeit. Dieser Akt war der Anfang meiner mystischen Entdeckungsreise, die sich in zwei weiteren Objekten manifestierte: einem unter einem Felsen versteckten slawischen Ritualpüppchen und einem in zwei perfekte Hälften zerbrochenen Teller. Diese Geschichte will zum Dialog einladen, einem Dialog mit den Kräften der Natur, und nimmt uns mit in eine uralte Kultur, die mit diesen Kräften verwoben ist.

Die Hornisse

Die kleine Hornisse Ikarus schenkte mir ihr Augenlicht. Die Tausenden von Linsen eröffneten mir einen neuen Horizont, weiteten meine Perspektive. Plötzlich sah ich, wie verloren die Menschheit in ihrem unachtsamen Tun doch war. Auf diesem Ball der Verrückten wälzen wir uns in rasendem Tanzschritt direkt auf die Brandherde zu, die wir mit fossilen Brennstoffen selbst nähren. Alles im Namen des Fortschritts. Ich sah, wie viel Böses und Geiz wir gedeihen lassen, und Trauer ergriff von mir Besitz. Ich fragte die Hornisse: „Was mache ich jetzt mit dieser Erkenntnis?“ „Bsssssss“, antwortete sie und versuchte mir damit zu sagen, dass die Kraft in den Geschichten liegt, die wir uns darüber erzählen, was uns ausmacht und wozu wir fähig sind. Bis hierher in die Gegenwart haben uns Erzählungen und Märchen begleitet, in denen die Welt materiell, die Biologie mechanisch und die Natur hierarchisch ist. Und genau hier, in einem anderen Teil Europas, hat sich etwas zugetragen, dass diese Vorstellungen auf den Kopf stellt.

Für die Ukraine ist das Narrativ der nationalen Identität für den Widerstand gegen den russischen Imperialismus essenziell. Anstatt in der Vergangenheit gefangen zu sein, wird die Volkskultur dort zur starken kreativen Quelle, um eine einzigartige, die Moderne widerspiegelnde Kultur zu erschaffen. Auf den Straßen von Lwiw spazieren Menschen in modischen Trachten. Wenn sie zum Bus gehen, der sie zur Arbeit bringt, heften sie sich handgestickte geometrische Schutzsymbole an die Brust, die den Kreislauf des Lebens, Fruchtbarkeit und Einheit symbolisieren. Auf Veranstaltungen mitten im Stadtzentrum lernen die Menschen, Motanky herzustellen – traditionelle Schutzpüppchen. Geheimnisvolle Gesänge in Moll mischen sich mit modernen Songs aus dem Radio und verursachen Gänsehaut.
Motanka ist eine traditionelle Puppe, die als Schutzamulett und Symbol für die Verbindung des Menschen mit der Natur, dem Kreislauf des Lebens und der uralten weiblichen Energie dient. Das gesichtslose Amulett wird in der Ukraine bis heute aus Stoffen, Schnüren und Kräutern hergestellt.

Motanka ist eine traditionelle Puppe, die als Schutzamulett und Symbol für die Verbindung des Menschen mit der Natur, dem Kreislauf des Lebens und der uralten weiblichen Energie dient. Das gesichtslose Amulett wird in der Ukraine bis heute aus Stoffen, Schnüren und Kräutern hergestellt. | Foto: Vl80k via wikimedia | CC BY-SA 3.0


