Das Feiern als Ritual, Rituale als Gedächtnisstütze. Für die Russin*innen, ein Volk mit eigener Sprache, aber ohne Staat, das historisch gesehen vielen Assimilationszwängen und den Folgen der wirtschaftlichen Emigration ausgesetzt war, stellen Rituale ein verbindendes Element dar, das zur kulturellen Kontinuität beiträgt. Joe Palaščák begab sich für JÁDU auf eine Reise zu Friedhöfen und Festen in russinischen Gemeinden im Osten der Slowakei.
„Bist du aus Ňagov? Weil, in Ňagov, sagen wir alle du.“„Nein, ich bin nicht von hier, aber meine Mama. Hanka. Und der, der dort trinkt, das ist mein Cousin.“
Sie schauen rüber. Schweigen. Wahrscheinlich habe ich nicht den Teil der Familie erwischt, auf den ich stolz sein kann.
„Und Gabika ist meine Cousine.“ Sie tauen auf. Das ist der beliebtere Teil der Familie.
„Ihr Vater Miško war ein super Typ.“ Also bin ich in die Gruppe aufgenommen.
„Trinkst du was mit?“
„Nein, ich muss noch fahren. Heute Abend geht’s nach Hause.“
Sie versuchen nicht, mich zum Trinken zu überreden. Wir unterhalten uns ungezwungen, lernen uns kennen. Ich bin mit allen per Du. Und ich fotografiere sie. Das ist wie in England mit dem Tee. Wirst du das erste Mal gefragt, lehnst du ab, beim zweiten Mal zögerst du, und bei der dritten Einladung, lässt du dich überreden und trinkst diesen verdammten Earl Grey. Rituale. Ungeschriebene Vereinbarungen darüber, wie es läuft. Das Ritual des Trinkens hat sich verändert. Vor zehn Jahren ließen mich meine russinischen Freunde erst in Ruhe, wenn ich mich gefügt hatte. Oder wir haben uns an den Abenden gestritten, wenn ich nichts trank. Aber warum schreibe ich hier über Alkohol? Soll das etwa eine Reportage über das Trinken werden? Nein. Darum geht es nicht. Es geht um dieses tänzerische Hin- und Her bei Konversationen und diese gesellschaftlichen Spielchen, bei denen sich zeigt, ob du weißt, worum es geht. Ob du die richtigen Redewendungen kennst. Ob du einer von ihnen bist. Das Sprichwort „Ein Russine hat nur vormittags Verstand“ bezieht sich auf die Neigung zum Alkohol, der schon am hellichten Tag den Verstand benebelt. Heute ist das aber nicht mehr zutreffend.
An diesem Abend wird in Ňagov, einem kleinen Dorf im Nordosten der Slowakei, in der Gegend, wo die Russin*innen leben, ein Film gezeigt. Am Anfang frage ich die Leute, ob ich sie fotografieren darf, aber dann, als sie mich akzeptieren und feststellen, dass ich einer von ihnen bin, bitten sie mich von sich aus, ob ich sie fotografieren könnte.
Ňagov. Sportplatz | Foto: © Joe Palaščák
Diaspora
Meine amerikanische Familie erinnert sich an die Rezepte, nach denen ihre Mütter gebacken und gekocht haben. Für Familienfeiern. Und daran, dass sie die russinische Sprache als Kinder wahrscheinlich verstanden und vermutlich auch gesprochen haben. Heute können sie nur noch die Begrüßungen und Glückwünsche. Und sie möchten gern „poppy seed roll“, einen Kuchen, den man in den USA nicht backen kann, weil Mohn ein Opiat ist. In der Slowakei servieren wir ihnen Mohnkuchen und sie sind begeistert. Genauso wie von Lokše [eine Art Kartoffelpfannkuchen, Anm. d. Red.]. Die Geschichte mit den Amerikanern begann vor 120 Jahren in einem Zweig der Familie. Die meisten Geschwister wanderten aus, zwei kehrten zurück, einer von ihnen gründete mit dem Geld aus den Minen eine Schmiede.Hundert Jahre später klopfte in Rozhanovce ein Nachbar an die Tür von Tante Melanka und erzählte ihr, dass Amerikaner von Haus zu Haus gingen und nach der Palaschak-Family suchten. Sie hatten herausgefunden, dass sie slowakische Wurzeln haben. In Amerika besuchen sie Folklorefestivals, Richard hat eine ganze Bibliothek voller Bücher über die Slowakei. Seine Frau Joyce soll ukrainischer Herkunft sein. Ihre Vorfahren stammen aus der Karpatenregion. Letztes Jahr habe ich sie besucht. Ich erzähle, dass die Russinen den Karpatenbogen bewohnten, wie unsere Familie überwiegend griechisch-katholisch waren und kein Slowakisch sprachen... Joseph fragt mich besorgt und eindringlich:
„So who are we?“
Vor zehn Jahren fand er seine Verwandten in der Slowakei. Er und seine Schwester wussten, dass ihre Mutter immer Pakete mit Kinderkleidung irgendwohin geschickt hatte. Ich zeige ihnen eine Jacke, die hier bereits die dritte Generation von Kindern trägt. Sie kennen sie. Es war ihre. Sie haben Menschen getroffen, mit denen ihre Mutter in Kontakt stand. Sind sie also Slowaken?