Oksana Kis, Leiterin der Abteilung für Anthropologie am Ethnologischen Institut der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, schreibt in ihrem Artikel Combat Witches and Militant Motankas: The New Meaning of Old Traditions in the Context of the Russo-Ukrainian War, dass die Popularisierung volkstümlicher Talismane und magischer Kampfarchetypen dem ukrainischen Volk während des Krieges als emotionale Stütze dient. Im Interview, das ich für diesen Artikel geführt habe, betont die in der Tschechischen Republik lebende ukrainische Künstlerin und Aktivistin Darja Lukjanenko außerdem die raffinierte Verknüpfung von Hexerei, Neopaganismus (Neuheidentum) und Aktivismus in der zeitgenössischen ukrainischen Kultur. „In diesem Sinne können einige Protestgesänge oder Plakate als Fortsetzung magischer Traditionen angesehen werden. Nehmen wir zum Beispiel diesen beliebten Reim: ‚We will rave on Putin’s grave‘. Klingt das nicht wie ein Zauberspruch?“ Eine Fraueneinheit beim Militär ist sogar nach bekannten Hexenfiguren benannt – den Hexen von Konotop. Und auch, wenn es weit hergeholt scheinen mag, hat auch Tschechien seine eigenen Hexenlegenden und Heilerinnen, deren Vermächtnis nicht spurlos verschwunden ist.

Die tschechische Version der Hexen von Konotop sind die Göttinnen von Žítková, die wohl bekanntesten Praktikerinnen von Volksmagie auf dem Gebiet der Tschechischen Republik. Sie sind angeblich ausgestorben und mit ihnen auch das Wissen um die tschechische Tradition von Naturzaubern. „In der heutigen Welt war ohnehin nicht genug Platz für sie“, schreibt der Journalist und Folklorist Jiří Jilík in seinem Buch Žítkovské čarování (Die Zauberkünste von Žítková). Vielleicht werden sie in der heutigen Welt jedoch mehr gebraucht denn je. Unsere gemeinsame Identität zu bereichern, indem wir auf das geheimnisvolle und magische Wissen unserer mit der Natur im Einklang lebenden Vorfahren zurückgreifen, bedeutet, sich mit der Menschlichkeit, Wildheit und Poesie des Seins zu verbinden. Das widerspricht dem unterdrückenden Narrativ des alten traurigen Märchens von einer durch und durch mechanischen und hierarchischen Welt. Es bedeutet, eine tiefliegende inhärente Bedeutung zu finden, die uns selbst in den schrecklichsten Zeiten Kraft und Verbundenheit schenken kann, so wie sie jetzt die Menschen in der Ukraine stärkt.

Das Püppchen

Am zweiten Morgen in dem Wald bei Prag folgte ich bei Tagesanbruch einem Bach durch ein enges, von Felsen umgebenes Tal. Aus einer Höhlenöffnung schaute mich eine Motanka an. Sie war feucht und schmutzig, war also offenbar schon vor langer Zeit hier abgelegt worden. Ich hielt sie an mein Ohr und vernahm ein leises poch poch … das poch poch ihres weichen Herzens. Dann legte ich die Puppe zurück, denn ich spürte, dass sie hier ihren vorgesehenen Platz hatte. Nach dieser Begegnung tauchten auf meinem Weg weitere Anzeichen ritueller Kräfte auf: Altäre mit Geweihen, mit Steinen umrandete Lichtungen, Kuppeln aus Birkenzweigen, Asche und Knochen. Es war, als würde sich mir etwas offenbaren, das sich bis dahin im Verborgenen gehalten hatte – ein weitverzweigtes Ökosystem aus Pflanzen, Tieren, Pilzen und Volksmagie.

Ich wollte herausfinden, ob diese verborgene Welt auch heute noch Anhänger*innen hat, und begann daher nachzuforschen, wer mir in der Sache weiterhelfen könnte. Motanky sind auch auf dem Gebiet Tschechiens ein traditionelles Objekt des Volksglaubens, bestätigt mir Daniela Dufková, Inhaberin des ersten Hexenshops in Prag. Wir verwenden sie zum Schutz, sie können aber auch platziert werden, um jemanden auf etwas hinzuweisen oder einer Person etwas mitzuteilen. Bei uns in Tschechien haben sie jedoch keinen bestimmten Namen und sind auch nicht Teil einer konkreten Tradition. Entlang des Flusses in einer Schlucht in der Nähe einer kleinen Stadt an der Berounka kann man jedoch gelegentlich Motanky zusammen mit Altären und rituellen Bauten finden. Frau Dufková erklärt voller Überzeugung, dass verschiedene Traditionen der Volksmagie auch hier noch immer lebendig sind. Das gängige Verständnis der modernen tschechischen Kultur widerspricht dieser Behauptung.

Heilkräuterkundige Großmütterchen sind ein immer noch tradierter Archetyp, der allerdings eher die Bedeutung einer Märchenfigur als einer realen Frau angenommen hat. Wenn man jedoch auf den Marktplatz der kleinen Stadt Řevnice an der Berounka fährt und sich umhört, wird man feststellen, dass viele dort tatsächlich eine solche großmütterliche Heilerin kennen.

Dagmar Váňová arbeitet tagsüber als Apothekerin und sammelt in ihrer Freizeit im Wald Heilpflanzen, verarbeitet sie zu verschiedenen Tees, Salben und Tinkturen und organisiert Kräuterwanderungen. Viele Einheimische kommen mit ihren Beschwerden zu ihr und sie behandelt sie mit ihren Kräutern. Frau Váňová hat eine tiefe Verbindung zu den Weißen Karpaten, wo sie sich mit den heutigen Göttinnen von Žítková angefreundet hat. Ihr zufolge befassen sich die Nachfahrinnen dort noch immer mit der Zauberei. Sie ist stolze Besitzerin einer Tracht aus Žítková und gibt heute ihr Wissen über Heilkunde an ihre Enkelinnen weiter, um genau wie die Frauen aus Žítková jemanden zu haben, der die Tradition weiterführen kann.

Frau Váňová verehrt viele Göttinnen und Götter – das keltische und slawische Pantheon, die Heilige Dreifaltigkeit und Mutter Natur. Sie glaubt fest an den Wert der Demut und gibt sich ganz den übernatürlichen Kräften hin. Bei einem Spaziergang durch den Wald erzählt sie, wie die Pflanzen sie ansehen. „Was machst du da? Pflück mich! Schnell!“, imitiert sie mit der verspielten Stimme eines Waldgnoms die eindringlichen Rufe der Pflanzen. Frau Váňová berichtet mir auch, dass sie in letzter Zeit selbst von giftigen Pflanzen angesprochen wird. „Und jetzt habe ich Samen der Tollkirsche gesammelt und weiß nicht, was ich damit machen soll.“ Sie meint, es sei auch nicht wichtig, es zu verstehen, denn „das Geheimnisvolle ist Teil des Lebens.“

Ihrer Meinung nach ist die Volksheilkunde nie aus den tschechischen Dörfern verschwunden, sondern meide bewusst die Aufmerksamkeit. „Ich glaube, dass sie sich aus gutem Grund verstecken, weil sie es nicht gebrauchen können, sich den Angriffen der riesigen Pharmaindustrie auszusetzen. Denn dabei geht es um eine riesige Menge Geld.“ Die Volksheilkunde widerspreche dieser Logik. Sie leite den Menschen dazu an, das zu nutzen, was ihm die Natur kostenlos bietet. Trotz ihres Misstrauens gegenüber der Pharmaindustrie identifiziert sich Frau Váňová mit der akademischen Disziplin. Sie lehnt die Verbreitung von nicht wissenschaftlich fundierten Informationen über Heilpflanzen ab. Bei der Arbeit mit den Kräutern hört sie gerne auf ihre Intuition, die sie dann aber chemisch untermauert.
Dagmar Váňová, Heilpraktikerin aus Řevnice, in ihrer handgenähten Tracht aus Žítková.