„I think we are Ruthenians.“
Mir ist aufgefallen, dass das Essen am Weihnachtsabend in unserer Familie anders war, als bei anderen Kindern. Eher einfach als üppig. Mir ist aufgefallen, dass in einer Stadt mit einer Bevölkerung von einer Viertelmillion nur wenige hundert Menschen um fünf Uhr morgens zum wichtigsten Feiertag in die griechisch-katholische Kirche gingen. Als Vorschulkind wankte ich zur Straßenbahn. Ich bin kaum aus dem Bett gekommen. Die morgendliche Kälte machte mich wach. Vierzig Tage habe ich gefastet. Damals habe ich mir geschworen, wenn ich groß bin, werde ich mir das nicht mehr antun. Und heute schleppe ich meine Kinder hierher. Jedes Jahr. Immer wieder.
Ein Ritual ist eine Gedächtnisstütze. Es wiederholt sich jedes Jahr. Es bestimmt, wer du bist. Du kannst dir etwas einprägen, Zahlen und Daten auswendig lernen wie Unterrichtsstoff, wo sind strategische Unternehmen und welche Rohstoffe exportieren wir? Oder du kannst etwas miterleben. Das Singen derselben Lieder. Für jeden Teil des Jahres gibt es andere. Unsere Feiertage im Jahreslauf und ihre prähistorischen Wurzeln, die mit Vollmond und Neumond zusammenhängen. So kommt es, dass derselbe Feiertag jedes Jahr auf ein anderes Datum fällt. Ostersonntag fällt auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche. Oder so ähnlich. Das ist die mentale Ebene der Jäger und Sammler. Dann kamen die Hirten. In den Bergen ist Landwirtschaft schwierig. Die Viehzucht ist sicherer. In diesen Zyklus haben sich jüdische und christliche Einflüsse geschlichen. Am Palmsonntag tragen wir Zweige in die Kirchen. Das kann man biblisch interpretieren (Jesus wurde mit Zweigen begrüßt), aber auch als historisches heidnisches Ritual: ein Fest des Übergangs vom Winter zum Frühling. In unseren Holzkirchen opfern wir verschiedene Speisen: Schinken, Eier, Gebäck, Salz, Gemüsesoßen, scharfe Salate. Das sind Variationen dessen, was zum jüdischen Sederabend gegessen wird. Die Russin*innen haben ihre Speisen an das angepasst, was in ihrer Heimat wächst und gezüchtet wird, nicht im Nahen Osten. Aber ansonsten ist sich das alles ziemlich ähnlich. Das Ritual ist präzise.
Mir ist aufgefallen, dass mich eher das prägt, was mich etwas gekostet hat, als das, was ich einfach so bekommen habe. Es kostet Selbstüberwindung, wenn ich einen gelernten Wunsch auch meiner Tante sagen muss, deren Mann kürzlich verstorben ist und die bei den Liedern am Festtag in Tränen ausbricht. Er hat gern und viel gesungen. Ich will dort nicht sein, ich bin ein Kind, aber ich weiß, warum es ein schwerer Moment ist. Und ich muss ihn aushalten. Ich bin der Nächste, der das Ritual wiederholt. Warum machen das nicht die Erwachsenen? Warum muss das ein Kind machen?