Dagmar Váňová, Heilpraktikerin aus Řevnice, in ihrer handgenähten Tracht aus Žítková. | Foto: © privat


Dagmar Váňová betrachtet die Volksmedizin als Möglichkeit, sich mit dem natürlichen Rhythmus des Lebens zu verbinden, mit dem eigenen Körper, seiner Seele und der Natur. „Volksmedizin ist ein Sich-Bewusst-Werden und das Sich-Bewusst-Sein, was wiederum mit der Seele verknüpft ist. Wenn jemand sich bewusst ist, ist er auch mit seiner Seele verbunden. Das bedeutet, dass es der Seele gutgetan hat.“

Frau Váňová repräsentiert in vielerlei Hinsicht, wie schwierig es für die alten Heilerinnen ist, sich in die moderne Zeit einzufügen. Trotz aller Wahrhaftigkeit und Zeitlosigkeit ihrer Aussagen ist in ihrer Weltanschauung ein gewisser Reduktionismus erkennbar. So sieht sie beispielsweise den Ursprung der Klimakrise in der Unaufmerksamkeit des Menschen gegenüber der Natur. „Am dringendsten müssen jetzt die Seelen der Menschen geheilt werden, nicht die Natur. Die braucht überhaupt keine Heilung. Sie ist ein eigenständiger, aber sehr strafender Organismus“, warnt sie vor der Überheblichkeit der Annahme, die Natur würde uns brauchen. Hinter Frau Váňovás philosophischen Überlegungen zur Klimakrise verbirgt sich gleichzeitig die Überzeugung, dass die Menschen Mutter Natur eigentlich nicht schaden können. Sie ist überzeugt, dass wir heutzutage weniger Kohle verbrauchen und dies bedeute, dass die Dinge auf einem guten Weg seien. Daran lässt sich aber auch sehen, dass es manchmal eben doch nicht passt, althergebrachte traditionelle Volksweisheiten auf die sich rapide verändernde heutige Welt anzuwenden.

Die Weisheiten der alten Heilerinnen werden auch weiterhin wichtig sein, aber man muss ihnen in der heutigen Zeit mit der Fähigkeit zuhören, zu unterscheiden, was wirklich zeitlos ist und was der Vergangenheit angehört. „Die schönste Zeit des Jahres ist der der Frühling. Die Natur erlebt, dem Kreislauf des Jahres folgend, eine göttliche Hochzeit, in der alles blüht, jubelt, sich anbietet und bald Früchte tragen wird. Also geht aus der Stadt hinaus. Reißt euch von euren Geräten los, kommt aus den Häusern. Taucht in diese Schönheit ein. Lernt von der Natur, begebt euch in ihre Umarmung, es wird eurer Seele guttun.“ Frau Váňová betont, dass sich der Zauber der Natur nicht in irgendwelchen philosophischen Überlegungen versteckt. Erdung und tiefe Sinnhaftigkeit finden sich im praktischen Handeln. Sie rät, rechtzeitig Brennnesseln zu sammeln, Pesto aus Bärlauch zu machen, Löwenzahn für Honig zu pflücken und sich auf die Blüte der Linden vorzubereiten. „Die Linde ist unser Nationalbaum und hat eine unglaublich stärkende Wirkung.“

Der Teller

Am dritten Tag habe ich mir einen kleinen Teller und zwei Kerzen besorgt. In eine der Kerzen ritzte ich das Symbol für Mensch und Natur, in die andere das Symbol für Geiz und Herrschaft. Ich band die Kerzen zusammen, stellt sie auf den Unterteller und zündete sie an. Das Wachs tropfte, tropfte Tropfen für Tropfen und die Flammen tanzten sanft, bis das Band verbrannt war. Dann wickelte ich den Teller in ein Tuch und nahm ihn mit zum Marktplatz. Ich war dort mit Freund*innen verabredet, wir machten Musik an und hatten Kuchen und belegte Brote, Limonade, Bier und Wein mitgebracht. Wir tanzten, unterhielten uns, sangen und weinten. Wir schufen um uns herum eine Welt, wie wir sie uns wünschten: verspielt, liebevoll und magisch. Ich warf den Teller auf den Boden und er zerbrach auf den Pflastersteinen in zwei perfekte Hälften.