Ich bin erwachsen. Ich habe Feiertage auch schon ohne russinische Bräuche begangen, festlich, mit gekauftem Essen, ohne frühes Aufstehen und gemeinsame Gottesdienste in der Kirche. Ich hatte das Gefühl, den Feiertag geistlich verschlafen zu haben. Es war zu einfach. Es hat mir nichts abverlangt. Als ob in mir ein Rufen, ein Hunger wäre. „Das bin ich nicht. Das Wunder ist nicht geschehen.“ Früher hatte ich Ansprüche an den Prediger und wollte, dass er charismatisch ist. Ich wollte tiefe Theologie. Heute bin ich einfach mitten unter den Leuten, wir singen wieder und wieder die alten Melodien. Dreimal, sechsmal, neunmal. Ich spüre Frieden. Die Gemälde sind einfach, wir sind hier nicht in der sixtinischen Kapelle, die Luft ist stickig und der Weihrauch macht es nicht besser. Ich bin Teil eines Gruppenrituals zur Bestätigung unserer Identität. Ich wundere mich über Gott, dass er sich dazu bekennt. Dass er hierherkommt und sich daran erfreut. Auch er war arm und lebte in einem Stall. Er machte Karriere an der Peripherie, im besetzten Gebiet einer unwichtigen römischen Provinz. Mit den Russin*innen, der Peripherie und dem Leben als Minderheit ist es ähnlich.
Die historischen Erfahrungen der Russin*innen
Was ist das für eine Nation? Zu den Merkmalen einer Nation gehört eine gemeinsame Sprache. Das Russinische gibt es offiziell seit 1995, als die Sprache in der Slowakei kodifiziert wurde. Aber das russinische Siedlungsgebiet erstreckt sich auch nach Polen, Ungarn, in die Ukraine, Rumänien und Serbien. Die Emigration in die USA lassen wir hier einmal außen vor.ie Russin*innen bewohnen zwar seit mehreren Jahrhunderten ein Gebiet, aber dieses Gebiet hatte nur genau einen Tag lang zwischen den beiden Weltkriegen den Status einer russinischen Autonomie innerhalb der Tschechoslowakischen Republik.
Nationen haben gemeinsame historische Erfahrungen. In den Jahren 1914 – 1917 wurden zahlreiche Russin*innen und Vertreter der russinischen Intelligenz in das österreichisch-ungarische Internierungslager in Talerhof verschleppt, dort inhaftiert und ermordet. Das war die letzte gemeinsame historische Erfahrung der russinischen Bevölkerungsgruppe.
Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs lebte sie nie wieder in einem gemeinsamen Staatsgebilde. Während also die polnischen und ukrainischen Russin*innen 1947 im Rahmen der Aktion Weichsel Massenumsiedlungen erlebten, teilen die in anderen Staaten lebenden Russin*innen diese Erfahrung nicht. Im Rahmen dieser Aktion wurden 140.000 Menschen umgesiedelt.
Nationen haben Hymnen, Flaggen, gemeinsame wirtschaftliche Beziehungen... Welche Perspektiven hat eine Nation, der dies fehlt? Wie widersteht sie der Assimilation? Wodurch bleibt sie bestehen?
Die Antwort lautet: Rituale.
Roadtrip, Friedhof
Im Sommer 2025 mache ich mich auf zu einem Roadtrip in das russinische Dorf Ňagov, dem Geburtsort meiner Mutter. Der Anlass ist eine Filmvorführung auf dem örtlichen Fußballplatz. Aber auch die Möglichkeit, meine Familie zu treffen und unterwegs noch an einigen anderen Orten Halt zu machen.Bis jetzt war ich noch nie in der Kirche des überfluteten Dorfes, in dem mein Großvater väterlicherseits Pfarrer war. Das Dorf versank, als der Domaša-Stausee angelegt wurde. Er sollte als Trinkwasserquelle dienen und die wiederkehrenden Frühjahrshochwasser des Flusses Ondava regulieren. Erwähnt man in dem Zusammenhang aber die industrielle Landwirtschaft, die globale Erwärmung und die versiegenden Quellen, sieht das Projekt heute wie eine ökologische Katastrophe aus.
Meine Onkel erzählten mir mystische Geschichten über Wasserstrudel, die mich in die Tiefe ziehen würden. Sie entstehen angeblich über den Brunnen des ursprünglichen Dorfes. Das kalte Wasser aus dem Brunnen verursacht im warmen Wasser an der Oberfläche diese Strömungen. Es sind aber gar keine Brunnen übriggeblieben. Alles wurde von Bulldozern gründlich eingeebnet.
Ich sehe jedoch eine Analogie zwischen der sozialistischen Wasserwirtschaft, dessen Folgen heute wie eine ökologische Katastrophe aussehen, und dem sozialistischen Sozialwesen, das 40 Jahre lang entschied, dass die Russin*innen als Nation nicht existieren, sondern nur Ukrainer*innen sind, die in Nachbarstaaten leben.