Ähnlich wie dieser Teller bricht auch der Aktivismus manchmal zwischen Realität und Fantasie. Und mit eben dieser Grenze experimentiert das Kollektiv Jezevky. Der Igel Lena, der Dachs Radovan und Brumm der Bär sind einige der Märchenfiguren, deren Geschichten das Aktivist*innenkollektiv erzählt. Die Tiere repräsentieren verschiedene von der Wohnungskrise betroffene Gruppen, trotz der Archetypisierung sind die Figuren jedoch nicht oberflächlich. Das Jezevky-Team schreibt die Geschichten sowohl mit Respekt vor der Realität, die in ihnen reflektiert wird, als auch vor der Welt der Imagination, die sie mitgestalten. Bei allen Projekten lässt sich das Kollektiv von Kreativität leiten – bei den Veranstaltungen treten auch Ritter, Drachen und Hexen auf, es gibt Kämpfe und Verwünschungen. Die mythischen Erzählungen helfen dem Kollektiv dabei, Probleme, gegen die sie demonstrieren, in größerem Zusammenhang darzustellen und dem Publikum zu vermitteln. Auf diese Weise bricht das Jezevky das gängige Verständnis von Aktivismus auf. Von Anfang an war es ihr Ziel, Aktivismus so zu gestalten, dass er Spaß macht und sowohl ihnen selbst als auch den Menschen, die zu den Veranstaltungen kommen, emotionale Unterstützung bietet.
Im April 2025 organisierte das Kollektiv Jezevka das Happening „Fuck AIRBNB, Fuck Capitalism“, begleitet von einem Blechbläserquartett, mit dem Ziel, auf die negativen Auswirkungen von Kurzzeitmieten in der Innenstadt und deren Zusammenhang mit der sich verschärfenden Wohnungskrise aufmerksam zu machen.

Im April 2025 organisierte das Kollektiv Jezevka das Happening „Fuck AIRBNB, Fuck Capitalism“, begleitet von einem Blechbläserquartett, mit dem Ziel, auf die negativen Auswirkungen von Kurzzeitmieten in der Innenstadt und deren Zusammenhang mit der sich verschärfenden Wohnungskrise aufmerksam zu machen. | Foto: © Petr Zewlakk Vrabec


Jezevky agieren auf zwei Ebenen: einerseits formulieren und schreiben sie sachliche Forderungen an die Abgeordneten im Parlament und andererseits sprechen sie durch transformative Rituale auch die sensiblere und intuitivere Ebene an. „Es geht darum, Lücken im System zu finden, in die wir als eine Art Gärtner Samen säen, die dann dort wachsen und sich ausbreiten, wo das System sie nicht haben will“, beschreibt Mitbegründerin Žofie Hobzíková den Prozess der Schaffung eines „lebensspendenden Raums“ inmitten der Unwirtlichkeit der Stadt. Die gemeinschaftlichen Rituale, die das Kollektiv Jezevky im öffentlichen Raum durchführt, betrachtet sie als Möglichkeit, Wut und Schmerz zu verarbeiten, sich mit der Gemeinschaft zu verbinden und achtsam miteinander zu sein. Bei diesen Veranstaltungen hat sie das Gefühl, „sich mit etwas Größerem zu verbinden“. Sie sieht die Demonstrationen deshalb als kollektive Gebete, die dem geteilten Schmerz Ausdruck verleihen.