Meine Reisereportage bewegt sich auf einer Skala, an deren dunkelstem Ende Friedhöfe sind, Orte ohne Hoffnung. An ihrem helleren Ende sind laufende Rekonstruktion eines Museums von weltweiter Bedeutung und Menschen, die in verlassene Dörfer zurückkehren – die Aussichten sind hier besser. Ich beginne auf Friedhöfen. Es sind Orte ohne sichtbare Perspektiven. Die schöne Aussicht auf den Domaša-Stausee verdanken sie der Tatsache, dass sie auf einem Hügel über der Kirche liegen. Selbst wenn das Dorf im Tal geflutet und die Kirche abgerissen wird, bleibt der Friedhof oben am Waldrand bestehen.
Der erste Friedhof, den ich besuche, ist kein russinischer. Im Gemeindegebiet von Domaša-Dobrá befindet sich ein verlassener jüdischer Friedhof. Er liegt hoch oben im Wald über dem Stausee und somit weit entfernt vom überfluteten Dorf. Die Einwohner von Dobrá beobachteten in den vierziger Jahren die Umsiedlung ihrer Nachbar*innen und zwanzig Jahre später mussten sie selbst ihre Häuser verlassen und deren Abriss mitansehen. Der Friedhof ist von einem hohen Zaun umgeben.
Als ich am Stausee entlanggehe, sehe ich, dass der Wasserstand aufgrund der anhaltenden Trockenheit so niedrig ist, dass ein großes Ausflugsschiff weit entfernt vom Wasser am steilen Ufer vor Anker liegt – an einer Stelle, an der eigentlich Wasser sein sollte. In der Nähe befindet sich ein luxuriöses Yachtresort. Es ist wirklich wunderschön. Gruppen von Menschen kommen hierher, um zu heiraten. Es ist ein schwüler Tag, das Wasser und die Boote im Tal sind jetzt weit entfernt. Aber die Feier wird ausgelassen sein.
Ich fahre nach Petejovce. Der Friedhof ist alles, was von dem Dorf übriggeblieben ist. Die Gräber werden noch gepflegt, weil die Nachkommen der hier Begrabenen noch leben, im Gegensatz zu dem jüdischen Friedhof. Wir befinden uns jedoch immer noch auf der dunklen Seite der Perspektiven unseres Volkes. Die einzelnen Gräber werden gepflegt, weil die Verantwortung dafür auf den Schultern einzelner Personen lastet. Die Trauerhalle ist jedoch in einem desolaten Zustand – individuelle Initiative reicht nicht aus, um ein solches Gebäude zu erhalten, es bedarf der Kraft der Gemeinschaft oder institutioneller Unterstützung, die jedoch fehlt.
Wir befinden uns am oberen Ende des Stausees, aber um zum Wasser zu gelangen, muss man Hunderte von Metern durch dichtes Gestrüpp laufen. Ich gehe durch das Gebüsch und unter meinen Füßen knirschen die Kalkschalen von Wassertieren, Muscheln. Aus ihren nährstoffreichen Körpern wächst dichtes Gras.
Premiéra filmu
In der Nachbargemeinde Ňagov, aus der meine Mutter stammt, wird heute der Film Na prahu domoviny (An der Schwelle der Heimat) gezeigt. Er wurde von der russinischen Bürgerinitiative Zrkadlo regiónu (Spiegel der Region) gedreht. Der Dokumentarfilm thematisiert Möglichkeiten, wie man die eigene Identität bewahren kann. Durch Folklore, die Renovierung alter traditioneller Häuser, Zusammenkünfte, Schreiben, Singen... Wir betreten das Gelände des Fußballplatzes. Unter einem Pavillon sitzen Dutzende von Menschen, essen Gulasch und trinken Limonade auf Kosten der Gemeinde.Ich spreche mit dem örtlichen Bürgermeister Vlado Roháč und frage ihn nach der Demografie. Vor fünfzehn Jahren spazierte ich im Novemberregen zu Allerseelen durch das Dorf, und da war nichts als „Ruin Porn“ zu sehen. Heute sind die meisten Häuser renoviert, die Gemeinde baut eine neues Freizeitareal.
Ich kenne die Studien, die prognostizieren, dass Siedlungen, die mehr als vierzig Autominuten von einer Stadt mit fünfzigtausend Einwohnern entfernt liegen, bis 2050 wahrscheinlich entvölkert sein werden. Aber in Ňagov sind junge Familien zugezogen. Der Grund dafür sind die niedrigeren Immobilienpreise (hier bekommt man ein Haus für den Preis einer Wohnung in Prešov) und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. Menschen kommen aus dem Ausland zurück. Nach Jahren in Italien ist auch meine Cousine Gabika Košická hierher zurückgezogen. Warum?