Die Veranstaltungen von Jezevky stehen in einer Tradition mit spielerischen, neo-volkstümlichen Veranstaltungen wie dem Faschingsumzug von Roztoky oder dem Morana-Umzug auf der Prager Kleinseite. Das Kollektiv spricht globale Probleme auf eine geerdete Weise an, die die visuellen und narrativen Traditionen der sie umgebenden Gesellschaft widerspiegelt. Es ist ein bezauberndes Fest der Volkstradition mit politischer Bedeutung. Die Heldenfiguren des Festes basieren auf bekannten kulturellen Symbolen und die Stimme des Erzählers klingt immer noch so, wie auf den CDs oder Kassetten aus Kindertagen. Žofie Hobzíková erklärt jedoch, dass ihre Figuren sich nicht bewusst mit der Volkskultur identifizieren. „Das Thema ist für uns etwas problematisch. Es fällt uns schwer, eine Beziehung zur Volkskultur aufzubauen, weil sie oft von nationalistischen Strömungen vereinnahmt wird.“ Kann das Volkstümliche diese Konnotation loswerden oder wird es für progressive tschechische Aktivist*innen immer schwierig bleiben? Wird es ihnen in Zukunft möglich sein, diese Kultur als Teil ihrer Identität anzunehmen? Die Antwort liegt vielleicht darin, wie sich alte Narrative zu neuen Instrumenten des Widerstands umdeuten lassen – ähnlich wie es Jezevky tun.

Die Weisheit der Heilerin Dagmar Váňová, dass Volksmagie stark mit einer Bewusstwerdung verbunden ist, stößt auch bei Žofie Hobzíková auf Zustimmung. Sie selbst beobachtet, wie unachtsam wir geworden sind. Sie glaubt, dass Wahrnehmung gerade dann entsteht, wenn wir uns erlauben, auch die unangenehmen Emotionen zuzulassen, die mit der tieferen Einsicht in die Welt um uns herum einhergehen. „Es liegt viel Magie darin, sich auf ein Leben im Einklang mit dem Naturkreislauf einzulassen. Wie eine Schlange, die sich häutet, oder ein Phönix, der verbrennt, stirbt und aus seiner Asche wiedergeboren wird.“ Zyklizität oder „das Rad des Jahres“, wie Dagmar Váňová es nennt, Tag und Nacht, Sommer und Winter, ist für Žofie Hobzíková sehr wichtig, um in unserer hektischen Welt Ruhe und Introspektion zu finden. Dem Jahreskreis im Einklang mit der Natur zu folgen, wie es die Volksweisheiten nahelegen, ist eine enorme Kraftquelle im langen Kampf für das Klima, für Gleichberechtigung und ein würdiges Leben.

Die globale Klimakrise und die zunehmende Illiberalität schleichen sich still und leise in unseren Alltag ein. Wir werden in Tschechien nicht ständig durch Sirenen und Explosionen daran erinnert, aber dennoch bedrohen sie die Zukunft von allem, was uns umgibt. In der Ukraine haben sich viele Aktivist*innen an Kräfte gewandt, die ihre Wurzeln in der eigenen kulturellen Identität haben und weit über die tödliche Wolke des russischen Imperialismus hinausreichen. Die Volksmagie schenkt ihnen Verspieltheit, Poesie, Kreativität und Gemeinschaft, und das sind Waffen, über die ihre Feinde nie verfügen werden. Auch wir können uns dieser Waffen bedienen. Auch bei uns in Tschechien spielen sich geheimnisvolle Ereignisse ab, die unsere Kultur in das magischen Ökosystem der Natur um uns herum einweben. Motanky werden in den Wäldern versteckt und selbst in modernen Kleinstädten heilen kräuterkundige Großmütter still und unbemerkt mit ihren Naturarzneien.

Um herauszufinden, was wir von unseren Vorfahren übernehmen und was wir hinter uns lassen wollen, müssen wir uns selbst reflektieren und miteinander in Dialog treten. Sich zu erlauben, in einer poetischen und geheimnisvollen Welt zu leben, muss nicht bedeuten, sich Desinformationen hinzugeben oder den Sinn für die Realität zu verlieren. Magischer Volksglaube ist im Anthropozän ein bewusstes Verflechten von zeitlosen Weisheiten und aktuellen Lebensumständen zu einer kulturellen Identität, die den Bedrohungen unserer Zeit standhalten kann.

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