„Weil in Bratislava schon alle sind.“ Wir lachen, sie fährt fort: „Im Ausland bist und bleibst du ein Fremder. Du gehörst nirgendwo hin. Hier ist mein Herz.“ Tante Maňa grüßt mich. Angeblich sehe ich gut aus. „Ich doch nicht, aber wie hübsch ihr beide seid. Sogar mit rosa Haaren.“ Und ich mache ein Foto auf dem Gabika und Maňa gemeinsam lachen.
Dies ist der hellste und fröhlichste Teil meines Roadtrips. Mütter mit Kinderwagen, viele Menschen, leichte Unterhaltung, Fußballtennis auf dem Sportplatz, Hüpfburgen, eine mobile Leinwand, ein Film über Bräuche, die Vergangenheit und Gegenwart des Lebens in dieser Region. Und viele bekannte Gesichter. Auch das Anschauen eines Films ist eine Art Ritual.
Die dramatische Kunst in ihrer europäischen Form entstand im antiken Griechenland während der Dionysien, den Festspielen zu Ehren des Gottes Dionysos, die an den Jahreszyklus gebunden waren. Entsprechend dem Aufbau dieser Dramen, die Aristoteles beschrieb, werden auch heute noch Filme gedreht. Der Film hat sich von den Frühlingsfesten abgekoppelt, man kann überall und jederzeit die rituelle Harmonie zwischen den Zuschauern erleben – gemeinsam, gleichzeitig und an einem Ort.
Ich setze mein Gespräch mit dem Bürgermeister fort. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten als Onkel Vlado, aber erst heute erfahre ich, dass er Mitbegründer der Rusínska obroda (Russinische Wiedergeburt) war, der nationalen Kulturorganisation der Russin*innen in der Slowakei. 1989 fiel die Diktatur, 1990 trafen sich mehrere Leute, darunter auch er, mit Vertretern der Kulturna spilka ukrajinskich truďaščich, der Kulturvereinigung ukrainischer Arbeitender. Das war eine Organisation unter der direkten Aufsicht der Kommunistischen Partei, die die Ukrainisierung der Russin*innen zum Ziel hatte.
Die sagten jedoch, sie wollten die Russinische Wiedergeburt gründen. Man versuchte, sie davon abzubringen, sagte ihnen, sie seien „Generäle, die sich eine Armee suchen“. Doch sie ließen sich nicht beirren und gründeten eine neue Organisation, später dann den Rat der russinischen Regionen der Slowakei. Aber warum eine Organisation gründen, warum nicht einfach im Privaten seine Identität leben? „Bloß Geld teilt man am besten nur mit sich selbst“, antwortet Vlado Roháč.
Ich muss wieder an Petejovce denken. Einzelne können ihren eigenen Raum pflegen, das Grab ihrer Vorfahren, das Gras drum herum. Um eine Kirche zu reparieren oder zu bauen, braucht man eine gemeinschaftliche Dachorganisation. Ohne die Synergie zwischen Privatem und Öffentlichem funktioniert das nicht. Der Rat der russinischen Regionen der Slowakei ist heute in 52 Städten und Gemeinden tätig und vertritt die realen Bedürfnisse realer Menschen. Zur institutionellen Unterstützung für die Erhaltung ihrer Identität.
Ich frage, was Onkel Vlado im Rahmen der Identitätsbildung unternehmen möchte.
„Das Liedersingen vor Weihnachten wiederbeleben. Jedes Jahr sind wir singend durch das Dorf gezogen. Corona hat das zunichte gemacht. Und jetzt fangen wir wieder damit an.“ Also wieder Rituale. Gemeinsame Treffen. Jahreszeitenlieder in der russinischen Sprache. Das Gemeinschaftsgefühl der Dorfbewohner*innen stärken und spürbar machen, dass sie auch die dunkle Jahreszeit dank der Kraft der Gemeinschaft und des Wunders, das gerade geschieht, überwinden können.
Der Sohn des Bürgermeisters, Vlado Roháč junior, ist Schauspieler am Alexander-Duchnovič-Theater in Prešov – einem russinischen Theater. Es gibt also Perspektiven.
Nach dem Ende der Filmvorführen sagt meine Tochter Deborka zu mir: „Papa, ich möchte Russinisch lernen.“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
September 2025